Wunsiedel-Entscheidung

Die Wunsiedel-Entscheidung ist ein Beschluss des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 4. November 2009. Es ist eine Grundsatzentscheidung zur Versammlungsfreiheit, Meinungsfreiheit und Volksverhetzung.[1] Eine Strafrechtsnovelle zur Volksverhetzung, die das öffentliche Billigen, Verherrlichen oder Rechtfertigen der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft unter Strafe stellt, ist verfassungsgemäß. Die Rudolf-Heß-Gedenkmärsche im fränkischen Wunsiedel bleiben verboten.

Wunsiedel
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Verkündet 4. November 2009
Aktenzeichen: 1 BvR 2150/08
Verfahrensart: Individual-Urteils-VB
Rubrum:
Fundstelle: BVerfGE 124, 300–347
Sachverhalt
gerichtliche Bestätigung der Rechtmäßigkeit des Verbots der Rudolf-Heß-„Gedenkmärsche“
Leitsätze
  1. § 130 Abs. 4 StGB ist auch als nichtallgemeines Gesetz mit Art. 5 Abs. 1 und 2 GG vereinbar. […]
  2. […] Das Grundgesetz rechtfertigt kein allgemeines Verbot der Verbreitung rechtsradikalen oder auch nationalsozialistischen Gedankenguts schon in Bezug auf die geistige Wirkung seines Inhalts.
Angewandtes Recht
Art. 3 III 1 GG, Art. 5 I 1 GG, Art. 5 II | 1 GG, Art. 5 II | 3 GG, Art. 8 I GG, Art. 103 II GG
Reaktion

Die VB i​st unbegründet.

Vorgeschichte und Hintergrund

Der Beschwerdeführer Jürgen Rieger meldete s​eit 2001 i​m Voraus, b​is in d​as Jahr 2010 jährlich wiederkehrend, e​ine Kundgebung u​nter freiem Himmel m​it dem Thema „Gedenken a​n Rudolf Heß“ an.

2001 wurde die Versammlung mit Aufzug vom Landratsamt als Versammlungsbehörde verboten. Dieses Verbot wurde im Eilverfahren vom Verwaltungsgericht Bayreuth zunächst bestätigt, aber im Beschwerdeverfahren vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof aufgehoben. Die Richter sahen in ihrer Beurteilung des Versammlungsverbots im Landkreis Wunsiedel keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die von einem Gedenkmarsch ausgehe. Es marschierten 2001 allerdings erstmals seit zehn Jahren wieder an die 1.000 Rechtsextreme durch Wunsiedel, begleitet von nur etwa 200 Gegendemonstranten. 2002 beteiligten sich etwa 3.000 Personen, 2003 an die 4.000. Ein Höhepunkt und das Ende der Demonstrationen trat 2004 mit fast 5.000 rechtsextremen Demonstranten aus Deutschland und Europa ein.

Im März 2005 wurde vom Deutschen Bundestag eine Novelle des Strafrechts beschlossen.[2] Diese Ergänzung des § 130 Strafgesetzbuch (Volksverhetzung) um Absatz 4, lautet wie folgt:

Mit Freiheitsstrafe b​is zu d​rei Jahren o​der mit Geldstrafe w​ird bestraft, w​er öffentlich o​der in e​iner Versammlung d​en öffentlichen Frieden i​n einer d​ie Würde d​er Opfer verletzenden Weise dadurch stört, d​ass er d​ie nationalsozialistische Gewalt- u​nd Willkürherrschaft billigt, verherrlicht o​der rechtfertigt.[3]

