Ralf Binswanger

Ralf Binswanger (* 9. Mai 1940 i​n Kreuzlingen) i​st ein Schweizer Psychiater, Psychoanalytiker, Sexualwissenschaftler u​nd kommunistischer Militanter.[1]

Leben

Ralf Binswanger stammt a​us einer Familie bekannter Psychiater u​nd Ökonomen: Der Neurologe u​nd Psychiater Otto Binswanger i​st sein Urgroßonkel, Ludwig Binswanger s​ein Großonkel. Der Ökonom Hans-Christoph Binswanger i​st ein Onkel zweiten Grades. Der Ökonom Hans Peter Binswanger-Mkhize i​st einer seiner d​rei jüngeren Brüder.[2]

Er w​uchs in d​er familieneigenen, privaten psychiatrischen Klinik Bellevue i​n Kreuzlingen auf, a​ls deren administrativer Leiter s​ein Vater Werner b​is zum frühen Tod 1957 tätig war. Seine Mutter Dagny Margarete, geb. Thorell, w​ar eine Tochter d​es schwedischen Politikers Edvard Thorell.

Er studierte Medizin i​n Lausanne u​nd Zürich m​it Abschluss u​nd Promotion 1967. Danach w​ar er Assistenzarzt a​n der Psychiatrischen Universitätsklinik Burghölzli u​nd ab 1971 a​n der Psychiatrischen Poliklinik d​es Universitätsspitals Zürich, v​on 1973 b​is 1979 Oberarzt daselbst. In seiner Funktion a​ls Assistenz- u​nd Oberarzt b​aute er e​inen Dienst für Psychotherapie u​nd Psychiatrie i​n Gefängnissen d​es Kantons Zürich auf.[3] Seit 1973 i​st er Spezialarzt für Psychiatrie u​nd Psychotherapie FMH i​n Zürich.

Politisierung

Während seiner Tätigkeit a​ls Gefängnispsychiater v​on 1971 b​is 1979 setzte e​r sich m​it dem Problem d​er Isolationshaft i​n der Schweiz auseinander. Diese bezeichnete e​r in mehreren Publikationen a​ls Folter.[4] Wegen d​er fortwährenden Verschärfung d​er Haftbedingungen l​egte er 1980 a​lle Funktionen i​m Zusammenhang m​it dem Strafvollzug nieder[1] u​nd trat d​em Komitee g​egen Isolationshaft bei, e​iner der Vorläuferorganisationen d​es 1992 gegründeten Revolutionären Aufbaus Schweiz. In dieser Organisation i​st er b​is heute aktiv.[1] Unter anderem w​ar er federführend a​n der Ausarbeitung e​iner Lesehilfe für a​lle drei Bände v​on Marx’ Kapital beteiligt.[5]

Vom Psychodrama zu Psychoanalyse und Sexualwissenschaft

Die Ausbildung z​um Psychodramatiker absolvierte Binswanger b​ei Grete Leutz i​n Überlingen, Zerka T. Moreno i​n Beacon (New York) u​nd Ann Hale i​n Toronto. In d​en 1970er b​is 1980er Jahren gehörte e​r zu d​en Pionieren d​es Psychodramas i​n der Schweiz.[6]

Die Ausbildung zum Psychoanalytiker absolvierte Binswanger am Psychoanalytischen Seminar Zürich (PSZ), wo er seit Anfang der 1980er Jahre auch als Dozent unterrichtet. Zu seinen Spezialitäten gehören Traumseminare.[7] Er ist seit 1980 in eigener Praxis als Psychoanalytiker und Supervisor tätig. Seine publizistische Tätigkeit fokussierte sich zunächst auf die Interpretation und Weiterentwicklung der Konzepte des Psychoanalytikers Fritz Morgenthaler – bei dem er von 1978 bis 1984 in Analyse war[8] – auf den Gebieten Dialektik,[9] psychoanalytische Technik,[10] Traum[11] und Sexualität.[12]

Zum zwanzigsten Todestag v​on Morgenthaler initiierte e​r 2005 d​en internationalen Kongress „Traum-Technik-Sexualität“.[13]

Eigenständige Arbeiten betreffen Aspekte d​er Neurosenlehre[14], e​ine Neuformulierung d​es Perversionsbegriffs[15] u​nd von Freuds Traumtheorie (mit Lutz Wittmann)[16] s​owie einen konzeptuellen Vorschlag z​ur Klärung d​er Diskurse über Sexualität[17] u​nd Gender.[18]

Publikationen (Auswahl)

