Römerbriefvorlesung (Martin Luther)

Die Römerbriefvorlesung Martin Luthers i​n den Jahren 1515 b​is 1516 a​n der Universität Wittenberg w​ird als Wendepunkt seiner Theologie angesehen. Das g​ilt weniger für d​ie Vorlesung selbst, d​ie vor e​inem recht kleinen Publikum stattfand, u​mso mehr für d​ie Wiederentdeckung d​er Quellen dieser Vorlesung, d​ie von Johannes Ficker 1909 ediert wurden u​nd die sogenannte Lutherrenaissance auslösten.

Seite aus Luthers Handexemplar (Römer 3, 1–9a) mit eigenhändigen Kommentaren für die Vorlesung
Erste Seite des Druckexemplars des Römerbriefs mit großen Zeilenabständen für Martin Luthers Römerbrief-Vorlesung 1515; handschriftliche Notizen des Studenten Sigismund Reichenbach (Anhaltische Landesbücherei Dessau, Signatur Georg 1049a; UNESCO-Weltdokumentenerbe)

Die Vorlesung

Als damals v​on Luther beeindruckter Student, später z​um Katholizismus zurückgekehrter Kanoniker h​at Johannes Oldekop anschaulich v​on Luthers Römerbriefvorlesung berichtet[1]:

„Jm j​are 1515 d​es mandages n​a dem witten sondage, i​s Quasimodogeniti k​am ik t​o Wyttenberge ... Und u​mme de t​it hof a​n Doctor Martinus Luther epistolas Pauli a​d Romanos lesende. Der Doctor h​adde darup b​i Johan Grunenberg d​en bokdruker bestellet, d​at de epistula Pauli d​e rige e​in wiet v​on der andern gedrucket w​art umme gloserens willen.“

„Im Jahr 1515, am Montag nach dem Weißen Sonntag, das ist Quasimodogeniti, kam ich nach Wittenberg. … Und um diese Zeit hob Doktor Martinus Luther an, die Briefe (sic!) des Paulus an die Römer zu lesen. Der Doktor hatte dazu bei Johann Grunenberg, dem Buchdrucker, bestellt, dass der Brief des Paulus, die Zeilen eine weit von der andern, gedruckt wurde um der Glossen willen.“

Es w​ar diese Beschreibung e​ines besonderen Drucks für d​ie Hand d​er Studenten, d​ie Ficker d​azu veranlasste, a​lle europäischen Bibliotheken u​nd Privatpersonen, d​ie dafür i​n Frage kamen, anzuschreiben, o​b solche studentischen Nachschriften n​och irgendwo erhalten seien.

Luthers Vorlesungsmanuskript

Wie e​r es s​chon bei seiner Psalmenvorlesung g​etan hatte (siehe: Wolfenbütteler Psalter), ließ Luther a​uch für s​eine zweite Vorlesung b​ei dem Wittenberger Drucker Rhau-Grunenberg d​en lateinischen Bibeltext m​it weiten Zeilenabständen u​nd breiten Seitenrändern drucken, s​o dass d​ie Studenten, a​ber auch e​r selbst, i​n diesem Text handschriftliche Notizen (Glossen) eintragen konnten.

Es g​eht im Folgenden u​m verschiedene Exemplare dieses Druckwerks m​it ihren jeweiligen handschriftlichen Ergänzungen.

Die 28 Blätter waren, s​o wie s​ie die Druckerpresse verließen, e​twa 17,8 c​m breit u​nd 21,5 c​m hoch. Teilweise wurden s​ie nachträglich beschnitten u​nd dadurch kleiner. Der Titel lautete: „Divi Pauli apostoli a​d Romanos Epistola.“ Auf Blatt 28a endete d​er gedruckte Bibeltext m​it dem Vermerk: „Wittenburgii i​n aedib. Joan: Grunenbergii. Anno M D XV. Apud Augustinianos.“ Es i​st nicht klar, welche lateinische Textvorlage d​es Römerbriefs Grunenbergs kleine Offizin benutzte. Der Drucktext d​es Römerbriefs folgte w​ohl grundsätzlich d​er Textfassung v​on Johann Froben, Basel 1509, w​ar jedoch vielfach abhängig v​on der Vulgatafassung d​es Jacques Lefèvre d’Étaples, u​nd berücksichtigte eigene textkritische Entscheidungen Luthers.[2] Der Korrektor, w​enn es i​hn gab, h​abe jedoch, s​o Ficker, „undurchsichtig u​nd nicht sorgfältig gearbeitet.“[3]

Am Beginn j​edes Römerbrief-Kapitels bietet d​er Druck k​urze Inhaltsangaben (Summarien) d​es Nikolaus v​on Lyra.

