Amulett
Ein Amulett ist ein tragbarer Gegenstand, dem magische Kräfte zugeschrieben werden, mit denen er Glück bringen (energetische, sakramentale Wirkung) und vor Schaden schützen (apotropäische Wirkung) soll. In seiner glückbringenden Eigenschaft und meist größerer Ausführung wird es auch als Talisman bezeichnet. Das Amulett hat mit seiner magischen Wirkung Parallelen zur Votivgabe. Während die Votivgabe typischerweise an einem geeignet erscheinenden Ort hinterlegt wird, dient das Amulett dazu, am Körper oder in einer Tasche mitgeführt zu werden. Abgesehen von seinem zugedachten magischen Aspekt kann das Amulett auch sichtbar als Schmuckstück oder als Zeichen der Zugehörigkeit zu einer meist religiösen Gemeinschaft getragen werden.
Etymologie
Die genaue Etymologie des Wortes ist ungeklärt. Der lateinische Begriff amuletum, von dem das deutsche Wort ab Anfang des 18. Jahrhunderts entlehnt ist, findet sich mehrfach in der Naturalis historia Plinius’ des Älteren (1. Jahrhundert n. Chr.)[1] und wird von verschiedenen Autoren[2] auf amoliri ‚abwenden, entfernen‘ zurückgeführt. Von anderen Wissenschaftlern[3] wurde eine Herkunft aus der arabischen Wurzel ḥ-m-l (حمل ḥamala ‚tragen‘) vermutet, gegen die Johann Gildemeister in der Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft argumentierte.[4] Möglicherweise besteht als (gesundheitsfördernde bzw. schadenabwendende) ‚Speise aus Stärkemehl‘ eine Verwandtschaft mit griechisch-lateinisch amylum bzw. amulum (Stärkemehl).[5]
Verwendung
Amulette werden am Körper (oft auch als Schmuck) oder in der Kleidung getragen, in Fahrzeugen oder der Behausung aufbewahrt oder dem Vieh umgehängt. Sie können aus einer Vielzahl von Materialien bestehen und durch sie soll der Träger passiv geschützt werden.
Schon in der Vorgeschichte hängten sich Menschen Überreste (Zähne und Krallen) ihrer erlegten Beute um. Sie sollten dem Träger die Kraft des Tieres geben.
Amulette fanden Anwendung in der Heilkunde,[6] als Schutz von Schwangeren,[7] gegen den Bösen Blick und – beispielsweise die Muskatnuss[8] – als Liebeszauber und gegen eine Vielzahl von Krankheiten. Am Amulett wirkt die animistische Vorstellung, dass magische Kräfte auf den Menschen einwirken, denen er durch das Amulett entgegenwirken kann.
Amulette sind in allen Kulturen bekannt. Seit der Steinzeit nutzte man Muscheln oder Perlen und besondere Steine wie beispielsweise Bernstein und Bergkristalle. In keltischen Siedlungsresten wurden polierte, durchbohrte Schädelfragmente (Amulette?) bei Grabungen gefunden.
Bei den Arabern sind Amulette Ledertäschchen mit eingenähtem Papier, auf das eine Koransure oder ein magisches Zeichen geschrieben ist. Sie verbreiten die islamische Segenskraft Baraka. Eine amulettartige positive Wirkung entfalten im Volksglauben Buntmetalle, besonders Kupfer und Messing.
Der Glaube an die medizinische Wirksamkeit von Amuletten erfuhr in Europa besonders von der Frühen Neuzeit bis ins 17. Jahrhundert eine Hochblüte und findet sich etwa bei Paracelsus, Marsilio Ficino, Cornelius Agrippa und Giordano Bruno.[9]
Kulturelle Varianten
Als Amulett gelten bei den:
- Alten Ägyptern: Skarabäus, Knoten, Horusauge
- Assyrern: Täfelchen mit Beschwörungsformeln
- Chinesen: Lochmünzen, Zauberformeln („fu“) in Geheimschrift
- Christen: Kreuze, Symbole auf den Kultgewändern, Reliquien, Pilgerzeichen
- Alte Griechen: Abaskanton, Bätylien und Goldenes Vlies
- Germanisch-heidnische Religionen: Donarskeule, Thorshammer
- Indianern Nordamerikas: Medizinbeutel
- Persern: Glasköpfchen
- Maghrebstaaten bis Naher Osten: Hand der Fatima
- Mauretanien: Fünfermotiv auf Haushaltsgegenständen aus verziertem Leder, wie auf dem Kamelreitsattel Rahla und dem Kissen Surmije. Das „Schüsselamulett“ ist ein geometrisches Motiv auf der Holzschüssel Gdah
- Römer: verschiedene Symbole der Fruchtbarkeit und der sexuellen Potenz
- Tuareg: um den Hals hängende Ledertaschen oder silberne Amulettbehälter, silberner dreieckiger oder kreuzförmiger Halsschmuck bei Frauen
- Türken: Nazar, blaues Auge gegen den Bösen Blick
- USA, vorwiegend unter Afroamerikanern: Mojo
Verständnis im Christentum
Der Bagdader Mathematiker, Philosoph und Arzt Qusta ibn Luqa (Qusṭā ibn Lūqā al-Baʿlabakkī)[10] war melchitischer Christ griechischer Abstammung und machte bereits in seiner um 900 entstandenen Schrift über den Wert von Amuletten Glauben und menschliche Einbildungskraft für deren Wirkung verantwortlich. Okkulte oder astrale Eigenschaften verneinte er.[11] In Europa wandte sich die christliche Kirche im Mittelalter ebenfalls gegen den Aberglauben, zu dem auch Amulette gerechnet wurden. Das hinderte den Volksglauben allerdings nicht daran, an Amuletten mit christlichem Bezug festzuhalten.
