Passiv-aggressive Persönlichkeitsstörung
Die passiv-aggressive oder negativistische Persönlichkeitsstörung ist gekennzeichnet durch ein tiefgreifendes Muster negativistischer Einstellungen und passiven Widerstandes gegenüber Anregungen und Leistungsanforderungen, die von anderen Menschen kommen. Betroffene Personen fallen insbesondere durch passive Widerstände gegenüber Anforderungen im sozialen und beruflichen Bereich auf und durch die häufig ungerechtfertigte Annahme, missverstanden, ungerecht behandelt oder übermäßig in die Pflicht genommen zu werden.
Klassifikation nach ICD-10 | |
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F60.8 | Sonstige spezifische Persönlichkeitsstörungen – passive-aggressive[1] |
ICD-10 online (WHO-Version 2019) |
In der psychologischen Forschung ist strittig, ob eine solche Persönlichkeitsstörung überhaupt existiert. Die American Psychiatric Association hat sie aus ihrem aktuellen Klassifikationssystem DSM-5 gestrichen, während sie im ICD-System der Weltgesundheitsorganisation als „sonstige spezifische Persönlichkeitsstörungen“ immer noch aufgeführt wird. Entstanden ist die Diagnose der passiv-aggressiven Persönlichkeit im Zweiten Weltkrieg, als Soldaten u. a. den Fronteinsatz verweigerten.
Beschreibung
Unter einer passiv-aggressiven Persönlichkeitsstörung versteht man ein Trotzverhalten, wie es in der Pubertät häufig zu finden ist, sich aber darüber hinaus manifestiert. Ein eigener DSM-Code (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) existiert nicht, und in der ICD-10 und ihren Vorläufern wird die Störung nur in F60.8 aufgeführt, aber nicht näher beschrieben. Es ist außerhalb der USA recht unüblich, diese Störung zu diagnostizieren, und groß angelegte Forschungen gibt es noch nicht. Deshalb sollte, wenn überhaupt, sehr vorsichtig mit der Diagnose umgegangen werden.
Charakteristisch für diese Persönlichkeitsstörung ist die Widerständigkeit gegenüber Anforderungen mit einer durchgängig negativistischen, angstgetönten und abwertenden Grundhaltung. Dabei handelt es sich um eine Einstellung, die Menschen unterstützt, jedoch gleichzeitig gegenüber Anforderungen passiven Widerstand leistet. Zur zwischenmenschlichen Problemlösung und Aussöhnung sind sie oft nur in einer zynisch-pessimistischen Weise in der Lage.
Es könnte sich um einen Versuch handeln, Ärger in sozialen Beziehungen auszudrücken, und zwar in einer unpassenden verbalen und nichtverbalen Art, die nicht oder nur selten zur Lösung führt. Entweder haben die Betroffenen keine sozial angemessene Kompetenz im Umgang mit Ärger und Wut gelernt oder sie haben Angst, dass die Durchsetzung ihrer eigenen Bedürfnisse gehemmt oder behindert wird. Die negativistische Persönlichkeit zeichnet eine besondere Ambivalenz von gleichzeitig beobachtbarer (Dennoch-)Zustimmung und (Dennoch-)Verweigerung, also Bedürfnisbefriedigung und Bedürfnisunterdrückung, aus. Kennzeichnend ist eine hohe Aktivität, mit der das Vermeidungsverhalten nach außen rational begründet und durchgesetzt wird.
Menschen mit einer passiv-aggressiven Persönlichkeitsstörung fühlen sich von anderen oft missverstanden, können anhaltend über persönliches Unglück klagen, welches sie häufig unbewusst selbst inszenieren, und sind häufig mürrische und streitsüchtige Zeitgenossen. Autoritäten gegenüber zeigen sie übermäßige Kritik, ja Verachtung, was ihre Position nicht verbessert. Sie begegnen Menschen, die ein offensichtlich glücklicheres Los gezogen haben, mit Neid, Missgunst, Groll oder einem eigenartigen, auf jeden Fall nicht nachvollziehbaren Wechselspiel zwischen feindseligem Trotz und mitunter fast unterwürfiger Reue.