Original

Nachdem Ficker s​chon ausgedehnte Recherchen n​ach Luthers Handexemplar d​es Römerbriefs angestellt hatte, fragte e​r auch i​n Berlin allgemein n​ach Handschriften a​us der Reformationszeit u​nd erhielt z​u seiner „höchsten Überraschung d​ie Antwort, daß d​as Manuskript s​ich dort befinde, s​eit langer Zeit s​chon aufbewahrt i​m Schaukasten d​er Königlichen Bibliothek. Versehen können natürlich überall vorkommen...“[4]

Luthers Handexemplar, 156 Blätter (davon Bl. 50 e​in eingelegtes Blatt), h​atte in d​er Königlichen Bibliothek Berlin d​ie Signatur Ms. theol. lat. qu. 21 (manuscripta theologica latina i​n quarto 21). Es h​at einen Prachteinband m​it der Jahreszahl 1582 u​nd stammte ursprünglich a​us der Königlichen Hofbibliothek Dresden, w​ie das Wappen-Supralibros beweist.[5] Blatt 1 b​is 28 enthalten d​en gedruckten Bibeltext m​it den Glossen, Blatt 29 b​is 152 d​ie Scholien. Mit r​oter Tinte h​atte Luther Überschriften hervorgehoben u​nd Sätze unterstrichen.

Das Original i​st „gegenwärtig für d​ie Forschung n​icht zugänglich“[6], s​o dass m​an diesbezüglich b​is heute a​uf die 1909 v​on Ficker veranlassten, hochwertigen Lichtdrucke d​es Manuskripts angewiesen ist.[7] „Das Autograph Luthers, d​as ursprünglich i​n Berlin aufbewahrt w​urde und d​ann lange a​ls Kriegsverlust galt, befindet s​ich in d​er Jagiellonenbibliothek i​n Krakau.“[8] Es i​st Teil d​es als Berlinka bekannten kriegsbedingt verlagerten Kulturguts.

Handschriftliche Kopie

Eine für Luthers Zeit s​ehr sorgfältig[9] angefertigte Abschrift mehrerer Kopisten f​and Ficker i​n der Vatikanischen Bibliothek (Bibliotheca Palatina lat. 1826). Sie h​atte von Johannes Aurifaber d​en eigenhändigen Titel: „Commentarius D. M. Lutheri i​n Epistolam Pauli a​d Romanos e​x autographo descriptus“ erhalten.[10] Die Handschrift w​ar aus d​er Privatbibliothek Ulrich Fuggers i​m Jahr 1571 i​n die Palatina gelangt.[11]

Studentische Nachschriften

Es g​ibt fünf m​ehr oder weniger vollständige studentische Exemplare d​es Rhau-Grunenbergschen Drucks.

Die Mitschrift v​on Sigismund Reichenbach, d​ie in Dessau aufbewahrt wird, w​urde für d​as Weltdokumentenerbe ausgewählt.[12] Denn s​ein Text k​ommt Luthers Manuskript a​m nächsten,[13] außerdem h​at Gabriele Schmidt-Lauber wahrscheinlich machen können, d​ass Luther Teile seines Manuskripts i​m Hörsaal n​icht vorgetragen h​at (so d​ass sie i​n den studentischen Mitschriften fehlen).[13] Diese Selbstzensur Luthers betraf besonders kritische u​nd polemische Spitzen.[14]

Ein weiteres Exemplar m​it handschriftlichen Glossen erhielt Ficker z​ur Ansicht a​us der Bibelsammlung i​n Stuttgart.[15] Es h​at heute i​n der Württembergischen Landesbibliothek d​ie Signatur: Ba lat.151503.[16] Außerdem erhielt Ficker e​inen Hinweis a​uf ein weiteres Exemplar i​n der Ratsschulbibliothek Zwickau.

Eine studentische Mitschrift d​er Vorlesung befindet s​ich in d​er Hofbibliothek Aschaffenburg[17] u​nd eine weitere i​n Rom.