  • Mit Werner Brandenberger: Zum Problem langdauernder Untersuchungshaft. (PDF; 8,9 MB) In: Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht (ZStrR). Band 91, Heft 4, 1975, S. 406–420, abgerufen am 14. Juli 2021.
  • Rahmenbedingungen analytisch orientierter Psychotherapie im Strafvollzug. (Kurzmitteilung), In: Psyche – Z Psychoanal. Jg. 32, Nr. 12, 1978, S. 1148–1156.
  • Probleme der Gefängnispsychiatrie. In: Nervenarzt. Nr. 50, 1979, S. 360–365.
  • Wird in der Schweiz gefoltert? AI Info. Heft 10, S. 3–9; Heft 11, S. 6–12; Heft 12, S. 8–14 (als Broschüre Folter in der Schweiz? amnesty international (Hrsg.), Schweizer Sektion, Bern, o. J.).
  • Engineering of Consent. In: Widerspruch. Nr. 8, Dezember 1984, S. 49–60.
  • Versuch einer Konzeptualisierung des psychodramatischen Prozesses. In: Integrative Therapie. Jg. 11, Heft 1, 1985, S. 26–38.
  • Mit Ruedi Fröhlich: Moreno und Psychoanalyse. In: Integrative Therapie. Jg. 11, Heft 1, 1985, S. 39–57.
  • Kindliche Masturbation – ein genetischer Gesichtspunkt, insbesondere bei Anorexia und Bulimia nervosa. In: Psyche – Z Psychoanal. Jg. 50, Nr. 7, 1996, S. 644–679.
  • Lob der materialistischen Dialektik. In: Werkblatt. Zeitschrift für Psychoanalyse und Gesellschaftskritik. Nr. 50, 2003, S. 13–19; korrigierte und autorisierte Version, abgerufen am 14. Juli 2021.
  • Zur Praxis der Dialektik in der Psychoanalyse. In: Werkblatt. Zeitschrift für Psychoanalyse und Gesellschaftskritik. Nr. 51, 2003, S. 3–23.
  • Lesehilfe zu Fritz Morgenthaler: Technik. Zur Dialektik der Psychoanalytischen Praxis., 2005 In: Mediathek des Psychoanalytisches Seminar Zürich, abgerufen am 22. Juli 2021.
  • „Die Neurose ist sozusagen das Negativ der Perversion“ – die bekannte Formel neu interpretiert. In: Psyche – Z Psychoanal. Jg. 65, Nr. 8, 2011, S. 673–698.
  • Erinnern – Rekapitulieren – Durcharbeiten. Psychoanalytische Deutungsmuster am Beispiel des 9. Kapitels von Morgenthalers Technik. In: Werkblatt, Zeitschrift für Psychoanalyse und Gesellschaftskritik. Nr. 68, 2012, S. 49–75.
  • Mit Monika Gsell: Psychosexuelle Entwicklung und Geschlechtsidentität bei intersexuellen Konditionen. In: Katinka Schweizer, Hertha Richter-Appelt (Hrsg.): Intersexualität kontrovers: Fakten, Erfahrungen, Positionen. Psychosozial-Verlag, Giessen 2012, ISBN 978-3-8379-2188-5, S. 371–392.
  • Dream Diagnostics: Fritz Morgenthaler’s Work on Dreams. In: The Psychoanalytic Quarterly. Volume 85, Issue 3, July 2016, S. 727–757.
  • (K)ein Grund zur Homosexualität: Ein Plädoyer zum Verzicht auf psychogenetische Erklärungsversuche von homosexuellen, heterosexuellen und anderen Orientierungen. In: Journal für Psychoanalyse. Nr. 57, 2016, doi:10.18754/jfp.57.2, S. 6–26.
  • Reconsidering Perversion – a Conceptual Proposal. In: Journal für Psychoanalyse. Supplement zu Nr. 57, 2017, doi:10.18754/jfp.57supp.1, S. 1–34.
  • Mit Lutz Wittmann: Reconsidering Freud’s Dream Theory. In: International Journal of Dream Research. Volume 12, Nr. 1, 2019, doi:10.11588/ijodr.2019.1.59178 S. 103–111; mit Addendum. In: International Journal of Dream Research. Volume 13, Nr. 2, 2020, doi:10.11588/ijodr.2020.2.73940,S. 317–319.
  • Mehr Klarheit beim Reden über Sexualität. Ein dynamisches Modell zur Strukturierung sexualwissenschaftlicher Diskurse. In: Z Sexualforsch. Volume 34, Nr. 1, 2021; DOI: 10.1055/a-1365-0154, S. 15–27
  • Sexualität und Gender: Das gleiche Modell für beides? In: texte. psychoanalyse. ästhetik. kulturkritik. Jg. 41, Nr. 1, 2021, S. 78–98.

