Tony Garnier (Architekt)
Tony Garnier (* 13. August 1869 in Lyon; † 19. Januar 1948 in Roquefort-la-Bédoule, Frankreich) war ein französischer Architekt und Städtebauer, der um 1900 den Entwurf einer Idealstadt vorlegte, der Cité industrielle, die den Diskurs zum Städtebau im 20. Jahrhundert wesentlich beeinflusste. Zusammen mit Architekten wie Auguste Perret zählt er zu den Wegbereitern und Vorläufern der modernen Architektur.[1]
Leben
Der Sohn des Zeichners einer Seidenweberei Pierre Garnier und der Weberin Anne Évrard verbrachte seine Kindheit und Jugend, über die sonst wenig bekannt ist, in ärmlichen Verhältnissen im Arbeiterquartier der Pentes de Croix-Rousse. An der École technique la Martinière in Lyon, die er seit 1883 besuchte, zeigte er bereits eine Begabung als Zeichner, weswegen er ab 1886, mit siebzehn Jahren, an der École des Beaux Arts de Lyon studierte. 1889 erlaubte ihm der Gewinn des Architekturpreises ersten Ranges dieser Schule, seine Studien an der École des Beaux Arts de Paris weiterzuführen, wo er die Klasse von Paul Blondel (1847–1897) und Georges Scellier de Gisors (1844–1905) besuchte.
Dem unermüdlichen Studenten aus einfachen Verhältnissen war bewusst, dass nur ein außerordentlicher Erfolg ihm berufliche Anerkennung bringen würde. 1899 erhielt er schließlich – im sechsten Versuch – den ersten Preis für Architektur, den berühmten Prix de Rome, der seinen Preisträgern einen mehrjährigen Stipendiumsaufenthalt in der Villa Medici in Rom einbrachte.[2] In Rom, wo er sich von 1899 bis 1904 aufhielt, bestanden seine Pflichten als Stipendiat darin, regelmäßig Bauaufnahmen antiker Monumente an die Académie des Beaux-Arts zu senden, stattdessen arbeitete er an den Entwürfen einer utopischen Industriestadt, der Cité industrielle, die er 1901 zusätzlich zu einer Bauaufnahme des Tabulariums einsandte. Die Arbeit wurde vom wutschäumenden Gutachter Jean-Louis Pascal förmlich zerrissen.[3]
In den folgenden Jahren gab er jeweils die geforderten Rekonstruktionen ab – Studien zum Titusbogen, zu Santa Maria in Cosmedin und schließlich eine komplette, ziemlich gewagte Interpretation von Tusculum – er arbeitete aber gleichzeitig an der Cité industrielle weiter, die er zum Ende seines Stipendiums 1904 auch wieder präsentierte. Die Reaktionen waren aber diesmal erheblich freundlicher, die Zeitschrift La construction moderne bescheinigt der cité industrielle bei aller Modernität und hygienischem Komfort, „die Suche nach sogar auch künstlerischer Schönheit nicht zu verschmähen.“[4] Garnier arbeitete die Pläne zur Cité industrielle weiter aus, die endgültige Veröffentlichung datiert von 1917, weitere Auflagen erschienen bis in die 1930er Jahre. Garnier entwickelte die Cité gemeinsam mit seinen tatsächlichen Bauprojekten weiter, beides befruchtete sich gegenseitig.
1904 ließ sich Tony Garnier in Lyon nieder und erhielt im gleichen Jahr, neben einem später nicht realisierten Privatauftrag für Villen entlang des Parc de la Tête d’Or, seinen ersten Bauauftrag der Stadt, für die er später einen Großteil seines Arbeitslebens bauen sollte: Die Vacherie du parc, eine Melkerei, beauftragt unter Bürgermeister Victor Augagneur.
Nachdem Édouard Herriot 1905 Bürgermeister von Lyon wurde, bekam Tony Garnier Aufträge für große Bauprojekte, besonders im Osten der Stadt, die zu dieser Zeit stark erweitert wurde. Von 1905 bis 1919 arbeitete er als Stadtbaurat (architecte en chef) der Stadt Lyon.[5]
Sein erstes großes Projekt war der Schlachthof und die Viehmarkthalle La Mouche, die von 1909 bis 1914 errichtet wurden.[6] Zunächst für die (nicht offiziell anerkannte) Weltausstellung von 1914 als Palais de l’industrie genutzt, wurde das Gelände im Ersten Weltkrieg vom Militär beschlagnahmt und konnte erst 1928 seiner eigentlichen Bestimmung übergeben werden. Nach der Schließung des Schlachthofes 1967 konnte die seit 1975 als Monument historique eingetragene Halle[7] erhalten werden und ist heute als Halle Tony Garnier mit 17.000 Plätzen einer der größten Veranstaltungsorte Frankreichs. Die Halle wurde als freitragende Konstruktion aus stählernen Dreigelenkbögen errichtet und überspannt eine Fläche von 210 mal 80 Metern. Durch das mehrfach abgetreppte Dach entstehen Fensterbänder, die sich auf beiden Seiten des Daches über die gesamte Länge der Halle ziehen und für eine großzügige Belichtung sorgen.