Für den August 2005 verbot das Landratsamt des Landkreises Wunsiedel daraufhin mit Bescheid vom 29. Juni 2005 die Veranstaltung. Dagegen erhob der Beschwerdeführer vor dem Verwaltungsgericht Bayreuth Klage in der Hauptsache, die mit Urteil vom 9. Mai 2006 abgewiesen wurde.[4] Die hiergegen gerichtete Berufung wies der Bayerische Verwaltungsgerichtshof mit Urteil vom 26. März 2007 gleichfalls zurück.[5] Auch das Bundesverwaltungsgericht bestätigte das Verbot. Gegen die Entscheidung seines 6. Senats vom 25. Juni 2008,[6] nach der die genannte Volksverhetzungs-Novelle ein die Meinungsfreiheit in verfassungsmäßiger Weise einschränkendes „allgemeines Gesetz“ im Sinne von Art. 5 II | 1 GG sei, legte der Kundgebungsveranstalter Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht ein. Anträge auf vorläufigen Rechtsschutz blieben durch alle Instanzen erfolglos. Von 2005 bis 2009 verwarf auch das Bundesverfassungsgericht Eilanträge (§ 32 BVerfGG), die gegen das Verbot der Kundgebung gestellt worden waren, aufgrund von Folgenabwägungen.[7]

Die Entscheidung

Der neue Absatz zur Volksverhetzung greift in den Schutzbereich des Grundrechts nach Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG ein, dass jedermann seine Meinung frei äußern und verbreiten darf. Er war deshalb überhaupt relevant geworden, weil die Rechtsprechung zum Versammlungsgesetz (§ 15 Abs. 1 VersG) eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit unter anderem dann annimmt, wenn eine Verletzung von Strafrechtsnormen droht.[8] Das Bundesverfassungsgericht stimmte dem Beschwerdeführer darin zu, dass es sich bei dem Absatz um eine Sonderbestimmung, also kein allgemeines Gesetz handelt. Grundsätzlich darf die Meinungsfreiheit nur durch ein allgemeines Gesetz eingeschränkt werden. Dennoch sei die Novelle in diesem Fall zulässig. Das Grundgesetz kann als expliziter Gegenentwurf zum Nationalsozialismus verstanden werden, was eine Ausnahme in diesem Falle rechtfertige und mit dem Grundgesetz vereinbar mache.[9]

Die Offenheit des Art. 5 Abs. 1, 2 GG für derartige Sonderbestimmungen nimmt allerdings den materiellen Gehalt der Meinungsfreiheit nicht zurück. Die nationalsozialistische Gesinnung selbst wird durch die Meinungsfreiheit geschützt. Der staatliche Eingriff wird erst dann erlaubt, „wenn Meinungsäußerungen die rein geistige Sphäre des Für-richtig-Haltens verlassen und in Rechtsgutverletzungen oder erkennbar in Gefährdungslagen umschlagen“. Die Gesetzesnovelle diene dem öffentlichen Frieden.

§ 130 Abs. 4 StGB steht auch mit Art. 103 Abs. 2 GG in Einklang, der die Strafbarkeit an die gesetzliche Bestimmtheit knüpft. Die Störung des öffentlichen Friedens allein ist allerdings um konkretere Tatbestandsmerkmale zu ergänzen und inhaltlich näher zu bestimmen. Der öffentliche Friede ist dann als ein Tatbestandsmerkmal zu verstehen, dessen Inhalt sich aus dem jeweiligen Normenzusammenhang je eigens bestimmt. Grundsätzlich begründet bereits die Verwirklichung der anderen Tatbestandsmerkmale die Strafbarkeit, bei deren Erfüllung auch die Störung des öffentlichen Friedens (beziehungsweise die Eignung hierzu) vermutet werden kann. Beim öffentlichen Frieden handelt es sich insoweit nicht um ein strafbegründendes Tatbestandsmerkmal, sondern um eine „Wertungsformel zur Ausscheidung nicht strafwürdig erscheinender Fälle“ (Thomas Fischer).[10] Es ist damit ein Korrektiv, das es insbesondere erlaubt, auch grundrechtlichen Wertungen im Einzelfall Geltung zu verschaffen.