Einzelnachweise

  1. Lob der materialistischen Dialektik. In: Werkblatt. Zeitschrift für Psychoanalyse und Gesellschaftskritik. Nr. 50, 2003, S. 13–19; korrigierte und autorisierte Version, abgerufen am 14. Juli 2021.
  2. Binswanger Family Tree. Website MyHeritage, abgerufen am 14. Juli 2021; und: Andreas Binswanger, Binswanger Familienarchiv, Kreuzlingen, andreas.binswanger@outlook.com.
  3. Konzepte und Aufbau des Gefängnispsychiatrischen Dienstes und Versuch einer politischen Einschätzung. In: Robert Lewinsky, Hans Reller (Hrsg.): Wir haben ja Psychiater. Limmat-Verlag, Zürich 1983, S. 11–28 und S. 157–178.
  4. Isolationsfolter? In: Schweizerische Ärztezeitung. Nr. 58, S. 165–166. Und: Wird in der Schweiz gefoltert? AI Info. Heft 10, S. 3–9; Heft 11, S. 6–12; Heft 12, S. 8–14 (als Broschüre Folter in der Schweiz?, amnesty international (Hrsg.), Schweizer Sektion, Bern, o. J.).
  5. Karl Marx‘ Das Kapital zum Selbststudium. Website des Revolutionären Aufbaus Schweiz. Abgerufen am 14. Juli 2021.
  6. Interview mit Ralf Binswanger: Don’t touch a functioning system! In: Z Psychodrama und Soziometrie. Nr. 13, 2014, S. 245–248.
  7. Mit Träumen arbeiten. In: Journal für Psychoanalyse. Nr. 58, 2017.
  8. Werkblatt. Zeitschrift für Psychoanalyse und Gesellschaftskritik. Nr. 46, 2001, S. 12.
  9. Zur Praxis der Dialektik in der Psychoanalyse. In: Werkblatt. Zeitschrift für Psychoanalyse und Gesellschaftskritik. Nr. 51, 2003, S. 3–23.
  10. Erinnern – Rekapitulieren – Durcharbeiten. Psychoanalytische Deutungsmuster am Beispiel des 9.Kapitels von Morgenthalers Technik. In: Werkblatt, Zeitschrift für Psychoanalyse und Gesellschaftskritik. Nr. 68, 2012, S. 49–75. Und: Lesehilfe zu Fritz Morgenthaler: Technik. Zur Dialektik der Psychoanalytischen Praxis. 2005. In: Mediathek des Psychoanalytisches Seminar Zürich, abgerufen am 22. Juli 2021.
  11. Freud – Morgenthaler: Verknüpfung der Traumtheorien. In: Werkblatt. Zeitschrift für Psychoanalyse und Gesellschaftskritik. Nr. 60, 2008, S. 47–62. Und: Dream Diagnostics: Fritz Morgenthaler’s Work on Dreams. In: The Psychoanalytic Quarterly. Volume 85, Issue 3, July 2016, S. 727–757.
  12. Kritik der Plombentheorie. In: Journal für Psychoanalyse. Schwerpunktthema: Fritz Morgenthaler. Psychosozial-Verlag, Giessen, Doppelnummer 45/46, 2005/2006, S. 339–342. Und: (K)ein Grund zur Homosexualität: Ein Plädoyer zum Verzicht auf psychogenetische Erklärungsversuche von homosexuellen, heterosexuellen und anderen Orientierungen. In: Journal für Psychoanalyse. Nr. 57, 2016, S. 6–26.
  13. Die Kongressbeiträge sind abgedruckt in: Journal für Psychoanalyse. Schwerpunktthema: Fritz Morgenthaler. Psychosozial-Verlag Giessen, Doppelnummer 45/46, 2005/2006.
  14. „Die Neurose ist sozusagen das Negativ der Perversion“ – die bekannte Formel neu interpretiert. In: Psyche – Z Psychoanal. Jg. 65, Nr. 8, 2011, S. 673–698.
  15. Reconsidering Perversion – a Conceptual Proposal. In: Journal für Psychoanalyse. Supplement zu Nr. 57, 2017, S. 1–34.
  16. Mit Lutz Wittmann: Reconsidering Freud’s Dream Theory. In: International Journal of Dream Research. Volume 12, Nr. 1, 2019, doi:10.11588/ijodr.2019.1.59178 S. 103–111; mit Addendum. In: International Journal of Dream Research. Volume 13, Nr. 2, 2020, doi:10.11588/ijodr.2020.2.73940,S. 317–319.
  17. Mehr Klarheit beim Reden über Sexualität. Ein dynamisches Modell zur Strukturierung sexualwissenschaftlicher Diskurse. In: Z Sexualforsch. Volume 34, Nr. 1, 2021; DOI: 10.1055/a-1365-0154, S. 15–27.
  18. Sexualität und Gender: Das gleiche Modell für beides? In: texte. psychoanalyse. ästhetik. kulturkritik. Jg. 41, Nr. 1, 2021, S. 78–98.
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