Sven Schütte
Sven Schütte (* 1953) ist ein deutscher Mittelalterarchäologe, Bau- und Kunsthistoriker sowie Archäologiedirektor a. D. der Stadt Köln.
Leben
Bereits als Schüler arbeitete Schütte seit 1969 am Niedersächsischen Landesmuseum Hannover und seit 1972 in der ehrenamtlichen Bodendenkmalpflege. Er war 1974 der erfolgreichste Teilnehmer des Wettbewerbs Jugend forscht als Bundessieger Geo- und Raumwissenschaft und mit dem Sonderpreis der Deutschen Forschungsgemeinschaft für eine interdisziplinäre Forschungsarbeit. Er studierte als Gasthörer vor dem Abitur seit 1972 in Hannover bei Klaus Raddatz und danach von 1974 bis 1979 Ur- und Frühgeschichte, Klassische Archäologie, Ethnologie und Bodenkunde an der Universität Göttingen. Seit 1973 publizierte Schütte, unter anderem in den Nachrichten aus Niedersachsens Urgeschichte. 1979 erwarb er den M.A. und wurde zunächst wissenschaftlicher Mitarbeiter des Städtischen Museums Göttingen als Stadtarchäologe. Bereits seit 1975 führte er Ausgrabungen der Altstadt Göttingens durch.
Stadtarchäologie Göttingen
Nach dem Inkrafttreten des Niedersächsischen Denkmalschutzgesetzes wurde die Stadtarchäologie in Göttingen als Untere Denkmalschutzbehörde für Archäologie verselbständigt und erhielt 1985 ein eigenes Dienstgebäude. Schütte begründete damit die Göttinger Stadtarchäologie und war ab dem 1. April 1979 der erste Kommunalarchäologe in Niedersachsen. Er publizierte zahlreiche Aufsätze zur Göttinger Stadtarchäologie und zu Grabungen im Zusammenhang mit sowohl profanen als auch kirchlichen Bauten Göttingens. Schütte begann in der Stadt erstmals mit systematischen multidisziplinären Untersuchungen nach dem Vorbild der Schweizer „Monumentenarchäologie“, die nicht zwischen dem Untergrund und dem aufgehenden Bauwerk unterscheidet. Erste systematische dendrochronologische Untersuchungen an mittelalterlichen Häusern, dem Alten Rathaus und fast allen Göttinger Stadtkirchen, sind ihm zu verdanken. Methodisch legte er die Grundlagen einer verstetigten und systematischen Stadtforschung und initiierte erstmals eine flächendeckende Zusammenarbeit mit der Schriftquellenforschung. Schütte begründete die Schriftenreihe der heutigen „Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit“[1]. Er legte die Ergebnisse in über achtzig Einzelbeiträgen nieder.
1990 wurde er an der Universität Hamburg mit einer Arbeit zum mittelalterlichen Kunsthandwerk und zur Baugeschichte der Marktkirche St. Johannis bei Günter Fehring promoviert.
Amt für Archäologische Bodendenkmalpflege Köln
Im November 1991 wurde Schütte als Direktor am (damals noch eigenständigen) Amt für Archäologische Bodendenkmalpflege nach Köln berufen. Nach seinem Weggang aus Göttingen wurde seine Dienststelle der Unteren Denkmalschutzbehörde dem Bauamt der Stadt untergeordnet[2] und verlor ihre Bedeutung. Das Kölner Amt wurde nach Absetzung der Generaldirektorin Hiltrud Kier ab August 1994 Teil des Römisch-Germanischen Museums. Von 1996 bis 2003 war er am Kölnischen Stadtmuseum in der Abteilung für Sachkultur des Mittelalters tätig. Seit 1990 hatte er Lehraufträge an der Universität Göttingen und 35 Semester an der Universität Köln. Seit den 1990er Jahren veröffentlichte Schütte zahlreiche Beiträge zur Kölner Stadtgeschichte, oft in interdisziplinärer Zusammenarbeit mit Marianne Gechter. Weder wurde nach 1995 das von ihm begonnene Projekt eines historischen Kellerkatasters, noch die Schriftenreihe zur Kölner Bodendenkmalpflege (Archäologie in Köln) weitergeführt. Die Neuordnung des Archivs der Bodendenkmalpflege nach amtlichem Flurverzeichnis NRW wurde rückgängig gemacht.
