Anna Veronika Wendland
Anna Veronika Wendland (* 6. Juni 1966 in Remscheid) ist eine deutsche Technik- und Osteuropahistorikerin. Sie tritt für die weitere, friedliche Nutzung von Kernenergie ein.
Leben
Nach dem Abitur studierte Wendland in Köln und Kiew osteuropäische Geschichte, Politikwissenschaft sowie Slavistik und promovierte 1998 in Köln mit dem Thema Die Russophilen in Galizien. Ukrainische Konservative zwischen Österreich und Russland 1848–1915.[1] Die Dissertation wurde mit dem Fritz-Theodor-Epstein-Preis des Verbands der Osteuropahistoriker ausgezeichnet.[2] Nach Zwischenstationen in Leipzig und München arbeitet sie seit 2009 im Herderinstitut für historische Ostmitteleuropaforschung in Marburg, betraut unter anderem mit dem Direktionsbereich Forschungskoordination. 2021 legte Wendland ihre Habilitationsschrift über die Kerntechnische Moderne im östlichen Europa vor und wurde am 15. Dezember 2021 habilitiert.[3]
Wendland ist verheiratet und hat drei Söhne.
Forschung
Ihre Forschungsinteressen betreffen:
- Umwelt- und Technikgeschichte Ost- und Ostmitteleuropas, insbesondere „Atomstädte“, Kernenergie und städtische Lebenswelten in Russland, der Ukraine und Litauen 1965 bis 2011[4]
- Nationsbildungsprozesse, Nationalismus, soziale Identitäten in Ostmittel- und Osteuropa vom 18. bis ins 21. Jahrhundert[5]
- Erinnerungskulturen, Erinnerungsorte, historische Selbstzeugnisse.[6]
Hinzu kommt ihre technikhistorische Forschung zur vergleichenden Geschichte und Gegenwart der Reaktorsicherheit. Dazu arbeitet Wendland seit 2013 mit der Methodik der „Industrial Anthropology“ als Teilnehmende Beobachterin von Mensch-Maschine-Beziehungen in Kernkraftwerken in Osteuropa und Deutschland.[7][8][9] Ihr besonderes Augenmerk gilt überdies der Kerntechnik als Moderne-Erfahrung und als „imperiale“ Integrationstechnologie im östlichen Europa,[7][10] außerdem der visuellen Geschichte der Kernenergie.[11][12]
Zusammen mit dem Historiker Eckart Conze leitet Wendland ein Projekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft zum Thema „Erweiterte Sicherheit“.[13]
Tätigkeiten
Wendland forscht an der Justus-Liebig-Universität Gießen und ist dort (Stand 2020) eine Teilprojektleiterin des LOEWE-Schwerpunkts „Konfliktregionen im östlichen Europa“.[14] Zudem ist sie Osteuropa- und Technikhistorikerin am Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung in Marburg und leitet dort die Forschungen zum Thema „Polesien als Interventionslandschaft“.[15]
Sie ist zudem Mitglied des Petersburger Dialogs,[16] Mitherausgeberin der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung, Mitglied des Fachbeirats Europa/Transatlantik der Heinrich-Böll-Stiftung,[17] und gehört der Deutsch-Ukrainischen Historikerkommission (DUHK) an.[18] Sie betätigt sich als Bloggerin zu Osteuropa- und Energiethemen.
Nach einer kurzen Publikationsphase als Gastautorin bei Achse des Guten[19] wechselte sie als Publizistin im Herbst 2018 zu den Salonkolumnisten.
Engagement für die Nutzung von Kernkraft zur Stromerzeugung
Nach anfänglicher Beteiligung an der Anti-Atomkraft-Bewegung in Deutschland wandelte sie sich zur Kernkraftbefürworterin.[20] Wendland engagiert sich entsprechend in den Vereinen Nuklearia und Ökomoderne. Sie tritt, laut eigener Aussagen, aus linker Perspektive für Kernkraft ein.[21][22] Wendland warb sowohl in der taz, im Blog Salonkolumnisten[23], als auch in Medien des rechtskonservativen Spektrums Jungen Freiheit und Die Achse des Guten für KKWs, teils als Instrument des Klimaschutzes.[24][19][25] Es gibt Nachdrucke auf der Webseite EIKE, einem Verein, der den menschengemachten Klimawandel bestreitet.
Sie hält die laufende deutsche Energiewende ohne Kernkraft für kaum umsetzbar und setzt sich daher für den Weiterbetrieb und Neubau von Kernkraftwerken ein. Letzteres durch Bau von Anlagen des Typs Generation 3+.[26] Da ein Weiterbetrieb der bestehenden Kernkraftwerke in Deutschland durch die derzeitigen Betreiber abgelehnt wird, spricht sich Wendland für einen übergangsweisen Betrieb in staatlicher Regie aus, um die CO2-Einsparungen durch die Kernkraftwerke bis zur Verfügbarkeit ausreichender Wind- und Solarkraftwerke samt den notwendigen Stromspeichern zu erhalten.