Die Aufmärsche i​n Wunsiedel bleiben verboten.

Die Entscheidung erfolgte, obwohl der Beschwerdeführer am 29. Oktober 2009 verstorben war. Zwar ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine Verfassungsbeschwerde zur Durchsetzung höchstpersönlicher Rechte im Falle des Todes erledigt, aufgrund der allgemeinen verfassungsrechtlichen Bedeutung wurde die Entscheidung aber trotzdem verkündet.

Rezeption

Der ehemalige Hamburger Richter Günter Bertram kritisierte die Entscheidung. Die Strafrechtsnovelle sei zu verwaschen, denn die Begriffe „Billigung“, „Verherrlichung“ und „Rechtfertigung“ könnten ganz unterschiedlich ausgelegt, ihre Reichweite ausgedehnt werden. Die Entscheidung widerspräche zudem dem Wortlaut des Grundgesetzes.[11]

Auch d​er Kasseler Jurist u​nd Autor Horst Meier s​ah in d​er Wunsiedel-Entscheidung d​es Bundesverfassungsgerichts d​ie Einführung e​ines Sonderrechts g​egen Neonazis u​nd einen Angriff a​uf die Meinungsfreiheit.[12]

Literatur

  • BVerfG, 04.11.2009 - 1 BvR 2150/08. Entscheidung bei dejure.org mit Volltexten, Kurzfassungen, Besprechungen und Zitierungen

Einzelnachweise

  1. Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 4. November 2009 – 1 BvR 2150/08 – in BVerfGE 124, 300
  2. BMJ: Erweiterte Strafvorschriften im Kampf gegen Rechtsextremismus. [Pressemitteilung]. BReg, 11. März 2005, archiviert vom Original am 6. Januar 2010; abgerufen am 14. Mai 2017.
  3. BVerfGE 124, 300 (301)
  4. Verwaltungsgericht Bayreuth, 9. Mai 2006, Aktenzeichen B 1 K 05.768
  5. Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, 26. März 2007, Aktenzeichen 24 B 06.1894, Randnummer 16 ff.
  6. Bundesverwaltungsgericht, 25. Juni 2008, Aktenzeichen 6 C21/07
  7. Bundesverfassungsgericht, 1. Kammer des Ersten Senats, Beschluss vom 16. August 2005, Aktenzeichen 1 BvQ 25/05; Beschluss vom 14. August 2006, Aktenzeichen 1 BvQ 25/06; Beschluss vom 13. August 2007, Aktenzeichen 1 BvR 2075/07; Beschluss vom 13. August 2008, Aktenzeichen 1 BvR 2102/08; Beschluss vom 10. August 2009, Aktenzeichen 1 BvQ 34/09
  8. vergleiche BVerfGE 69, 315 (352) – „Brokdorf
  9. § 130 Abs. 4 StGB ist mit Art. 5 Abs. 1 und 2 GG vereinbar. Abgerufen am 14. Mai 2017., Pressemitteilung Nr. 129/2009 der Pressestelle des Bundesverfassungsgerichtes vom 17. November 2009 zum Beschluss vom 4. November 2009, Aktenzeichen 1 BvR 2150/08
  10. Thomas Fischer: Strafgesetzbuch mit Nebengesetzen. 56. Auflage. C. H. Beck, München 2009, ISBN 978-3-406-58083-3, § 130 Rn. 14b.
  11. Günter Bertram: Volksverhetzungs-Novelle verfassungsgemäß – Karlsruhe locuta, causa finita? In: Neue Juristische Wochenschrift. Nr. 50, 2009, S. XII–XIV.
  12. Horst Meier: Sonderrecht gegen Neonazis? Über Meinungsfreiheit und Konsensbedarf in Deutschland. In: Merkur. Band 64, Nr. 733, Juni 2010, ISSN 0026-0096, S. 539544 (merkur-zeitschrift.de [PDF] Vorschau der ersten Seite).

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