Wirtschaftskrise in Venezuela
Venezuelas Wirtschaftskrise ab dem Jahr 2013 zeichnete sich aus durch Hyperinflation, Versorgungsengpässe und Hungersnöte mit einer Armutsquote, welche ab 2014 über 50 Prozent stieg und im Jahr 2020 rund 96 Prozent erreicht hatte.[1] Die Politik der Bolivarischen Revolution war zum größten Teil durch Erdölverkäufe finanziert worden. Der Ertrag aus den Ölverkäufen hatte sich nach den Massenentlassungen durch Präsident Chávez im Jahr 2002 selbst zum Zeitpunkt der höchsten Erdölpreise im Jahr 2008 zu verringern begonnen.[2] Die Wirtschaftskrise wurde bis 2020 nicht überwunden, sondern wandelte sich zusehends zu einem vollkommenen wirtschaftlichen Kollaps, mit der Folge einer Massenemigration von bis zu 6 Millionen Wirtschaftsflüchtlingen.[3]
Staatsverschuldung
2014 lag die Staatsverschuldung bei 66 Milliarden US-Dollar oder 51 Prozent des BIP.[4] Bis 2017 hatten der Staat Venezuela und die staatliche Erdölgesellschaft PDVSA 110 Milliarden Dollar an Anleihen aufgelegt, zusammen mit Krediten und Zinsen ergäben sich daraus Forderungen bis 170 Milliarden Dollar. Händler verlangten zur Absicherung auf Anleihen im Frühjahr 2017 um die 40 Prozent Zins.[5] Die Regierung Maduro bediente die ausländischen Gläubiger auch noch im Jahr 2017, trotz aller Kriegsrhetorik gegen die USA. Die Washington Post nannte es „selbstmörderische Zahlungsmoral“.[6] Als Grund wurde auch angegeben, dass die Regierung offene Finanzkanäle brauche, um an die Dollars zu kommen, mit welchen sie sich die Loyalität und Repression der Armee und Milizen kaufe; „Ein Zahlungsausfall würde den sofortigen Regierungswechsel bedeuten“, meinte der Bankenfachmann Alejandro Grisanti.[5] Das Defizit des Staatshaushaltes betrug 2018 geschätzte 20 Prozent des Bruttoinlandprodukts.[7]
Der letzte verbleibende Kreditgeber für neue Kredite war im Jahr 2017 Russland via die staatseigene Ölfirma Rosneft, welche 6 Milliarden Dollar Vorauszahlungen leistete.[8] Ein Ende der Unterstützung durch Rosneft war durch die komplizierte Situation mit amerikanischen Sanktionen gegen sowohl Russland als auch Venezuela im Frühjahr 2018 zumindest denkbar.[9] Am 3. November senkte Standard & Poor’s die Kreditwürdigkeit des Landes von CCC auf CC herab. Zu dem Zeitpunkt hatte Venezuela 155 Milliarden Dollar Schulden, über deren Umschuldung die Regierung mit den Gläubigern verhandeln wollte, was[10] aber nie stattfand. Die für die Finanzen wichtige Ölförderung sank gleichzeitig bis 2018 auf rund ein Drittel des Jahres 2015.[11]
Inflation
Die Inflationsrate betrug 2016 rund 800 Prozent,[12] im Jahre 2017 über 2000 Prozent[13] und 2018 80.000 %.[14] Schätzungen für 2019 für die Inflationsrate lagen nach offiziellen venezolanischen Quellen zwischen 7374 % und 9585 %, laut dem Internationaler Währungsfonds bei 200.000 %[15]
In Venezuela wurde „kostenloses“ Benzin von der Bevölkerung als eine Art Naturrecht angesehen, und die Regierung wagte aus Angst vor Unruhen auch während der Versorgungskrise bis ins Jahr 2018 keine Preisanpassungen; im Laufe der Hyperinflation blieb nur dieser Preis zwei Jahre lang unverändert: Anfang August 2018 konnte man für einen auf dem Schwarzmarkt getauschten Dollar 600.000 Liter Benzin kaufen.[16] Die Zeitung El pais machte eine andere Rechnung: Mit einem einzigen Eurocent konnte man Benzin für drei Jahre (wöchentlich 40 Liter) kaufen.[17] Die Landeswährung konnte wegen ihrer eingeschränkten Verfügbarkeit und wegen des Vertrauensverlustes immer weniger überhaupt verwendet werden, nur noch für den Kauf der subventionierten Güter wie Benzin, Strom, Gas, Telefonie von Staatsunternehmen. Im Alltag wurde der amerikanische Dollar[18] oder immer mehr Kryptowährungen verwendet, welche durch die Rimessen der Venezolaner im Ausland verfügbar war.[19]
Versorgungskrise
Das Land befindet sich seit 2016 in einer Versorgungskrise. Während das Benzin extrem stark subventioniert ist,[20] kosten Waren des täglichen Bedarfs ein Vielfaches davon. So kostete schon Anfang 2016 ein Liter Wasser mehr als die Tankfüllung eines Lastwagens.[21]
Im November 2017 wurden Lebensmittel wegen der täglich steigenden Preise in kleinen Portionen von unter 200 Gramm verkauft. Vier Esslöffel Zucker kosteten 4000 Bolivares, was zwei Drittel des täglichen Mindestlohns entsprach.[22] Bis zum Sommer 2018 hatte sich die Versorgungslage nochmals verschlechtert, weil das Land zum größten Teil auf Importe angewiesen war, was nicht nur für Medikamente der mehr oder weniger zusammengebrochenen medizinischen Versorgung, sondern auch für Lebensmittel galt.[7]