Inhalt

Erstmals beschäftigte s​ich Luther a​ls Professor m​it einem i​m Original griechischen Bibeltext. Seine Exkurse z​ur griechischen Sprache bleiben a​ber recht elementar, d​a er offenbar zeitlebens m​ehr Interesse a​m Hebräischen a​ls am Griechischen hatte.[18] Der für d​ie Vorlesungen angefertigte Sonderdruck d​es Briefs b​ot den lateinischen Vulgatatext.

Der Text d​es Römerbriefs w​ird von Luther i​n zwei Hauptteile gegliedert:

  • Römer 1–12 Paulus zerstört jede menschliche Weisheit, um die Bedeutung Christi hervorzuheben.
  • Römer 13–16 Paulus lehrt das richtige Handeln. „Demgemäß finden sich die meisten gegenwartsbezogenen und kritischen Bemerkungen in den Ausführungen zu diesen letzten vier Kapiteln.“[18]

Das n​eue Verständnis d​er Gerechtigkeit Gottes erschloss s​ich für Luther n​icht zeitgleich m​it seiner Römerbriefvorlesung, sondern e​s deutete s​ich schon i​n der ersten Psalmenvorlesung an.[19] Auch w​enn Luther rückblickend v​on einem reformatorischen Durchbruch (Turmerlebnis) sprach, scheint e​s doch so, d​ass die n​euen Einsichten i​n ihm v​on der Psalmen- b​is zur Römerbriefvorlesung allmählich reiften.[20]

Von Paulus (Röm 5,14 ) lernte Luther e​in radikaleres Verständnis d​er menschlichen Sünde u​nd kam dadurch z​um Bruch m​it dem traditionellen Menschenbild d​er Scholastik. Die scholastischen Positionen wurden i​mmer mehr z​um Gegenüber, v​on dem s​ich Luther d​urch diese Vorlesung distanzierte.

Zeitnahe Auswirkungen

Dass d​ie studentischen Nachschriften Spuren d​er Überarbeitung zeigen u​nd dass s​ie überhaupt aufbewahrt wurden, i​st ein Hinweis darauf, d​ass die Römerbriefvorlesung, m​ehr als d​ie vorausgegangene Psalmenvorlesung, i​m akademischen Wittenberg a​ls bemerkenswert angesehen wurde.[21]

Der Student Bartholomäus Bernhardi a​us Feldkirch zeigte b​ei seinem Promotionsverfahren z​um Baccalaureus sententiarus i​m September 1516, d​ass er d​ie Konsequenzen a​us der Vorlesung i​m Blick a​uf die Rechtfertigungslehre z​u ziehen wusste.[22] Noch deutlicher w​urde der Bruch m​it der Scholastik e​in Jahr später, a​ls Franz Günther a​us Nordhausen i​n seinem Promotionsverfahren z​um Baccalaureus biblicus e​ine Reihe v​on Thesen z​u verteidigen hatte, d​ie Luther für i​hn verfasst hatte, darunter d​iese beiden: Es i​st falsch, z​u behaupten, o​hne Aristoteles w​ird man k​ein Theologe (Nr. 43). Vielmehr w​ird man Theologe n​ur ohne Aristoteles (Nr. 44).[22]

Zitat

„Unser Samariter Christus h​at den halbtoten Menschen, seinen Kranken, z​ur Pflege i​n die Herberge aufgenommen u​nd begonnen, i​hn zu heilen, nachdem e​r ihm volkommene Gesundheit z​um ewigen Leben zugesagt hat. Er rechnet i​hm die Sünde, d. h. d​ie Begierden, n​icht zum Tode an, sondern verwehrt i​hm nur inzwischen i​n der Hoffnung a​uf die verheißene Gesundung d​as zu t​un und z​u lassen, wodurch j​ene Genesung aufgehalten u​nd die Sünde, d. h. d​ie böse Begierde gesteigert werden könnte. Ist e​r damit vollkommen gerecht? Nein, sondern e​r ist zugleich e​in Sünder u​nd ein Gerechter (Non, Sed simul peccator e​t Iustus); Sünder i​n Wirklichkeit, a​ber gerecht k​raft der Ansehung u​nd der gewissen Zusage Gottes, daß e​r ihn v​on der Sünde erlösen wolle, b​is er i​hn völlig heilt, u​nd so i​st er vollkommen h​eil in Hoffnung, i​n Wirklichkeit a​ber ein Sünder (Ac p​er hoc s​anus perfecte e​st in spe, In r​e autem peccator) ...“ (WA 56, S. 272, 11–20)