Gleichwohl gelang es ihm und seinen Mitarbeitern zahlreiche wichtige Forschungen durchzuführen: Zur Stadttopographie seit den Anfängen mit einer Neudatierung von Teilen des sogenannten Ubiermonuments auf das Jahr der Varusschlacht 11 n. Chr.[3]; Klärung von Fragen zum Übergang zwischen Antike und Mittelalter; Untersuchungen an wichtigen frühen Kirchenbauten (z. B. St. Gereon, St. Kunibert, St. Pantaleon, St. Maria im Kapitol); zur mittelalterlichen Bautentopographie (Albansviertel, Lyskirchen); zu einem möglichen frühen Erdbeben in Köln[4]; zum römischen Abwassersystem und zur Forschungsgeschichte der Kölner Archäologie.
Von 1999 bis 2003 führte Schütte Forschungen am Thron Karls des Großen im Auftrag des Domkapitels in Aachen durch, zunächst im Rahmen des Ausstellungsprojekts „Könige in Aachen – Geschichte und Mythos, 2000“.[5]
Kontroverse um Ausgrabungen in Köln
Von 2006 bis 2013 war er Leiter des Projekts der Archäologischen Zone und des Jüdischen Museums in Köln. Schütte grub mit seinem Team von 2007 bis 2013 knapp 90 % des Jüdischen Viertels und Teile des Prätoriums aus. Es handelt sich um die einzige gründliche Untersuchung eines derartigen Stadtquartiers in Europa. Die spektakulären Ergebnisse konnte Schütte international in Publikationen und Vorträgen darstellen.[6] Ein besonderes Verdienst stellt die Untersuchung von rund 300.000 Schieferfragmenten dar[7], bei denen ein Bestand von fast 200 einzigartigen Texten und Bildern aus der Zeit vor 1349 zutage kam, darunter der bislang älteste deutsche literarische Text in Jiddischer Sprache.[8] An den Ausgrabungen – vor allem an deren Kosten – gab es in Köln vehemente Kritik, die unter anderem über die Kölner Lokalpresse ausgetragen wurde. Die Kampagne der Kritiker führte zu über 100 negativen Presseberichten innerhalb Kölns, während die überregionale Presse stets positiv berichtete.[9] Schütte setzte sich den Angriffen mehrfach mit juristischen Mitteln zur Wehr und wurde 2013 schließlich auf Betreiben des damaligen Oberbürgermeisters und des Landschaftsverbandes Rheinland von der Aufgabe der Projektleitung entbunden.[10] Auslöser war wiederum ein Zeitungsbericht in der renommierten israelischen Tageszeitung Haaretz, in der er den Gegnern der Ausgrabung „latenten Antisemitismus“ vorwarf,[11][12] was als „Schaden für das Ansehen Kölns“ bewertet wurde.[13] Ersatzweise wurde Schütte bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2019 mit der „wissenschaftlichen Ausarbeitung“ der archäologischen Funde rund um den U-Bahn-Bau am Kölner Heumarkt betraut.
2020 wurde Schütte in das Tutorialprogramm der Historians of Netherlandish Art aufgenommen.[14]
Ehrungen
- 1977 Bundessieger „Jugend forscht“ im Bereich Geo- und Raumwissenschaften und Sonderpreis der Deutschen Forschungsgemeinschaft für eine Interdisziplinäre Forschungsarbeit[15]
Schriften (Auswahl)
- Funde der Vorrömischen Eisenzeit und der Römischen Kaiserzeit aus Helstorf, Kreis Neustadt am Rübenberge. Nachrichten aus Niedersachsens Urgeschichte 42, 1973.
- mit Heinz Kirchhoff (Hrsg.): Muttergottheiten und Fruchtbarkeitsidole von der Steinzeit bis zur Gegenwart. Sammlung Heinz Kirchhoff. Eine Ausstellung der Universität und des Städtischen Museums Göttingen vom 3.12.1978–14.1.1979. Göttingen 1979.
- 5 Jahre Stadtarchäologie – Das neue Bild des alten Göttingen. Stadt Göttingen 1984 (Hrsg. Stadt Göttingen 1984).
- mit Klaus Grote: Stadt und Landkreis Göttingen. (= Führer zu archäologischen Denkmälern in Deutschland Band 17), Theiss, Stuttgart 1988. ISBN 978-3806205442.
- Handwerk in kirchlicher Abhängigkeit um 1300. Beiträge zur Baugeschichte, Archäologie und Kulturgeschichte einer Werkstatt auf der Pfarrparzelle und der zugehörigen Marktkirche St. Johannis in Göttingen. Dissertation, Hamburg 1990.
- mit Marianne Gechter: Ursprung und Voraussetzungen des Kölner Rathauses. Stadtspuren Bd. 26, Köln 2000, S. 69–195, ISBN 3-7616-1391-1.
