Kinderladen
Ein Kinderladen ist ein selbstverwalteter („alternativer“) Kindergarten, zumeist von freien Trägervereinen (oft Elterninitiativen) getragen, in denen Kinder im Vorschulalter betreut werden. Durchschnittlich werden 15 bis 19 Kinder je Kinderladen betreut. Vor allem in der Anfangszeit der Kinderläden, in den 1960er und frühen 70er Jahren, wurden ehemalige Ladenräume genutzt, weil durch das Aufkommen von Supermärkten viele kleinere Geschäfte schließen mussten und daher Ladenlokale günstig zu mieten waren, deshalb die Bezeichnung Kinderladen.[1] Ähnliche Projekte, die vor allem Schulkinder als Zielgruppe haben, werden Schülerladen genannt. Auch manche Kinder- und Jugendfreizeiteinrichtungen nennen sich Kinderladen.
Geschichte
Der erste Kinderladen war die 1967 von Monika Seifert[2] in Frankfurt-Eschersheim gegründete Freie Kinderschule, aus der später auch die beiden ersten Alternativschulen der Bundesrepublik hervorgingen: die Glockseeschule Hannover und die Freie Schule Frankfurt (in der die Kinderschule aufging). Die Kinderladenbewegung und die öffentliche Diskussion um die in den Kinderläden praktizierte antiautoritäre Erziehung begannen jedoch erst 1968 mit der Gründung von Kinderläden in (insbesondere) Berlin[3], Stuttgart und Hamburg. Die Gründung der Kinderläden in Berlin fand zunächst im studentischen Milieu des SDS und der Sponti-Bewegung statt und wurde organisiert vom Aktionsrat zur Befreiung der Frau, welcher gleichzeitig die zweite deutsche Frauenbewegung einleitete. Dabei verstand sich die Kinderladen-Bewegung als Teil einer gesamtgesellschaftlichen Protestbewegung gegen die bestehenden Verhältnisse.[4]
Auch heute noch sind Kinderläden eine Alternative zu städtischen und kirchlichen Einrichtungen, obwohl sie heute meist nicht „Kinderladen“ genannt werden (eher: Elterninitiative). – „Der erste Kinderladen in Berlin wurde übrigens von zwei Männern (Lothar Binger und Peter Umbsen) in der Kopfstrasse (sic!) in Berlin-Neukölln realisiert.“[5]
Auch in der DDR gab es zu Beginn der 1980er Jahre einen freien, nichtstaatlichen Kinderladen im Ostberliner Stadtteil Prenzlauer Berg, welcher nach der Schließung durch die Stasi (nach der Zwangsräumung wurde der Eingang zugemauert) noch ein viertel Jahr in wechselnden Privatwohnungen organisiert wurde, unter anderem auch kurz in der Wohnung von Christa Wolf. Ulrike Poppe war eine Initiatorin und bekam eine Gefängnisstrafe. Der Kinderladen war eine Elterninitiative, die Betreuer kamen allerdings immer von außen. Inspiration für den Kinderladen war das Buch Zeit für Kinder von Ekkehard von Braunmühl. Ein Bild des Kinderladens hängt im Stasi-Museum in Berlin-Lichtenberg.[6]
Pädagogik und organisatorische Verantwortung
Kinder werden hier in kleineren Gruppen betreut und die Anzahl der Erzieher und der Personalschlüssel sind in der Regel wesentlich höher als in anderen Einrichtungen, was einen intensiveren pädagogischen Kontakt zum Kind ermöglicht.
Die Vereine organisieren die Arbeit des Kinderladens. Auch wenn die Vereine weitestgehend in Eigenregie arbeiten, die Fachaufsicht über einen Kinderladen liegt, wie auch bei anderen Kindergärten freier Träger, beim Jugendamt. Wenige Kinderläden werden von einer einzigen Person geleitet, die meisten Kinderläden führt eine Teamleitung, die aus den Erziehern des Kinderladens besteht, oder dem Vorstand der Elterninitiative. In den 1970er Jahren förderte zum Beispiel der Senat von Berlin viele seiner etwa 270 Kinderläden oft als sog. „EI-Kita“, als Elterninitiativ-Kindertagesstätte (Elterninitiative).
Für die Bereiche Kochen, Putzen und Krankheitsvertretung werden eine Vielzahl unterschiedlicher Gestaltungsmöglichkeiten praktiziert.
Das Engagement aller Beteiligten ist an die Möglichkeit gebunden, in den kleinen Kinderläden eine individuellere Betreuung der Kinder gewährleisten zu können, als dies in großen Einrichtungen der Fall ist.
Literatur
- Autorenkollektiv Lankwitz u. a., Kinderläden – Revolution der Erziehung oder Erziehung zur Revolution?, Reinbek: Rowohlt 1971. ISBN 3-499-11340-6.
- Autorenkollektiv am Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin: Sozialistische Projektarbeit im Berliner Schülerladen Rote Freiheit. Analysen, Protokolle, Dokumente Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main 1971. ISBN 3-436-01356-0.