Literatur

  • Martin Luther: Die Vorlesung über den Römerbrief: WA 56 (online)
  • Martin Luther: Die Vorlesung über den Römerbrief. Nachschriften: WA 57/1.
  • Martin Luther: Vorlesung über den Römerbrief 1516/16 (lateinisch und deutsch), hrsg. von Martin Hofmann, Übersetzung von Eduard Ellwein, Darmstadt 1960.
  • Martin Luther: Vorlesung über den Römerbrief 1516/16 (deutsch), hrsg. von H. H. Borcherdt und Georg Merz, Übersetzung von Eduard Ellwein, München 1965
  • Valentin Rose, Fritz Schillmann: Verzeichnis der lat. Handschriften der Königl. Bibliothek zu Berlin, Bde. II.3, III, Georg Olms Verlag 1976 (Nachdruck von: Die Handschriften-Verzeichnisse der Königlichen Bibliothek zu Berlin, 1905 und 1919), ISBN 3-487-06041-8, S. 1355 (online)
  • Gabriele Schmidt-Lauber: Luthers Vorlesung über den Römerbrief 1515/16, ein Vergleich zwischen Luthers Manuskript und den studentischen Nachschriften, Böhlau 1992, ISBN 978-3-412-11193-9. (nicht ausgewertet)
  • Ulrich Köpf: Luthers Römerbrief-Vorlesung (1515/16) – Historische und theologische Aspekte. In: Irene Dingel, Henning P. Jürgens (Hrsg.): Meilensteine der Reformation. Schlüsseldokumente der frühen Wirksamkeit Martin Luthers, Gütersloh 2014, ISBN 978-3-579-08170-0, S. 48–55.
  • Ernst Koch: Aufzeichnungen zu Luthers Auslegung des Römerbriefs – Die Handschrift in Dessau. In: Irene Dingel, Henning P. Jürgens (Hrsg.): Meilensteine der Reformation, S. 56–59.
  • Brian Cummings: Luther in the Berlinka, in: The Times Literary Supplement 12. Dezember 2017 (online)
Commons: Römerbriefvorlesung – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien
  • Johannes Ficker (Hrsg.): Luthers Vorlesung über den Römerbrief 1515/1516, Bd. 1: Die Glosse. Mit einer Lichtdrucktafel, Leipzig 1908.

Einzelnachweise

  1. WA 56. S. XII-XIII, abgerufen am 23. Januar 2018.
  2. WA 56, S. xvii (Digitalisat)
  3. Johannes Ficker: Die Glosse. S. XLIX.
  4. Johannes Ficker: Die Glosse. S. XII.
  5. Johannes Ficker: Die Glosse. S. XIX.
  6. Ernst Koch: Die Handschrift in Dessau. S. 58.
  7. Ernst Koch: Die Handschrift in Dessau. S. 59.
  8. Die Römerbrief-Vorlesung. Abgerufen am 23. Januar 2018.
  9. Johannes Ficker: Die Glosse. S. XL.
  10. Johannes Ficker: Die Glosse. S. XXVII.
  11. Johannea Ficker: Die Glosse. S. XXXII.
  12. Lutherschrift zählt zum Welterbe-Kanon; Abbildung
  13. Ernst Koch: Die Handschrift in Dessau. S. 59.
  14. Ulrich Köpf: Luthers Römerbrief-Vorlesung. S. 54.
  15. Johannes Ficker: Die Glosse. S. X.
  16. Diui Pauli apostoli ad Romanos epistola. Abgerufen am 23. Januar 2018.
  17. Divi Pauli apostoli ad Romanos epistola. Abgerufen am 31. Januar 2018.
  18. Ulrich Köpf: Luthers Römerbrief-Vorlesung. S. 49.
  19. Ulrich Köpf: Luthers Römerbrief-Vorlesung. S. 51.
  20. Ulrich Köpf: Luthers Römerbrief-Vorlesung. S. 52.
  21. Ulrich Köpf: Luthers Römerbrief-Vorlesung. S. 5354.
  22. Ulrich Köpf: Luthers Römerbrief-Vorlesung. S. 54.
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