Abseilen
Abseilen ist das selbsttätige Absteigen einer Person von einem Berg, Fels oder einer anderen Anhöhe an einem Seil, das zu diesem Zweck an einem Fixpunkt befestigt ist und nach unten herabhängt. Das Abseilen wird im Sport beim Klettern, Canyoning, Caving, bei der Höhlenbefahrung sowie von bestimmten Berufsgruppen (Rettung, Bergung, Service- und Montagearbeiten an hohen Bauwerken) und im militärischen Bereich praktiziert.
Unterschieden wird das Abseilen am fixierten, einfachen Seilstrang vom Abseilen am umgelenkten, doppelten Seilstrang. Auch für das Aufsteigen am frei herabhängenden Seil gibt es verschiedene Techniken, z. B. das Jümarn.
Der Schweizer Bergführer Alois Pollinger ist der Erfinder des bis heute im Berg- und Klettersport üblichen Abseilens am umgelenkten, doppelten Seilstrang. Auf einer größeren Tour setzte Pollinger diese Technik zum ersten Mal am 25. und 26. August 1884 beim Abstieg über den steilen Westgrat der Dent Blanche (4357 m ü. M.) ein.[1]
Im Laufe der Jahrzehnte wurden beim Bergsteigen und Klettern verschiedene Techniken entwickelt, um die für ein kontrolliertes Abseilen erforderliche Bremswirkung zu erzielen. Zunächst wurde das Seil in verschiedener Weise um den Körper geführt. Seit den 1970er Jahren wurden zunehmend eigens entwickelte Bremsgeräte und Karabinerhaken verwendet. Bei allen Methoden wird zur Bremsung die Reibungswirkung der ein- oder mehrfachen Windung des Seils am Körper des Kletterers oder am Bremsgerät genutzt.
Vom Abseilen zu unterscheiden ist das Ablassen, bei dem eine andere Person das Seil bremst, welches in der Länge der Ablassstrecke durch einen Umlenkpunkt läuft.[2] Eine seltene Mischform zwischen dem Abseilen und Ablassen stellt das Selbstablassen am umgelenkten Seil dar.[3]
Im englischen Sprachraum ist das Lehnwort abseil geläufig,[4] wobei im US-amerikanischen Englisch stattdessen häufiger rappelling (vom Französischen rappel) verwendet wird.
Technik
Fixpunkte
Zum Abseilen bedarf es eines zuverlässigen Fixpunkts. Zur Sicherheit werden häufig mehrere Fixpunkte zugleich genutzt, z. B. zwei Felshaken. Am Fixpunkt wird meist eine Abseilöse, ein Ringhaken oder ein Karabiner eingesetzt. Beim Abseilen an Sauschwänzen war es zu Unfällen durch Seilaushängen gekommen.[5]
Da das Seil beim Abseilen nicht unter Last durch den Haltepunkt gezogen wird, kann es – ausschließlich zum Zweck des Abseilens – auch direkt durch Reepschnüre oder Bandschlingen geführt werden, wie es etwa beim Alpin- und Eisklettern (Eissanduhren) üblich ist. Zum Ablassen wird hingegen die Gleitfläche eines metallischen Topropehakens, einer Abseilöse oder eines Karabiners benötigt. Das Ablassen über eine Reepschnur oder Seilschlinge würde durch Reibungswärme des durchlaufenden Seils zu Schmelzverbrennung und Riss des textilen Materials führen.[6][2]
Abseilgeräte
Die beim Klettern am weitesten verbreitete Abseiltechnik benutzt den Abseilachter. Zum Einbinden werden bei Verwendung des Seils im Doppelstrang beide Seile in eine Schlaufe gelegt, durch die größere Öffnung der Abseilacht geführt und anschließend um die kleinere Öffnung herum gezogen.
Die Halbmastwurfsicherung (HMS) wurde vom Schweizer Werner Munter bekannt gemacht. Dabei wird die Bremswirkung des über einen Karabiner laufenden Seils zum Abseilen genutzt. Speziell hierzu gedachte Karabiner werden als HMS-Karabiner bezeichnet. Durch die starke Verwindung des im Halbmastwurf geführten Seils kann es zur Krangelbildung kommen.
Seit den 1990er Jahren wurden weitere technische Abseil- und Bremsgeräte entwickelt, die meist für bestimmte Anwendungszwecke optimiert wurden. Beispiele dafür sind das Tre Sirius, das Grigri, Reverso, oder das ATC (die beiden letzteren gehören zur Gruppe der Tube-Geräte). Die genannten Geräte haben den klassischen Abseilachter inzwischen weitgehend abgelöst, da sie teilweise auch zum Sichern des Partners besser geeignet sind.