Im Juli 2020 veröffentlichte Wendland gemeinsam mit Rainer Moormann ein Memorandum mit energiepolitischen Forderungen zur Rolle der Kerntechnik in der Energiewende.[27][28] Die Autoren argumentieren, dass im Sinne des Klimaschutzes und der Versorgungssicherheit ein befristeter möglichst staatlicher Weiterbetrieb der noch laufenden sechs deutschen Kernkraftwerke notwendig sei, und empfehlen, die gesetzlichen Rahmenbedingungen dafür sofort zu schaffen. Das würde es bilanziell gestatten, etwa 60 % der deutschen Braunkohleverstromung schnell zu beenden, was einer CO2-Emissionsreduktion um 10 % entsprechen würde. Weiterhin empfehlen die Autoren, im Jahr 2030 die Frage des Neubaus von Kernkraftwerken auf Basis von Leichtwasserreaktoren dann zu erörtern, wenn bis dahin die technischen Voraussetzungen für eine weitgehend auf erneuerbaren Energien basierende Energiewende nicht geschaffen worden sein sollten und so eine zu intensive Fossilnutzung über 2050 hinaus drohen würde. Das Memorandum wurde von deutschen, französischen, Schweizer und US-amerikanischen Zeitungen wie Forbes aufgegriffen.[29][30][31][32][33][34][35]
Das Memorandum wurde teils heftig kritisiert. So wird laut dem Grünen-Politiker Hans-Josef Fell das CO2-Einsparpotential massiv überschätzt,[36] er gibt, wie auch Wolfgang Pomrehn bei heise online[37] vorrechnet, nur ein maximales anfängliches Einsparpotential von 4 % der jährlichen Emissionen an. Ein Blogbeitrag des IPPNW wirft Moormann/Wendland vor, die aktuelle Studienlage zu den Möglichkeiten einer KKW-freien Energiewende zu ignorieren.[38] Moormann und Wendland haben zur geäußerten Kritik Stellung bezogen und weisen die technisch motivierten Kritikpunkte zurück.[39]
Das Handelsblatt schreibt zu den von Wendland mitorganisierten Demonstrationen, dass "die Energiekonzerne mittlerweile von den Pro-AKW-Demos genervt sind".[40]
Die deutschen KKW-Betreiber äußern sich zu den Inhalten des Memorandums nicht, lehnen aber eine erneute Diskussion über Laufzeitverlängerungen ab.[32]
Auszeichnungen
Veröffentlichungen
- Die Russophilen in Galizien. Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 2001, ISBN 3-7001-2938-6.
- mit Andreas R. Hofmann: Stadt und Öffentlichkeit in Ostmitteleuropa 1900–1939. Steiner, Stuttgart 2002, ISBN 3-515-07937-8.
- Wie wir die Karten lesen. Forost-Arbeitspapier. Forost, München 2007.
Herausgeberschaft
Weblinks
- Literatur von und über Anna Veronika Wendland in der bibliografischen Datenbank WorldCat
- Einträge für Anna Veronika Wendland im Google Scholar
- Einträge für Anna Veronika Wendland bei Researchgate
- Publikationsliste
Einzelnachweise
- Yaroslav Hrytsak: Die Russophilen in Galizien: Ukrainische Konservative zwischen Österreich und Rußland, 1848–1915. By Anna Veronika Wendland. Vienna: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 2001. 644 pp. In: Slavic Review. Band 62, Nr. 4, 2003, ISSN 0037-6779, S. 845–846, doi:10.2307/3185684 (cambridge.org [abgerufen am 14. Oktober 2020]).
- Verband der OsteuropahistorikerInnen e.V.: Preisträger des Epstein-Preises (1986–2012). (PDF) Abgerufen am 13. Oktober 2020.
- Dr. Anna Veronika Wendland Werdegang. In: Sonderforschungsbereich 138. Philipps-Universität Marburg, abgerufen am 16. Dezember 2021.
- A. V. Wendland: Inventing the atomograd. Nuclear urbanism as a way of life in Eastern Europe, 1970–2011. Fachtagung: The impact of disaster: Social and cultural approaches to Fukushima and Chernobyl, 2015 - EB Publishers Berlin, S. 261–287.
- A. V. Wendland: Region ohne Nationalität, Kapitale ohne Volk: Das Wilna Gebiet. (comparativ.net)
- A. V. Wendland: Post-Austrian Lemberg: War Commemoration, Interethnic Relations, and ban Identity in Lľviv, 1918–1939. Cambridge 2003. (chtyvo.org.ua)
- A. V. Wendland: Reaktorsicherheit als Zukunftskommunikation: Nuklearpolitik, Atomdebatten und kerntechnische Entwicklungen in Westdeutschland und Osteuropa 1970–2015: Zum Verhältnis von Sicherheit und Zukunft in der Geschichte. 2017. doi:10.5771/9783845286730-305
- Lukas Wieselberg: Schöner Leben in Atomograd. In: science.ORF.at. Österreichischer Rundfunk, 22. April 2016, abgerufen am 17. Oktober 2020.