Ab 1919 begann die Projektierung eines Stadtviertels in Lyon. Auch hier zeichnete Garnier Vorstellungen seiner Cité in die ersten Entwürfe: Die Konstruktion aus Stahlbeton, die jeder Wohneinheit zugeordneten großzügigen Loggien, die Verteilung der Wohnbauten auf einer von Umfriedungen freien, allgemein zugänglichen Fläche waren Elemente der gleichmäßig angeordneten, wenig hierarchischen Wohnviertel der Cité industrielle. Im Verlauf der Planungsphase – Baubeginn war erst ein Jahrzehnt später, 1929 ,– wurde der Entwurf aufgrund von Sparzwängen immer mehr eingedampft. Das nun Quartier des États-Unis genannte städtische Wohnviertel musste letztlich, bei annähernd gleicher Zahl der Wohneinheiten, auf der Hälfte der ursprünglichen geplanten Fläche realisiert werden.[8]
Bauwerke (Auswahl)
- 1904–05 Gemeindemolkerei, Lyon
- 1905 Wohnanlage Bon Marche, Lyon
- 1909–28 Schlachthof La Mouche mit der Halle Tony Garnier, Lyon
- 1910–33 Krankenhaus Édouard Herriot (ehemals Grange-Blanche), Lyon
- 1911 Haus des Architekten, Saint-Rambert-d’Albon
- 1913 Villa Madame Garnier, Saint-Rambert-d’Albon
- 1913–14 Fabrik Mercier & Chaleyssin, Lyon
- 1914–26 Sportanlage Le stade de Gerland, Lyon
- 1917–24 Villa, Rue de la Mignonne, Saint-Rambert-d’Albon
- 1919–27 Telefonzentrale Vaudrey, Lyon
- 1919–1933 Quartier des États-Unis, Lyon
- 1921 Villa am Rand des Sees, Lyon
- 1922 Villa Gross, Lyon
- 1926–1934 Rathaus von Boulogne-Billancourt
- 1927–1933 Webschule, Lyon
- 1928–29 Schwimmstadion, Lyon
Publikationen
- Les grands travaux de la ville de Lyon. Études, projets et travaux exécutés (hôpitaux, écoles, postes, abattoirs, habitations en commun, stade, etc.). 1920.
- Une cité industrielle. Étude pour la construction des villes. Massin, Paris 1918. 2. Auflage Massin, Paris 1932 (2 Bände).
- deutsche Ausgabe: Die ideale Industriestadt. Eine städtebauliche Studie. Text von René Jullian, Vorwort Julius Posener. Wasmuth, Tübingen 1989, ISBN 3-8030-0147-1.
Literatur
- Alain Vollerin: Tony Garnier et Lyon, aux origines de la modernité. Éd. Mémoire des Arts, Saint-Cyr-au-Mont d’Or 2011, ISBN 2-912544-50-5.
- Pierre Gras: Tony Garnier. Editions du Patrimoine, Paris 2013, ISBN 978-2-7577-0272-7.
- René Jullian: Tony Garnier. Constructeur et Utopiste. Philippe Sers Editeur, Paris 1989, ISBN 2-904057-25-0.
Weblinks
- Musée urbain Tony Garnier, Lyon
- Idealstadt, Buchbesprechung zur Cite industrielle in Die Zeit, 10. November 1989
Einzelnachweise
- Pierre Gras: Tony Garnier. Editions du Patrimoine, Paris 2013, ISBN 978-2-7577-0272-7. S. 23.
- Pierre Gras: Tony Garnier. Editions du Patrimoine, Paris 2013, ISBN 978-2-7577-0272-7, S. 29–30.
- Vittorio Magnago Lampugnani: Die Stadt im 20. Jahrhundert. Visionen, Entwürfe, Gebautes. Wagenbach Verlag, Berlin 2010, ISBN 978-3-8031-3633-6, Stadtbaukunst der Beaux-Arts, S. 67.
- Paul Planat: Les envois de rome. In: La construction moderne. 9. Juli 1904. S. 481–84. Zit. nach: Vittorio Magnago Lampugnani: Die Stadt im 20. Jahrhundert. Visionen, Entwürfe, Gebautes. Wagenbach Verlag, Berlin 2010, ISBN 978-3-8031-3633-6, Stadtbaukunst der Beaux-Arts, S. 68.
- Institut français d'architecture (Hrsg.): Archives d'architecture du XXe siècle, Band 1, Liège 1991, S. 172: Tony Garnier. 1869–1948 (Digitalisat bei Google Books, französisch).
- History of the Halle, Website der Halle Tony Garnier (englisch, abgerufen am 29. Oktober 2015).
- Eintrag PA00117810: Abattoir de la Mouche dit halle Tony Garnier vom 16. Mai 1975 in der Base Mérimée.
- Vittorio Magnago Lampugnani: Die Stadt im 20. Jahrhundert. Visionen, Entwürfe, Gebautes. Wagenbach Verlag, Berlin 2010, ISBN 978-3-8031-3633-6, Stadtbaukunst der Beaux-Arts, S. 68–89.