Susanne Wiest
Susanne Wiest (* 16. Januar 1967 in Dillingen an der Donau) ist eine deutsche Aktivistin für das bedingungslose Grundeinkommen. Von März bis Dezember 2017 war sie Bundesvorsitzende der Partei Bündnis Grundeinkommen (BGE).
Leben und Wirken
Susanne Wiests Vater ist Arzt, ihre Mutter Lehrerin. Sie wuchs in München auf und ging nach dem Abitur nach West-Berlin. Zwölf Jahre lebte sie in einem renovierten Zirkuswagen, mal in Berlin oder anderen Städten, mal auf dem Land, und bekam in dieser Zeit vier Kinder. Zwei ihrer Kinder starben. Seit 1998 arbeitete sie hauptberuflich als Tagesmutter, zunächst in einer Wohnung in Greifswald, dann baute sie ein Haus in Siedenbüssow aus, einem Dorf mit fünfzig Einwohnern bei Greifswald in Vorpommern, in dem sie mit einer Freundin einen Kinderladen einrichtete. Als 2008 die Besteuerung für Tagesmütter geändert wurde, die ihr Einkommen verringern würde, trug sie ihr Anliegen Erwin Sellering vor, der damals Landtagsabgeordneter war, und schrieb an die Familienministerin Ursula von der Leyen. Da sie keine befriedigenden Antworten erhielt, reichte sie eine Petition beim Bundestag ein. Zu ihrer Forderung (Änderung der Besteuerung der Tätigkeit von Tagespflegepersonen) lag bereits eine ältere Petition vor, mit der sie gemeinsam beraten wurde. Die Petitionen wurden abgeschlossen, da dem Anliegen – soweit die Abschaffung einer bestehenden Ungleichbehandlung betroffen ist – teilweise entsprochen wurde. Wegen der schwierigen wirtschaftlichen Lage in Vorpommern begann sie sich für die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens zu interessieren.[1][2][3][4]
Bekanntheit erlangte Susanne Wiest, „bisher politisch unauffällige Tagesmutter“,[5] als sie 2008 eine Petition für die Einführung des bedingungslosen Grundeinkommens in Höhe von 1500 Euro für Erwachsene und 1000 Euro für Kinder[6] bei gleichzeitiger Einstellung von Transferleistungen und Subventionen formulierte und beim Deutschen Bundestag einreichte. Ihre Motivation beschrieb sie folgendermaßen:
„Um nun allen Bürgern ein würdevolles Leben zu gewährleisten, erscheint mir die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens ein guter Lösungsweg.“
Zwei Tage vor Silvester 2008/2009 wurde die Petition vom Petitionsausschuss des Deutschen Bundestags akzeptiert und ins Internet gestellt. Wiest stieß damit eine öffentliche Diskussion an.[3] Die Petition wurde von 52.973 Befürwortern mitgezeichnet.[8] Dabei brach zum ersten Mal seit Einführung der Online-Petition im Jahr 2009 der Server des Bundestags zusammen. Deshalb wurde die Abstimmungsfrist um eine Woche verlängert.[9][4] Die Welt schrieb: „die Idee [wird] zu einer wahren Bürgerbewegung – und Wiest zum Kopf der Szene.“[10] Zum Thema Panik um den Job: Muss der Staat uns alle retten? war sie im März 2009 Gast in der Sendung Menschen bei Maischberger.[11]
Bei mehr als 50.000 Unterschriften muss der Petitionsausschuss den Hauptpetenten persönlich anhören. Die Anhörung fand am Montag, den 8. November 2010, statt.[12][13] Der Zulauf bei der Anhörung in Berlin war so groß, dass man in einen größeren Saal umziehen musste. Die Anhörung wurde im Parlamentsfernsehen übertragen. Im Petitionsausschuss erklärte der Parlamentarische Staatssekretär im Arbeitsministerium, Ralf Brauksiepe, dass die Bundesregierung ein Grundeinkommen ablehnt,[4] da sie die damit verbundene „völlige Umstrukturierung des Steuer-, Transfer- und Sozialversicherungssystems“ für falsch halte.[14] Susanne Wiest kämpfte „unverdrossen weiter für das Grundeinkommen“.[4] Der Vorgang wurde erst 2013 abgeschlossen mit der Empfehlung des Petitionsausschusses an den Bundestag, die Petition abzulehnen.[15]
Im Online-Dialog mit Angela Merkel vom 1. Februar bis 15. April 2012 über die „drei Leitfragen des Zukunftsdialogs“ gehörte Susanne Wiests Beitrag Sichere finanzielle Grundlage für jede(n) – bedingungsloses Grundeinkommen zu den zehn am besten bewerteten Vorschlägen.[16]
Zur Bundestagswahl 2009 trat Susanne Wiest als parteilose Einzelbewerberin im Bundestagswahlkreis Greifswald – Demmin – Ostvorpommern an und erreichte dort 1,2 Prozent der Erststimmen. Bei der Bundestagswahl 2013 war sie Spitzenkandidatin des Landesverbands Mecklenburg-Vorpommern der Piratenpartei.[17] Bei der Bundestagswahl 2017 war sie Spitzenkandidatin der Landesliste der Partei Bündnis Grundeinkommen in Mecklenburg-Vorpommern.[18] Von März bis Dezember 2017 war Susanne Wiest Vorsitzende der Partei Bündnis Grundeinkommen.[19] Am 14. März 2020 während der Corona-Pandemie initiierte Susanne Wiest eine erneute Petition an den Bundestag für ein BGE, die Ende März innerhalb weniger Tage das Quorum (50.000 Mitunterzeichnende) erreichte und mit 176.314 Unterzeichnern bis zum Ablauf Ende April einen neuen Rekord für Online-Bundestagspetitionen aufstellte.[20] Diese Bundestagspetition wurde am 26. Oktober 2020 im Petitionsausschuss des Deutschen Bundestags behandelt; aus Sicht der Bundesregierung ist das bedingungslose Grundeinkommen nicht geeignet, um eventuelle Lücken bei den Corona-Hilfen zu stopfen, zudem sei davon auszugehen, dass Gewährung eines bedingungslosen Grundeinkommens die Erwerbstätigkeit zurückgehen werde.[21]
Literatur
- Sascha Liebermann: „Uninspiriert, mutlos, seltsam.“ Petition von Susanne Wiest nach viereinhalb Jahren abgeschlossen. In: ders.: Aus dem Geist der Demokratie. Bedingungsloses Grundeinkommen. Humanities Online, Frankfurt a. M. 2015, ISBN 978-3-941743-47-2, S. 39–46.