Durchführung
Zur Standardausrüstung gehören dabei neben dem Abseilachter oder einem anderen Abseilgerät ein Kletterseil, ein Klettergurt und Karabinerhaken mit Verschlusssicherung. Beim Abseilen wird das Seil gewöhnlich im Doppelstrang an einem Fixpunkt eingehängt. Es ist darauf zu achten, dass beide Seilenden bis zum Boden oder zum nächsten Standplatz reichen. Mit einem Seil von 50 Meter Länge kann im Doppelstrang also bis zu 25 Meter abgeseilt werden. Vor dem Auswerfen des Seils sollten die Seilenden mit einer Endacht abgeknotet werden, um dem Abseilen über das Seilende hinaus vorzubeugen. Alternativ kann auch am Einfachseil abgeseilt werden, das mit Knoten und Karabiner an Ring, Öse oder natürlichen Sicherungspunkten befestigt wird. Wird das Seil mit einer Klemmschlaufe befestigt, so lässt sich an dem einen Seilstrang abseilen, während das Seil am anderen Strang nach dem Abseilen abgezogen werden kann.[7]
Das Seil wird im Doppel- oder Einfachstrang in das Abseilgerät eingelegt. Dieses wird anschließend mit einem Karabiner, am besten einem HMS-Karabiner (HMS = Halbmastwurfsicherung, s. u.), am Klettergurt befestigt. In jedem Fall sollte das Durchrauschen des Seils durch eine weitere Sicherung in Form einer Prusikschlinge oder einer Bandschlinge mit FB-Kreuzklemm verhindert werden. Diese werden unterhalb des Abseilgeräts um den Doppelstrang des Seils gelegt und mit einem Karabiner in der Beinschlaufe des Hüftgurts befestigt. Prusikschlinge oder FB-Kreuzklemm dürfen dabei nicht so lang sein, dass sie in das Abseilgerät hineingezogen werden können. (Nur) beim Canyoning wird gelegentlich auf den zusätzlichem Klemmknoten zur Hintersicherung verzichtet.
Historische Entwicklung
Die ersten Alpinisten seilten sich ab, indem sie die Reibung des Seils am Körper nutzten. Zunächst wurde dazu der sogenannte Kletterschluss verwendet.
„[…] führt man das Seil an der Innenseite des einen Kniees, dann an der Wade, an der Außenseite des Fußknöchels entlang und über die Fußspanne desselben Beines; den Fuß beugt man dabei stark nach oben. Dann tritt man mit dem anderen Fuß an der Stelle wo es über die Fußspanne läuft, darauf. Der aufgesetzte Fuß muss das Seil möglichst nach der Spanne des anderen Fußes hin (von dessen Zehen weg) drücken.“
Eine Weiterentwicklung war der Dülfersitz, bei dem das Seil um einen Oberschenkel und über die Schulter läuft. Seit Erfindung des Abseilachters sind diese Methoden nicht mehr gebräuchlich.
Der Karabinersitz wird – zwar selten – im Gegensatz zum Dülfersitz auch heute noch verwendet, wenn kein Abseilachter oder ein anderes zum Abseilen geeignetes Sicherungsgerät zur Verfügung steht. Dülfersitz und Karabinersitz sind Methoden, die vor dem Aufkommen von Sitz- oder Komplettgurt angewandt wurden.
Siehe auch
Literatur
- Chris Semmel: Abwärts – aber sicher. Typische Unfallmuster beim Abseilen vermeiden. In: DAV Panorama. Nr. 3, 2008, S. 75–77 (alpenverein.de [PDF; 358 kB]).
- Christoph Hummel: Abseilen/Die Methode - Das richtige Setup. In: Deutscher Alpenverein (Hrsg.): Panorama-Magazin DAV. Nr. 4, Juli 2020, S. 60–61 ( [abgerufen am 25. Juli 2020]).
Weblinks
- Rappel-Devices (Abseilzubehör-Übersicht von Garry Storrick, englisch)
- Gegen Blackouts beim Abseilen (PDF-Datei; 667 kB) In: Bergundsteigen 3/2006.
- Abseilen (PDF-Datei; 4,5 MB) In: Bergundsteigen 3/2012.
- Richtig abseilen im Gebirge, so geht’s
- Abseilachter mit Prusik anlegen – Videoanleitung auf Kletterlaune.de
Einzelnachweise
- Christian Imboden: Berge: Beruf, Berufung, Schicksal. Rotten Verlag, Visp 2013, ISBN 3-907624-48-3. Seiten 120 und 85: Erfinder der modernen Abseiltechnik
- Ablassen und Abseilen – ein gewaltiger Unterschied. (PDF; 297 kB) In: Panorama 3/1999, S. 70 f.
- Selbstablassen. In: petzl.com. Abgerufen am 8. Juli 2021.
- Eintrag abseil im Merriam-Webster.
- Achtung beim Abseilen am „Sauschwanz“! Abgerufen am 9. April 2015.
- Robert Renzler: Die 12 (Kletter-)Gebote – Die Kletterregeln des Alpenvereins. In: ÖAV, DAV (Hrsg.): bergundsteigen. Teil 2, Nr. 2. Innsbruck 2000, S. 11 (bergundsteigen.at [PDF; abgerufen am 17. Februar 2009]).
- Gerald Krug: Hexen und Exen. Geoquest Verlag, Halle/Saale, 2. Auflage 2011, ISBN 978-3-00-020535-4, S. 221.