Schaulustiger
Schaulustige sind Zuschauer, die ein spektakuläres Ereignis beobachten. Bei Unglücken wie Unfällen, Naturkatastrophen oder Gewalttaten werden sie auch abwertend als Gaffer bezeichnet, insbesondere wenn sie Rettungsarbeiten oder den Verkehr behindern. Ebenfalls abwertend verwendet wird der Begriff Voyeurismus, der das Verhalten in Verbindung zu sexuellen Trieben bringt. Bei geplanten Ereignissen wie Gebäudesprengungen, Schwertransporten oder an Flughäfen und Seehäfen gibt es ebenfalls Schaulustige. Hier ist der Begriff nicht negativ, oder es wird stattdessen von Zuschauern gesprochen.
Das Phänomen des Reiseverkehrs von Schaulustigen zum Ereignisort wird als Katastrophentourismus bezeichnet.
Hintergrund
Psychologen sehen in der Schaulust eine Mischung aus Neugier und Informationsinteresse. Hintergrund ist möglicherweise auch das Bedürfnis, „sich der eigenen Unversehrtheit zu versichern, indem man das Leid anderer miterlebt“.[1] Ähnlich bereits Lukrez (94 v. Chr. bis 53 v. Chr.):
„Wonnevoll ist’s bei wogender See, wenn der Sturm die Gewässer
Aufwühlt, ruhig vom Lande zu sehn, wie ein andrer sich abmüht,
nicht als ob es uns freute, wenn jemand Leiden erduldet,
Sondern aus Wonnegefühl, dass man selber vom Leiden befreit ist.“[2]
Soziologische Untersuchungen sprechen von „natürlicher“ Schaulust, von der rund 90 % aller Menschen betroffen sind.[3] Die Funktion der Schaulust wird von Soziologen auch als „Erlernen des Umgangs mit dem Unerträglichen“[4] beschrieben. Psychologen erkennen in der Mimik des Gaffers körperliche Merkmale von Angst oder Stress.[5]
Probleme
Schaulustige sind häufig dem Vorwurf ausgesetzt, Hilfeleistungen zu verweigern. Eine Passivität von Schaulustigen kann durch die Verantwortungsdiffusion des sogenannten Zuschauereffekts unterstützt werden. Untersuchungen zeigen, dass die Hilfsbereitschaft von Schaulustigen zunimmt, je klarer sie eine Notlage erkennen.[6][7] Beklagt wird außerdem, dass Schaulustige Rettungsarbeiten (etwa durch Blockierung von Anfahrtswegen, siehe Rettungsgasse) behindern und sich selbst gefährden, oder auch ein allgemein demotivierender Einfluss auf die Einsatzkräfte.[8] Andere sehen weniger das Problem der Behinderung der Einsatzkräfte als dasjenige, dass von Schaulustigen Film- und Fotoaufnahmen gemacht werden, um diese anschließend in das Internet zu stellen oder zu verkaufen.[7] An Tatorten kann das Problem entstehen, dass durch Schaulustige Spuren verwischt werden.[9] Das Phänomen der Schaulust ist oft Ursache für Staus auf Autobahnen nach einem Unfall oder für Folgeunfälle auch auf der Gegenfahrbahn.[10]
Nach deutschen Polizeiangaben ist das Anfeuern durch Zurufe von Schaulustigen bei Suizidhandlungen nicht strafbar.[11]
Rolle der Medien
Ein Grund für eine zunehmende Anzahl von Schaulustigen wird auch in der Berichterstattung der Medien über spektakuläre Ereignisse gesehen.[3] Durch die Aktion der Bild-Zeitung, mit der Leser aufgerufen werden, Fotos gegen Honorar zur Veröffentlichung einzusenden, aber auch mit der zunehmend bedeutender gewordenen Nachrichtenfunktion der Sozialen Medien, verschwimmt die Abgrenzungsmöglichkeit zwischen Schaulustigen und Journalisten/Berichterstattern.[12] Die Medien bedienen die Schaulust ihrer Leser bzw. Zuschauer und sind damit selbst Beteiligte an den durch Schaulustige entstehenden Problemen. Kritisch gesehen werden daher auch Medienberichte, in denen Schaulustige als „Gaffer“ abgewertet werden.[13]
Wissenschaftliche Untersuchungen