- Die frühe Entwicklung der hochmittelalterlichen Gründungsstadt – Mythos und Erkenntnis. In: Die vermessene Stadt. Mittelalterliche Stadtplanung zwischen Mythos und Befund. Mitteilungsblatt der Dt. Gesellschaft f. Archäologie des Mittelalters 2003. ISSN 1619-1439.
- Forschungen zum Aachener Thron. In: Domkapitel Aachen (Hrsg.) Europäische Vereinigung der Dombaumeister: Dombaumeistertagung 2009 S. 177–190
- Peter Paul Rubens’ Die Madonna Moretus. Katalog Domschatzkammer Aachen 2000.
- mit Schreiber, S., Hinzen, K.-G., Reamer, S.K.: Interdisciplinary Studies in the Archaeological Zone Cologne (Germany). 31th ESC General Assembly, Hersonissos, Greece.
- Fouilles récentes dans le quartier juif médiéval de Cologne. In: P.Salmona, L.Segal (Hrsg.) L’archeologie du Judaisme en France et en Europe. 2011, S. 93–101, ISBN 978-2-7071-6694-4.
- mit Marianne Gechter (Hrsg.): Köln: Archäologische Zone/Jüdisches Museum. Von der Ausgrabung zum Museum – Kölner Archäologie zwischen Rathaus und Praetorium. Ergebnisse und Materialien 2006–2012. Stadt Köln, Archäologische Zone, Köln 2012. ISBN 978-3-9812541-1-2.
Weblinks
- Werke von Sven Schütte im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Eintrag Sven Schütte bei uk-online.
- Interview Sven Schüttes in der israelischen Zeitung Haaretz am 6. April 2013 (engl.)
Einzelnachweise
- Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit – Über die Zeitschrift auf uni-heidelberg.de
- Stadt Göttingen – Bürgerservice: Dienstleistungen, Archäologie auf goettingen.de
- Stadtspuren: Ursprung und Voraussetzungen des Kölner Rathauses. Stadtspuren Bd. 26, Köln 2000, S. 69–195, ISBN 3-7616-1391-1.
- Schreiber, S., Hinzen, K.G., Fleischer, C., Schütte, S. (2012): Excavation parallel laser scanning of a Medieval cesspit in the archaeological zone cologne, Germany. Journal of Computing and Cultural Heritage; und differenzierend: Hinzen, KG., Schreiber, S., Fleischer, C. et al.: Archeoseismic study of damage in Roman and Medieval structures in the center of Cologne, Germany. J. Seismol 17, S. 399–424 (2013). https://doi.org/10.1007/s10950-012-9327-2
- Mario Kramp (Hrsg.): Krönungen. Könige in Aachen – Geschichte und Mythos. 2 Bände. Eine Ausstellung des Vereins Aachener Krönungsgeschichte e. V. in Zusammenarbeit mit der Stadt Aachen, dem Domkapitel Aachen und der RWTH-Aachen. Im Krönungssaal des Aachener Rathauses, in der Domschatzkammer und im Aachener Dom vom 11.6.-3.10. 2000 aus Anlass der 1200-Jahrfeier der Krönung Karls des Großen.
- Alex Weisler: German city banks future on unearthing Jewish past, In: The Jerusalem Post, 8. August 2011 (englisch)
- Mittelalterliche Schiefertafeln aus Köln auf uni-frankfurt.de
- Erika Timm: Ein neu entdeckter literarischer Text in hebräischen Lettern aus der Zeit vor 1349. Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur, Bd. 142, H. 4 (2013), S. 417–443.
- Dieter Bartetzko: Wann, wenn nicht jetzt, wer, wenn nicht ihr? Auf: faz.net vom 20. August 2012
- Presseerklärung der Stadt Köln vom 10. April 2013 zur Abberufung Dr. Sven Schüttes vom Posten der Leitung der Archäologischen Zone und Einleitung eines Disziplinarverfahrens, abgerufen am 23. Februar 2017.
- Oberbürgermeister entlässt Projektleiter der Archäologischen Zone wegen Kritik an Grabungsgegnern. Auf: juedische-allgemeine.de vom 16. April 2013.
- Archeological Dig in Cologne Unearths Ancient Jewish History – and Exposes Layers of Prejudice. Auf: haaretz.com vom 6. April 2013.
- Archäologische Zone: Sven Schütte soll versetzt werden. Auf: ksta.de vom 10. April 2013.
- Historians of Netherlandish Art (Website)/
- https://www.jugend-forscht.de/projektdatenbank/untersuchung-organischer-reste-und-anthropogener-taetigkeitsspuren-als-archaeologische-quellen.html