- A. V. Wendland: Wissensformen der Kerntechnik im transnationalen Vergleich. 2014 doi:10.5169/seals-391851
- A. V. Wendland: Nuclearizing Ukraine – Ukrainizing the Atom. Soviet nuclear technopolitics, crisis, and resilience on the imperial periphery. In: Cahiers du monde russe. vol. 60, no. 2, 2019, S. 335–368.
- A. V. Wendland: Tschernobyl: (K)eine Visuelle Geschichte. In: M. Arndt (Hrsg.): Politik und Gesellschaft nach Tschernobyl,(Ost-)Europäische Perspektiven. 2016, ISBN 978-3-86153-890-5, S. 182ff.
- Anne Volkmar: Touring the Chernobyl Exclusion Zone. A Comment on the Politics of Post-Nuclear Nature in Three Parts. 2016. (leidenartsinsocietyblog.nl)
- DFG - GEPRIS - „Erweiterte Sicherheit“. Die Veränderung von Staatlichkeit nach dem Ende des Booms. Abgerufen am 20. Oktober 2020.
- LOEWE-Schwerpunkt „Konfliktregionen im östlichen Europa“ uni-giessen.de
- Polesien als Interventionslandschaft. Raum, Herrschaft, Technologie und Ökologie an der europäischen Peripherie 1915–2015 herder-institut.de
- Mitglieder von deutscher Seite petersburger-dialog.de
- Weitere Gremien der Heinrich-Böll-Stiftung. Abgerufen am 13. Oktober 2020.
- Deutsche Kommissionsmitglieder - Deutsch Ukrainische Historikerkommission (DUHK). Abgerufen am 13. Oktober 2020.
- Anna Veronika Wendland – DIE ACHSE DES GUTEN. ACHGUT.COM. Abgerufen am 12. Oktober 2020.
- Gideon Böss: Kernenergie war mal ein linkes Fortschrittsprojekt. In: Der Spiegel. 28. März 2020, abgerufen am 13. Oktober 2020.
- A.V. Wendland: Kernkraftwerke instandbesetzen. Oktober 2018. https://www.salonkolumnisten.com/kernkraftwerke-instandbesetzen/
- Christian Kirstges: Botschaft bei Demo am AKW Gundremmingen: „Kernkraft ist zurück“. In: Augsburger Allgemeine. 20. September 2020, abgerufen am 8. Oktober 2020.
- Anna Veronika Wendl: Warum wir sie nicht retten konnten. Abgerufen am 30. Januar 2022 (deutsch).
- Veronika Wendland: Debatte über die Energiepolitik: Mut zum Befreiungsschlag. In: Die Tageszeitung: taz. 25. Januar 2022, ISSN 0931-9085 (taz.de [abgerufen am 29. Januar 2022]).
- A. V. Wendland: Technik ist immer politisch. Juli 2019 jungefreiheit.de
- A. V. Wendland: Nicht ohne mein Kernkraftwerk. Juli 2016, faz.net
- R. Moormann, A. V. Wendland: Warum wir die deutschen Kernkraftwerke jetzt noch brauchen. Memorandum vom 16. Juli 2020. Zusammen mit begleitenden Dokumenten auf https://saveger6.de/
- R. Moormann, A. V. Wendland: Deutsche Klimastrategie: Stoppt den Atomausstieg! In: Die Zeit. 30 (2020) zeit.de
- Konrad Schuller: Umgang mit dem Klimawandel. Letzte Hoffnung Atomkraft. Warum zwei Ökoaktivisten den Atomausstieg verschieben wollen. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. 6. September 2020 faz.net
- Hessischer Rundfunk, Alles Wissen, Atomkraft für die Energiewende. 29.10.2020 ardmediathek.de, abrufbar bis Oktober 2021.
- Allemagne: le volte-face des ecologistes antinucleaires. 25. September 2020. economiematin.fr und Kommentar dazu breizh-info.com
- Atomkraft: Experten drängen auf den Ausstieg aus dem Ausstieg. In: Augsburger Allgemeine. 10. September 2020. (augsburger-allgemeine.de)
- WDR Tagesgespräch 28.09.2020: Klimawandel – die Stunde der AKW? wdr.de
- Michael Shellenberger: As Renewables Falter, Environmentalists Stand Up For Nuclear. In: Forbes Magazine. 9. September 2020, abgerufen am 13. Oktober 2020 (englisch).
- Die Schweiz wird ihre Kernkraftwerke noch brauchen. Interview mit A. V. Wendland zum energiepolitischen Memorandum. In: Bulletin des Schweizer Nuklearforums. 3/2020. (nuklearforum.ch)
- Hans-Josef Fell: Die nukleare Täuschung: Atomenergie ist kein Heilsbringer für den Klimaschutz. 17. August 2020, abgerufen am 20. Oktober 2020 (deutsch).
- Wolfgang Pomrehn: Atomkraft: Das letzte Gefecht? Abgerufen am 20. Oktober 2020.
- www.ippnw.de: Gesundheit. Abgerufen am 20. Oktober 2020.
- saveger6.de
- Energiewirtschaft: Atomkraft für Klimaschutz? Energiekonzerne sind von neuen Pro-AKW-Demos genervt. Abgerufen am 20. Oktober 2020.
- herder-institut.de