- Autorenkollektiv Berliner Kinderläden: Berliner Kinderläden. Antiautoritäre Erziehung und sozialistischer Kampf. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1970, 1982, DNB 456081313 / ISBN 3-462-00776-9.
- Gerhard Bott (Hrsg.): Erziehung zum Ungehorsam. Kinderläden berichten aus der Praxis der antiautoritären Erziehung.Frankfurt: März Verlag 11970 31971 (Kinderladen Stuttgart; Kinderschule Frankfurt; Sozialistischer Kinderladen Berlin Kreuzberg).
Bott hat 1969 für das NDR-Fernsehen den gleichnamigen 50-Minuten-Film über antiautoritäre Kinderläden (Erstsendung am 1. Dezember 1969 um 22:00) gedreht. Eine auf 30 min. gekürzte Fassung (FWU; 16 mm) wird von Stadt- oder Landesbildstellen verliehen.[7] Im Film „Die müssen doch irgendetwas an sich haben: antiautoritäre Erziehung und ihre Folgen.“ zeigt Bott später, was aus den im ersten Film gezeigten Kinderladen-Kindern im Jugendalter wurde. Im Film „Terror aus dem Kinderladen“ werden Kinder der ersten Klasse (a) aus einem gängigen Kindergarten und (b) aus einem Kinderladen zusammen gezeigt: das Zusammenleben und das unterschiedliche Verhalten beider Kindergruppen. Diese Grundschulklasse gab es in Frankfurt am Main.) - Kommune 2: Kindererziehung in der Kommune. In: Kursbuch 17. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1969.
- Till van Rahden, Eine Welt ohne Familie: Über Kinderläden und andere demokratische Heilsversprechen, in: WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung 14 (2017), Heft 2, S. 3–26. ISBN 978-3-593-43701-9.
- Lutz von Werder: Von der antiautoritären zur proletarischen Erziehung. Ein Bericht aus der Praxis. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch 1972. ISBN 3-436-01521-0. (Die Geschichte des Westberliner Roten Kollektivs proletarische Erziehung („Rotkol“)).
- Lutz von Werder: Was kommt nach den Kinderläden? Erlebnis-Protokolle. Berlin: Wagenbach 1977. ISBN 3-8031-1075-0.
- Lutz von Werder: Kinderläden. Versuch der Umwälzung der inneren Natur, in: Eckhard Siepmann; Irene Lusk (Red.): The Roaring Sixties. Aufbruch in eine neue Zeit, Amsterdam 1991, S. 160–168.
- Meike Sophia Baader: Seid realistisch, verlangt das Unmögliche – Wie 1968 die Pädagogik bewegte Beltz Verlag, Weinheim, Basel 2008. ISBN 978-3-407-85872-6.
- Wilma Aden-Grossmann: Monika Seifert – Pädagogin der antiautoritären Erziehung. Frankfurt am Main: Brandes & Apsel 2014. ISBN 978-3-95558-056-8.
- Beate Ronneburger: Der Geschlechteraspekt in der Kinderladenbewegung. Erziehung in Westberliner Kinderläden (1968–1977). Beltz Juventa, Weinheim 2019. ISBN 978-3-7799-3812-5.
- Werner Thole, Leonie Wagner, Dirk Stederoth (Hrsg.): ‚Der lange Sommer der Revolte‘. Soziale Arbeit und Pädagogik in den frühen 1970er Jahren. Springer VS, Wiesbaden 2020, ISBN 978-3-658-28178-6.
Quellen
- Matthias Hofmann: Geschichte und Gegenwart Freier Alternativschulen. Eine Einführung. Mit einem Vorwort von Christian Füller und einem Nachwort von Dr. Klaus Amann. 2. Auflage. Klemm + Oelschläger, 2013, ISBN 978-3-86281-057-4, Kapitel 5.1 Antiautoritäre und sozialistische Kinderläden, S. 113–116.
- Monika Seifert, Mutter der antiautoritären Kinderläden
- Kinderläden und antiautoritäre Erziehung
- Die besseren Eltern?! oder Die Entdeckung der Kinderläden Karen Silvester, Dissertation 2009.
- Reinhart Wolff: Kinder, Kindheit, Kinderschutz. Die 1968er Jahre als Krise und Konflikt mit Chancen und Risiken. In: Sozial Extra 3/2018, 42. Jg. (VS Verlag, Springer Fachmedien DE, Wiesbaden), S. 25–28: 27.
- Matthias Hofmann: Geschichte und Gegenwart Freier Alternativschulen. Eine Einführung. Mit einem Vorwort von Christian Füller und einem Nachwort von Dr. Klaus Amann. 2. Auflage. Klemm + Oelschläger, Ulm 2013, ISBN 978-3-86281-057-4, Kapitel 5.4 Ansätze alternativer Pädagogik in der DDR – ein Gespräch mit Ulli Sachse, S. 126–130.
- Katalog des AV Medienzentrum der Stadt Mainz, Peterstr. 3, 55116 Mainz.