Eine Untersuchung der Bundesanstalt für Straßenwesen aus dem Jahr 1989 ergab, dass damals bei einem Verkehrsunfall im Durchschnitt zwischen 16 und 26 Schaulustige anwesend waren.[14]
Sonstiges
Österreichische Kriminalisten empfehlen für das Aufklären von Straftaten das Fotografieren bzw. die Personalienfeststellung von Schaulustigen, da sich regelmäßig Täter (z. B. Brandstifter) unter die Schaulustigen mischen.[15] Im Mai 2018 wurde vom Innenministerium eine Gesetzesvorlage zur Begutachtung geschickt, nach denen Unfallvoyeure mit bis zu 500 Euro bestraft werden können.[16]
Rechtsrahmen in Deutschland
Schaulustige stellen oft eine Störquelle für Rettungs- und Hilfsdienste dar. In besonders schweren Fällen gibt es auch die Möglichkeit, Platzverweise auszusprechen. So sieht etwa § 24 Bayerisches Feuerwehrgesetz vor:
Soweit Polizei nicht zur Verfügung steht, können Führungsdienstgrade der Feuerwehr oder von ihnen im Einzelfall beauftragte Mannschaftsdienstgrade das Betreten der Schadensstelle und ihrer Umgebung verbieten oder Personen von dort verweisen und die Schadensstelle und den Einsatzraum der Feuerwehr sperren, wenn sonst der Einsatz behindert würde. Unmittelbarer Zwang durch körperliche Gewalt und deren Hilfsmittel darf entsprechend den Art. 58, 61 Abs. 1, 2 und 3, Art. 64 Abs. 1 Sätze 1 und 2 sowie Abs. 3 Sätze 1 und 3 des Polizeiaufgabengesetzes angewendet werden.[17]
In NRW darf laut § 34 Abs. 2 des Gesetzes über den Brandschutz, die Hilfeleistung und den Katastrophenschutz (BHKG) der Einsatzleiter Personen verweisen (oder seine Kollegen dazu anweisen):
[…] Soweit dies zur Abwehr von Gefahren nach § 1 Absatz 1 erforderlich ist, kann die Einsatzleitung insbesondere das Betreten des Einsatzgebietes oder einzelner Einsatzbereiche verbieten, Personen von dort verweisen, das Einsatzgebiet oder einzelne Einsatzbereiche sperren und räumen lassen.[18]
Sollte die Einsatzleitung hierzu nicht in der Lage sein, kann sie gem. § 34 Abs. 5 BHKG NRW andere Einsatzkräfte damit beauftragen.
Unter gewissen Voraussetzungen kann das Gaffen als Ordnungswidrigkeit gewertet werden. Laut § 113 des Ordnungswidrigkeitengesetzes handeln Personen ordnungswidrig, wenn sie eine Ansammlung bilden oder sich einer solchen anschließen und sich der mehrmaligen Aufforderung durch die Polizei oder andere Einsatzkräfte, sich zu entfernen, widersetzen. Wer Teil einer solchen unerlaubten Ansammlung ist, muss mit einer Geldbuße von bis zu 1.000 Euro rechnen.[19]
Verboten ist zusätzlich das Anfertigen von Fotos oder Videos von Unfallopfern. Gesetzliche Grundlage dafür ist § 201a StGB. Laut diesem dürfen keine Bildaufnahmen hergestellt oder übertragen werden, welche die Hilflosigkeit einer Person zur Schau stellen und den höchstpersönlichen Lebensbereich des Betroffenen verletzen.[20] Seit Juli 2020 gilt dies auch für Bildaufnahmen von verstorbenen Personen. Das Strafgesetzbuch sieht eine Geldstrafe oder eine Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren vor.
Literatur
- Ulrich von Hintzenstern (Hrsg.): Notarzt-Leitfaden. 5. Auflage. Elsevier, Urban & Fischer, München 2007, ISBN 978-3-437-22462-1, S. 93, 807.
- Dieter Kugelmann: Polizei- und Ordnungsrecht. Springer, Berlin 2006 (= Springer-Lehrbuch), ISBN 3-540-29897-5, S. 22.
- Arnd T. May, Reinhold Mann: Soziale Kompetenz im Notfall. Praxisanleitung nicht nur für den Rettungsdienst – ein Unterrichtskonzept. 2., überarb. und erw. Auflage. Lit Verlag, Münster 2005, ISBN 3-8258-6034-5, S. 108ff.