Schon im Jahr 2017 galten 80 Prozent der Bevölkerung nach 4 Jahren galoppierender Inflation als verarmt,[5] 2018 kam eine Studie auf eine Armutsquote von 90 Prozent.[23]
Eine Erhöhung des Mindestlohns im Sommer 2018 könnte gemäß Neuer Zürcher Zeitung den wenigen verbliebenen Kleinunternehmern das Genick brechen. Die Regierung ließ Verhaftungen von Ladenbesitzern mit angeblichen Wucherpreisen live im Fernsehen übertragen. Der Präsident der verfassungswidrigen „Verfassungsgebenden Versammlung“, welche das Parlament entmachtet hatte, erklärte, die Unternehmer würden „nur lernen, wenn sie hinter Gittern sitzen“. Währenddessen hatte die Regierung flink und unbemerkt erstmals den Tausch von Dollars legalisiert: Zur wichtigsten Finanzierungsquelle des Landes waren 2018 die Rimessen der ins Ausland geflüchteten Venezolaner an ihre Familien geworden.[11]
Sanktionen
Seit 2015 leidet die Wirtschaft zunehmend unter den von der US-Regierung und der EU verhängten Sanktionen.[24] So wurde unter Donald Trump allen US-Unternehmen und US-Bürgern verboten, Staatsanleihen und Schuldverschreibungen der venezolanischen Regierung zu kaufen. Der Export von Öl und Gold wird erschwert. Mit Hilfe dieser Strafmaßnahmen wird versucht, durch den Entzug der finanziellen Mittel einen Regimewechsel zu erzwingen.
Einzelnachweise
- Kein Fleisch, keine Milch, kein Brot, tagesschau.de, 12. Oktober 2020, abgerufen am 12. Oktober 2020
- The Legacy of Hugo Chavez And A Failing Venezuela, Wharton PPI, 9. Februar 2017; “Even at the peak of international oil prices, in July of 2008, Venezuela’s governmental revenue was already falling”.
- Venezuela Exodus Is as Big as Syria's, Yet Got 1.5% of the Aid. Bloomberg, 20. September 2019, abgerufen am 20. Mai 2020 (englisch).
- Staatsverschuldung 2014.
- Wann kommt es zum Staatsbankrott? In: Neue Zürcher Zeitung. 11. April 2017.
- Ein Hamburger für 2000 Dollar. Tagesanzeiger, 4. Mai 2017.
- Nachhaltige Wirtschaft bringt Arbeitsplätze. SRF Wirtschaftsmagazin Trend, Minute 7.
- Russia’s Putin mulls financial aid for Venezuela. dw, 14. Oktober 2017.
- Eine Schweizer Lösung für venezolanisch-russische Probleme? In: Neue Zürcher Zeitung. 5. April 2018.
- S&P stuft Venezuelas Kreditwürdigkeit weiter herab. In: Der Standard. 4. November 2017, abgerufen am 14. November 2017.
- Venezuelas Währungsreform gescheitert. In: Neue Zürcher Zeitung. 27. August 2018, S. 20; Zitat Maduro: Er habe eine „magische Formel“ gefunden; „Glaubt mir, der Plan wird funktionieren“.
- Inflationsrate 2016 bei 800 Prozent. In: Handelsblatt. 20. Januar 2017, abgerufen am 24. Mai 2017.
- Venezuela 2017 annual inflation at 2,616 percent: opposition lawmakers. Reuters, 8. Januar 2018.
- Venezuela's Hyperinflation Hits 80,000% Per Year in 2018. Forbes, 1. Januar 2019.
- France 24: Venezuela: según el Banco Central la inflación cerró 2019 en 9.585%, 6. Februar 2020, abgerufen am 20. Mai 2020 (spanisch)
- Eine Notlüge in Wirtschaftlicher Notlage? In: Neue Zürcher Zeitung. 8. August 2018.
- Venezuela: Das Land, in dem eine Million Liter Benzin einer Dose Thunfisch entspricht. In: El Pais. 5. Juli 2018.
- Wirtschaftsbericht Venezuela 2017/18, Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten, 30. Juni 2018
- Bolivar schlägt nicht Bitcoin, Nowaja Gaseta, 25. März 2018 (russisch); "Das Thema Kryptowährung wäre in Venezuela niemals aktuell geworden, wenn nicht die Behörden den Bürgern verboten hätten, frei konvertierbares Geld zu verwenden."
- Tjerk Brühwiller: Das kranke Herz der venezolanischen Wirtschaft. In: Neue Zürcher Zeitung. 7. Februar 2017, abgerufen am 24. Mai 2017.
- María Eugenia Díaz, Nicholas Casey: Venezuela aumenta el precio de su gasolina, la más barata del mundo, y agudiza la crisis. In: New York Times. 22. Februar 2016, abgerufen am 9. Dezember 2018 (spanisch).
- Cucharadas de comida, la última opción de compra en la crisis venezolana. In: El Pais. 20. November 2017.
- Not worth a bolivar: Life in cash-starved Venezuela, LA Times, 7. Februar 2019
- Die lange Liste der Sanktionen gegen Venezuela, Deutsche Welle, 17. Februar 2019