Richtlinienkompetenz
Die Richtlinienkompetenz ist die Zuständigkeit, Richtlinien der (Regierungs-)Politik verbindlich vorzugeben.
Deutschland
Bundeskanzler
Der deutsche Bundeskanzler verfügt gegenüber den anderen Regierungsmitgliedern über die Richtlinienkompetenz.
Grundgesetz Art. 65
Die Richtlinienkompetenz, umgangssprachlich auch „Kanzlerprinzip“, des Bundeskanzlers ist in Art. 65 S. 1 des Grundgesetzes (GG) geregelt. Sie stärkt die Stellung des Bundeskanzlers im politischen System der Bundesrepublik. Eine fast gleichlautende Vorschrift enthielt bereits Art. 56 S. 1 der Weimarer Reichsverfassung.
Richtlinien bedeuten in diesem Zusammenhang Grundlinien der Regierungspolitik, also die allgemeine politische Ausrichtung, nicht dagegen jedes Detail der Regierungspolitik, da nach Art. 65 S. 2 GG jeder Bundesminister nach dem Ressortprinzip seinen Geschäftsbereich selbständig und eigenverantwortlich, aber innerhalb dieser Richtlinien leitet. Allerdings können auch Einzelfragen für die politische Ausrichtung wesentlich und dann Gegenstand von Richtlinien sein. Einer besonderen Form bedarf die Richtliniensetzung nicht. Sind mehrere Bundesministerien von einer Angelegenheit betroffen, so entscheiden Bundeskanzler und Bundesminister nach dem Kollegialprinzip gemeinsam, sofern der Bundeskanzler nicht von der ihm gegebenenfalls zustehenden Richtlinienkompetenz Gebrauch macht.
Diskussion
In der Politikwissenschaft ist umstritten, inwiefern die Richtlinienkompetenz eine Grundlage der Macht des Bundeskanzlers ist. Während einige Wissenschaftler in ihr eine „Autoritätsreserve“ (Everhard Holtmann) sehen, sind andere der Auffassung, dass es sich bei der Richtlinienkompetenz um einen „Fremdkörper“ handele (Eberhard Schuett-Wetschky). Der Durchsetzung von Richtlinien stehe das freie Mandat der Bundestagsabgeordneten entgegen (Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG). Die Richtlinienkompetenz sei ein Instrument hierarchischer Führung; in demokratischem Kontext sei aber hierarchische Führung nicht durchsetzbar. Die Richtlinienkompetenz sei in dieser Perspektive in der Praxis belanglos.
Die Richtlinienkompetenz wird im Abschnitt über die Bundesregierung verwandt. Sie betrifft auch nur die Bundesregierung (Exekutive) und nicht die Legislative oder die Judikative. Ganz im Gegenteil darf die Richtlinienkompetenz nur innerhalb des durch Gesetz und Rechtsprechung gesteckten Rahmens ausgeübt werden.
„Ich habe bisher, in über acht Jahren, von der Richtlinienkompetenz nach Art. 65 des Grundgesetzes keinen Gebrauch gemacht. Ich habe es vielmehr immer als meine Pflicht angesehen, große Anstrengungen auf das Zustandebringen von vernünftigen, praktisch brauchbaren, beiden Seiten gleichermaßen zumutbaren Kompromissen zu verwenden.“
Landesebene
Die meisten deutschen Landesverfassungen kennen, analog zum Grundgesetz, die Richtlinienkompetenz des Ministerpräsidenten.
Der Regierende Bürgermeister von Berlin verfügt über eine abgeschwächte Richtlinienkompetenz: Die von ihm bestimmten Richtlinien der Regierungspolitik bedürfen der Billigung des Abgeordnetenhauses von Berlin (Art. 58 Abs. 2 der Verfassung von Berlin [VvB]).
Allein die Landesverfassung der Freien Hansestadt Bremen (LV) kennt keine Richtlinienkompetenz des Präsidenten des Senats. Laut Art. 118 Abs. 1 S. 1 LV gibt die Bremische Bürgerschaft die Richtlinien, nach denen der Senat der Freien Hansestadt Bremen die Verwaltung zu führen hat.
Kommunale Gremien
Die kommunalen Gremien (Gemeinde- bzw. Stadtrat, Kreistag, Bezirkstag) verfügen über die Möglichkeit, der jeweiligen Exekutive einschließlich deren Spitze (Bürgermeister, Oberbürgermeister, Landrat, Bezirkstagspräsident) Richtlinien zur Erledigung von Vorgängen der laufenden Verwaltung – mit denen sich die Gremien im Einzelfall nicht beschäftigen – vorzugeben.
Österreich
Der österreichische Bundeskanzler verfügt nach der Bundesverfassung gegenüber den übrigen Bundesministern über keine Richtlinienkompetenz. Die Richtlinien der Regierungspolitik legt demzufolge die österreichische Bundesregierung als Kollegialorgan fest. Anzumerken ist allerdings, dass der Bundeskanzler in der österreichischen Bundesregierung letztlich doch insofern eine Vorrangstellung einnimmt, als er gemäß Art. 70 Abs. 1 des Bundes-Verfassungsgesetzes (B-VG) die Möglichkeit hat, jederzeit dem Bundespräsidenten die Entlassung eines Ministers vorzuschlagen, der seinen politischen Vorstellungen („Richtlinien“) nicht entspricht. In der politischen Realität der Koalitionsregierungen kann diese Kompetenz durch den Bundeskanzler bei Ministern, die der Koalitionspartner stellt, aber nicht ausgeübt werden, da die andere Partei die Koalition aufkündigen würde.
Dazu kommt, dass der Bundeskanzler ohne die Zustimmung des Finanzministers keine Entscheidungen treffen kann, die Budgetfragen betreffen. Die tatsächliche Vormachtstellung des Bundeskanzlers ist daher bloß bei Einvernehmen mit dem Finanzminister möglich. Werden daher Bundeskanzler und Finanzminister von unterschiedlichen Parteien gestellt, ist der Einfluss des Bundeskanzlers wesentlich geringer („Bundeskanzler ist nur so stark wie sein Finanzminister“).
De facto gründet sich daher eine eventuelle Vorrangstellung des Bundeskanzlers gegenüber den übrigen Bundesministern nur auf Grund der persönlichen Autorität des jeweiligen Organwalters in Verbindung mit dem Amtstitel „Bundeskanzler“.
Auch die österreichischen Landesverfassungen kennen, analog zum Bundes-Verfassungsgesetz, keine Richtlinienkompetenz des Landeshauptmannes.
Schweiz
Die Schweiz kennt auf Bundesebene keine Richtlinienkompetenz für den Bundespräsidenten. Allerdings besteht auf kantonaler Ebene ein Trend, diese zumindest in abgeschwächter Form einzuführen. So sehen die neuen Verfassungen der Kantone Waadt und Basel-Stadt diese in abgeschwächter Form vor. Art. 102 Abs. 2 der Basel-Städtischen Verfassung bezeichnet den Regierungspräsidenten wie folgt: "Er oder sie leitet, plant und koordiniert die Amtstätigkeit des Regierungsrates als Kollegialbehörde und vertritt ihn nach innen und außen".
Literatur
- Eberhard Schuett-Wetschky: Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers, demokratische Führung und Parteiendemokratie. Teil I: Richtlinienkompetenz als Fremdkörper in der Parteiendemokratie, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft 13 (2003), Heft 4, S. 1897–1932.
- Eberhard Schuett-Wetschky: Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers, demokratische Führung und Parteiendemokratie. Teil II: Fehlinformation des Publikums, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft 14 (2004), Heft 1, S. 5–30.