- Sebastian Balzter: Ich kandidiere! Susanne Wiest zieht für die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens in den Wahlkampf. In: F.A.S. Nr. 34, 27. August 2017, S. 26.
Weblinks
- Webseite von Susanne Wiest
- Petition: Reformvorschläge in der Sozialversicherung – Bedingungsloses Grundeinkommen
- 1. öffentliche Vorstellung der Petition am 29. Januar 2009, Hannover
- Video der Anhörung am 8. November 2010
- Susanne Wiest in der Internet Movie Database (englisch)
- Susanne Wiest: Darum gibt es zum Bedingungslosen Grundeinkommen keine Alternative. Vorwärts, 12. Mai 2016
Einzelnachweise
- Sven Siebert: Ich verlange 1.500 Euro für jeden. In: Sächsische Zeitung, 9. November 2010
- Susanne Wiest. In: Badische Zeitung, 20. Oktober 2012
- Waltraud Schwab: Petentin Susanne Wiest. "Probiert doch mal das". In: Taz, 10. Februar 2009
- Die Politik einer Parteienskeptikerin. In: FAZ, 7. Dezember 2010
- Götz Werner, Adrienne Goehler: 1.000 Euro für jeden. Freiheit, Gleichheit, Grundeinkommen, Econ Verlag, Berlin 2010, ISBN 978-3-430-20108-7, S. 35
- Sascha Liebermann: Germany: Far, though Close – Problems and Prospects of BI in Germany. In: Caputo (Hrsg.): Basic Income Guarantee and Politics. International Experiences and Perspectives on the Viability of Income Guarantee, Palgrave Macmillan US 2012, ISBN 978-1-137-04530-0, S. 88
- Zitiert von Markus Rhomberg, Stepanie Stegerer: „Raum freier Entfaltung“ oder „Arbeit für Andere“? Diskursanalyse der Öffentlichen Anhörung im Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages zum „Bedingungslosen Grundeinkommen“. In: Götz W. Werner et al. (Hrsg.): Das Grundeinkommen. Würdigung – Wertungen – Wege, KIT Scientific Publishing, Karlsruhe 2012, ISBN 978-3-86644-873-5, S. 156, PDF; 6 MB
- Deutscher Bundestag: Reformvorschläge in der Sozialversicherung – Bedingungsloses Grundeinkommen vom 10. Dezember 2008. Abgerufen am 28. Juni 2020
- Wikinews: Petition für Grundeinkommen legt Bundestagsserver lahm
- Wie Politikdebütantin Susanne Wiest Feuer fing. In: Die Welt, 22. September 2009
- Daniel Borchard: Menschen bei Maischberger. „Herr Clement, schämen Sie sich nicht?“ In: Handelsblatt, 11. März 2009
- Taz, 26. Oktober 2010
- Ulrike Herrmann: Grundeinkommen im Bundestag. Ende einer Petition. In: Taz, 7. November 2010
- "Problematische Auswirkungen auf Arbeitsanreize". Deutscher Bundestag, 2010
- Sascha Liebermann, s. Literatur
- Angela Merkel (Hrsg.): Dialog über Deutschlands Zukunft, Murmann, Hamburg 2012, ISBN 978-3-86774-187-3, Der Online-Dialog, S. 232–236
- Landesliste zur Bundestagswahl aufgestellt – Piratenpartei Mecklenburg-Vorpommern
- Bündnis Grundeinkommen - Mecklenburg-Vorpommern: Landesverband/Landesliste – Der Landesverband Bündnis Grundeinkommen, Mecklenburg-Vorpommern, ist gegründet. In: mv.buendnis-grundeinkommen.de. Abgerufen am 26. Februar 2017.
- Vorstand. In: buendnis-grundeinkommen.de, abgerufen am 17. Januar 2018.
- Einführung eines Bedingungslosen Grundeinkommens vom 14.03.2020, epetitionen.bundestag.de, abgerufen am 8. April 2020.
- Ab 12 Uhr wird über die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen beraten., abgerufen am 20. Oktober 2020.