Auch hohe Kirchenmänner besitzen Glücksbringer. So sind etwa im Schatzinventar des Heiligen Stuhls von 1295 15 Natternzungenbäume verzeichnet.[12] Als am 9. Februar 1749 der Fürstbischof Anselm Franz von Würzburg, zeitlebens ein Streiter gegen Aberglauben und Hexenwahn, nach einem Schlaganfall starb, fand man auf seiner Brust ein Amulett aus Messingblech, auf dem ein Pentagramm und einige Zauberformeln eingraviert waren.[13]
Literatur
- Hans Bonnet: Amulett. In: Lexikon der ägyptischen Religionsgeschichte. Nikol, Hamburg 2005, ISBN 3-937872-08-6, S. 26–31.
- Mariacarla Gadebusch Bondio: Amulett. In: Werner E. Gerabek u. a. (Hrsg.): Enzyklopädie Medizingeschichte. De Gruyter, Berlin/ New York 2005, ISBN 3-11-015714-4, S. 52 f.
- Liselotte Hansmann, Lenz Kriss-Rettenbeck: Amulett und Talisman. Erscheinungsform und Geschichte. Callwey, München 1966 (2. Auflage 1977). Erweiterte Neuausgabe: Amulett, Magie, Talisman. Nikol, Hamburg 1999, ISBN 3-933203-21-X
- Charms and Amulets. In: James Hastings (Hrsg.): Encyclopaedia of Religion and Ethics. Band 3, Charles Scribner's Sons, New York, NY 1908–1926, S. 392–472, online: Charms and Amulets. (PDF) Archiviert vom Original am 22. Februar 2014; abgerufen am 22. November 2015.
- Rudolf Kriß: Volksglaube im Bereich des Islam. Band 2: Amulette, Zauberformeln und Beschwörungen. Harrassowitz, Wiesbaden 1962, DNB 452596009.
- Eugen von Philippovich: Kuriositäten – Antiquitäten. Ein Handbuch für Sammler und Liebhaber (= Bibliothek für Kunst- und Antiquitätenfreunde, Band 46), Klinkhardt und Biermann, Braunschweig 1966, DNB 457803428.
- Daniela Schmid: Jüdische Amulette aus Osteuropa – Phänomene, Rituale, Formensprache. (Dissertation) Universität Wien 2012
- Thomas Staubli: Amulette. Altbewährte Therapeutica zwischen Theologie und Medizin, in: G. Thomas/I. Karle (Hg.), Krankheitsdeutung in der postsäkularen Gesellschaft. Theologische Ansätze im interdisziplinären Gespräch. Stuttgart 2009. S. 91–114.
Weblinks
- Christa Tuczay: Amulette und Talismane. In: Gudrun Gersmann, Katrin Moeller, Jürgen-Michael Schmidt (Hrsg.): Lexikon zur Geschichte der Hexenverfolgung. historicum.net, 9. November 2007
Einzelnachweise
- Friedrich Ludwig Karl Weigand: Deutsches Wörterbuch: Erster Band: A-L, 1878. S. 47
- z. B. Friedrich Ludwig Karl Weigand: Deutsches Wörterbuch: Erster Band: A-L, 1878. S. 47; Alois Walde, Johann Baptist Hofmann: Lateinisches etymologisches Wörterbuch. 1910, S. 38
- z. B. Johann Christian August Heyse: Fremdwörterbuch. 1870, S. 42; James Yates: Amuletum, in William Smith (Hrsg.): Dictionary of Greek and Roman Antiquities. 1870, S. 91
- Siehe Johann Gildemeister: Amuletum. In: ZDMG 38, 1884, S. 140–142
- Richard Wünsch: Amuletum. In: Glotta. Band 2, Heft 3, 1910, S. 219–230 (Digitalisat).
- M. R. Baldwin: Toads and Plague: Amulet Therapie in Seventeenth-Century Medicine. In: Bulletin of the History of Medicine. Band 67, 1993, S. 227–247.
- Vgl. Karl Sudhoff: Ein Amulett für Schwangere. In: Sudhoffs Archiv. Band 2, 1909, S. 300, und Zum Amulett für Schwangere. In: Sudhoffs Archiv. Band 3, 1910, S. 352.
- John W. S. Johnsson: Die Muscatnuss, ein kosmetisch-erotisches Amulett. Volksmed. Untersuchungen eingesandt zum dritten internat. med. hist. Kongress, London, 1922. In: Proceedings of the Third International Congress of the History of Medicine. London, 17.–22. Juli 1922, S. 225–232
- Mariacarla Gadebusch Bondio (2005), S. 53.
- Manfred Ullmann: Die Medizin im Islam (= Handbuch der Orientalistik, 1. Abteilung, Ergänzungsband VI, 1). Leiden/ Köln 1970, S. 126–128.
- Friedrun R. Hau: Qusṭā ibn Lūqā al-Baʿlabakkī. In: Werner E. Gerabek, Bernhard D. Haage, Gundolf Keil, Wolfgang Wegner (Hrsg.): Enzyklopädie Medizingeschichte. De Gruyter, Berlin/ New York 2005, ISBN 3-11-015714-4, S. 1210.
- Natternzungen. In: Eugen von Philippovich: Kuriositäten/Antiquitäten. Klinkhardt & Biermann, Braunschweig 1966.
- Manfred Brauneck: Religiöse Volkskunst. DuMont, Köln 1979, S. 301, ISBN 3-7701-0967-8.