Die Zwiespältigkeit im Denken und Handeln und das geringe Selbstwertgefühl, das aus einer solchen Einstellung entsteht (ständige Fremd-Abwertung schlägt zuletzt in eine verheerende Selbst-Abwertung um), führen oft zu Auseinandersetzungen und Streitigkeiten mit der Umwelt. Persönliche Enttäuschungen werden häufig auf andere projiziert.
Oft sehen sich negativistische Persönlichkeiten als friedfertig an und halten ihre passiv-aggressive Art für gesellschaftskonform.
Diagnose
DSM-III-R
Ein durchgängiges Muster passiven Widerstandes gegenüber Forderungen nach angemessenen Leistungen im sozialen und beruflichen Bereich. Der Beginn liegt im frühen Erwachsenenalter und die Störung manifestiert sich in den verschiedensten Lebensbereichen. Mindestens fünf der folgenden Kriterien müssen erfüllt sein:
- startet Verzögerungsmanöver, d. h. Sachen werden so lange aufgeschoben, dass Fristen nicht mehr eingehalten werden können
- wird mürrisch, reizbar oder streitsüchtig, wenn von ihm etwas verlangt wird, was er nicht tun möchte
- arbeitet scheinbar vorsätzlich langsam oder macht die Arbeit schlecht, die er nicht tun möchte
- beschwert sich ohne Grund, dass andere unsinnige Forderungen an ihn stellen
- vermeidet die Erfüllung von Pflichten und beharrt darauf, sie „vergessen“ zu haben
- glaubt, seine Tätigkeit besser auszuüben, als andere glauben
- nimmt anderen nützliche Vorschläge zur Steigerung seiner Produktivität übel
- behindert Bemühungen anderer, indem er seinen Arbeitsbeitrag nicht leistet
- reagiert mit unmäßiger Kritik oder Verachtung auf Autoritätspersonen
DSM-IV
Ein tiefgreifendes Muster negativistischer Einstellungen und passiven Widerstandes gegenüber Forderungen nach angemessener Leistung, das im frühen Erwachsenenalter beginnt und in einer Vielzahl von Zusammenhängen auftritt, angezeigt durch mindestens vier der folgenden Kriterien:
- widersetzt sich passiv der Erfüllung sozialer und beruflicher Routineaufgaben
- beklagt sich, von anderen missverstanden und missachtet zu werden
- ist mürrisch und streitsüchtig
- übt unangemessen Kritik an Autoritäten und verachtet sie
- bringt denen gegenüber Neid und Groll zum Ausdruck, die offensichtlich mehr Glück haben
- beklagt sich übertrieben und anhaltend über persönliches Unglück
- wechselt zwischen feindseligem Trotz und Reue
Diese Diagnose wird nicht gestellt, wenn das Verhalten während einer depressiven Episode auftritt oder auf eine dysthyme Störung zurückzuführen ist.[2]
Literatur
- Jody E. Long, Nicholas J. Long, Signe Whitson: The angry smile. The psychology of passive-aggressive behavior in families, schools, and workplaces. 2. Auflage. Pro-Ed, Austin TX 2009, ISBN 978-1-4164-0423-1.
- Nicholas J. Long, Jody E. Long: Managing passive-aggressive behavior of children and youth at school and home. The angry smile. Pro-Ed, Austin TX 2001, ISBN 0-89079-873-7.
- Scott Wetzler: Warum Männer mauern. Wie Sie Ihren passiv-aggressiven Mann besser verstehen und mit ihm glücklich werden. Goldmann Verlag, München 2003, ISBN 3-442-16474-5.
Einzelnachweise
- ICD-10, Version 2016; who.int abgerufen am 5. Okt. 2016.
- American Psychiatric Association., American Psychiatric Association. Task Force on DSM-IV.: Diagnostic and statistical manual of mental disorders: DSM-IV-TR. text revision, 4. Auflage. American Psychiatric Association, Washington DC 2000, ISBN 0-89042-024-6.