- Manfred Tücke: Grundlagen der Psychologie für (zukünftige) Lehrer. Lit Verlag, Münster 2003 (= Osnabrücker Schriften zur Psychologie; Band 8), ISBN 3-8258-7190-8, S. 413 ff.
- Jürgen Bengel (Hrsg.): Psychologie in Notfallmedizin und Rettungsdienst. Springer-Verlag, 2013, ISBN 978-3-540-61909-3, Kapitel 15: Umgang mit Zuschauern
- Uwe Scheffler: Zur Strafbarkeit von „Gaffern“. In: Neue Juristische Wochenschrift, 1995 Heft 4, S. 232 ff. rewi.europa-uni.de (PDF; 35 kB)
Weblinks
- Mitteldeutscher Rundfunk: Anti-Gaffer-Video wird Internet-Hit. ARD Mediatek, 8. Januar 2018, abgerufen am 13. Januar 2018.
- Süddeutsche Zeitung: Schocktherapie für Gaffer, abgerufen am 15. Juli 2019.
- ADAC Motorwelt: Anti-Gaffer-Film ist der Internet-Hit, abgerufen am 15. Juli 2019.
- W&V: Kampagne gegen Gaffer wird zum Viralhit, abgerufen am 15. Juli 2019.
Einzelnachweise
- Lexikon der Psychologie. spektrum.de; abgerufen am 16. Juni 2016
- Lukrez, De rerum natura / Von der Natur der Dinge. 2. Buch Vers 1-4. Übersetzt von H. Diels in Christoph König: Die Lebensfahrt auf dem Meer der Welt: der Topos. Texte und Interpretation. Königshausen & Neumann 2000, ISBN 978-3-8260-1901-2, S. 27
- Lust beim Stieren. In: Der Spiegel. Nr. 13, 1998 (online).
- Alexander Grau: Schrecken, Sensation und Schaulust. (PDF; 109 kB) S. 16; abgerufen am 13. Juli 2016
- Michael Argyle: Körpersprache & Kommunikation: Nonverbaler Ausdruck und soziale Interaktion. 2013, S. 55 ff.
- Not macht Gaffer zu Rettern. 7. Dezember 2005, abgerufen am 8. September 2019. - Bericht über eine Studie von Peter Fischer, LMU München, in Bild der Wissenschaft vom 7. Dezember 2005
- Schaulust am Leid der anderen. Gelnhäuser Tageblatt, Interview mit dem Sprecher des Polizeipräsidiums Südosthessen; abgerufen am 29. Juni 2016
- Umgang mit Schaulustigen bei Einsätzen. (Memento vom 19. Juni 2016 im Internet Archive) (PDF) abgerufen am 19. Juni 2016
- Kriminalistik/Kriminaltechnik: Kriminalistische Tatortarbeit. (PDF; 173 kB) S. 4; abgerufen am 20. Juni 2016
- Shame on you – Polizei geht verstärkt gegen Gaffer vor. Abgerufen am 6. August 2019 (deutsch).
- Schaulustige feuern Suizidgefährdeten an. Spiegel Online, 1. Juli 2017; abgerufen am 2. Juli 2017
- Werden auch SIE zum Leser-Reporter! Bild.de, abgerufen am 2. Juli 2016 (Anwerbung von Leserreportern).
- „Gaffer“ sind die besseren Menschen – Betrachtungen zur Begrifflichkeit von „Gaffen“ vs. Schaulust und deren Verwendung in den Medien; abgerufen am 15. Juni 2016
- Alexander Grau: Schrecken, Sensation und Schaulust. (PDF; 109 kB) S. 14; abgerufen am 13. Juli 2016
- Serienbrandstiftungen. (PDF) In: Zeitschrift für Polizeiwissenschaft und polizeiliche Praxis, S. 86; abgerufen am 20. Juni 2016
- „Unfallvoyeure“: Gesetz sieht Strafe von bis zu 500 Euro vor. ORF, 10. Mai 2018; abgerufen am 10. Mai 2018
- Bayerisches Feuerwehrgesetz (BayFwG) – Gesetzestext; abgerufen am 28. August 2018
- § 34 BHKG NRW, Befugnisse der Einsatzleitung – Gesetzestext; abgerufen am 3. Januar 2019
- § 113 OWiG - Einzelnorm. Abgerufen am 30. August 2021.
- § 201a StGB - Einzelnorm. Abgerufen am 30. August 2021.