Pünktlichkeit
Als Pünktlichkeit bezeichnet man das präzise Einhalten eines vereinbarten Zeitpunkts oder Termins. Das gilt für persönliche Vereinbarungen wie auch für Verkehrsmittel. Pünktlichkeit wird in postindustriellen Gesellschaften mit Verlässlichkeit und Höflichkeit verbunden. Sie galt in der Vergangenheit und gilt auch heute noch neben Fleiß und Sparsamkeit als sogenannte bürgerliche Tugend. Bei Verkehrsmitteln wird die Einhaltung des Fahrplans oder Flugplans als Pünktlichkeit bezeichnet.
Bedeutung der Pünktlichkeit
In Kulturen, bei denen die Zeit eine so wichtige Rolle spielt wie in der postindustriellen Gesellschaft (Sprichwort: Zeit ist Geld), hat die gesellschaftliche Bedeutung der Pünktlichkeit stark zugenommen. Unpünktlichkeit gilt als unhöflich und eine Verspätung, die eine gewisse Toleranzgrenze überschreitet, kann als Beleidigung und Respektlosigkeit wahrgenommen werden. Wer viel reist oder sein eigenes Umfeld oft verlässt, muss ein feines Gespür für das Zeitgefühl der Menschen entwickeln, da sich zeitbezogene soziale Regeln auch innerhalb einer gegebenen Kultur schnell ändern können. So gilt es beispielsweise in der Deutschschweiz als höflich, ungefähr fünf Minuten vor dem verabredeten Zeitpunkt einzutreffen – in der Romandie jedoch ungefähr fünf Minuten nach dem verabredeten Zeitpunkt. Ein verschiedener Umgang mit der Zeit kann also zu großen Kommunikationsproblemen oder gar Konflikten führen (siehe auch Kulturschock).
Entwicklung des Zeitgefühls
Im Alltagsleben von auf die Landwirtschaft ausgerichteten Gesellschaften hat sekundengenaue Pünktlichkeit in der Regel keine Bedeutung. Die zeitliche Orientierung richtet sich eher nach dem Tageslauf der Sonne, den Mondzyklen sowie den Jahreszeiten und klimatischen Wechseln. In einer solchen Umgebung haben Uhren nur eine geringe Bedeutung und dienen höchstens der groben Orientierung.
In handelsbasierten Gesellschaften kann ein verstärktes Zeitbewusstsein festgestellt werden: Kaufleute, Handwerker und Geldverleiher ziehen die Zeit zur Berechnung ihrer Arbeitsleistung hinzu. Eine präzisere Gliederung der Zeiteinheiten sowie eine verstärkte Effizienz und Produktivität (= Produktion pro Zeiteinheit) sind die logische Folge. Die Zeit bekommt einen Preis und wird so zur wertvollen Ressource. Dieser Situation entsprach in Mitteleuropa in etwa das Spätmittelalter, was dann auch um 1300 mit der Erfindung der mechanischen Räderuhr eine technische Entsprechung fand. Mit der großflächigen Einführung von Uhren in den Städten des europäischen Mittelalters wurden die Handlungen der Stadtbewohner kalkulierbar und kontrollierbar – Pünktlichkeit begann, wichtig zu werden. Je präziser die Instrumente zur Zeitmessung wurden, desto pünktlicher, desto zeitgenauer, mussten die Menschen ihre Tätigkeiten ausrichten.
Pünktlichkeit in verschiedenen Kulturen
Moderne, westliche Gesellschaften haben ein lineares, horizontales Zeitverständnis, das eng mit dem Begriff Fortschritt gekoppelt ist, dem in unserem Wertesystem eine wichtige Rolle zugemessen wird. In östlichen Kulturen oder bei Naturvölkern wird die Zeit zyklisch oder vertikal, d. h. in mehreren gleichzeitig nebeneinander existierenden Zeitlinien, wahrgenommen. Gesellschaften mit einer horizontalen Zeitauffassung teilen ihre Zeit ein. Sie haben die Tendenz, jede Minute ihres Handelns zu planen und legen deswegen großen Wert auf Pünktlichkeit. Menschen in Gesellschaften mit einer vertikalen Zeitauffassung hingegen verhalten sich diesbezüglich flexibler. Der Anthropologe Edward T. Hall (siehe Lit.) spricht von monochronen bzw. polychronen Kulturen.
Pünktlichkeit in polychronen Kulturen
Die Zeitplanung in Kulturen mit einem vertikalen oder zyklischen Zeitverständnis ist oft relativ flexibel, und der Pünktlichkeit kommt deshalb eine nur untergeordnete Rolle zu. Die Menschen in Gesellschaften mit polychronem Zeitverständnis haben Zeit. In zwischenmenschlichen Beziehungen und Kommunikationen ist der korrekte Abschluss der Interaktion wichtiger als die Einhaltung eines wie auch immer gearteten Zeitplans.
Pünktlichkeit in monochronen Kulturen
In Nordeuropa, deutschsprachigen Ländern, Japan und den Vereinigten Staaten herrscht eine monochrone Einstellung gegenüber der Zeit: Es gibt nur eine Zeit; es wird vorausgesetzt, dass Verabredungen mit Angaben von Zeitpunkten oder Planungen, die mit Zeitabschnitten verknüpft sind, genau eingehalten werden. Die Einteilung der Zeit ist häufig straff organisiert, sodass Unpünktlichkeit einer einzelnen Komponente der Planung – beispielsweise der Eisenbahn, des Busses, des Flugzeuges oder des Staus auf der Autobahn – den Erfolg der Planung gefährden kann.
Sogar zwischenmenschliche Beziehungen werden nach der Uhr organisiert, die Pünktlichkeit wird oft den Bedürfnissen der Interaktion übergeordnet.
Konflikte
Dort, wo monochrone und polychrone Kulturen aufeinandertreffen, muss es zwangsläufig zu Konflikten kommen. So trieb die „chronische Unpünktlichkeit der Eingeborenen“ bereits christliche Missionare in Afrika und Polynesien im 16. Jahrhundert fast zur Verzweiflung. Robert Levine (siehe Lit.) erwähnt viele Beispiele auch aus dem 20. Jahrhundert, auch selbst erlebte. So verstehen beispielsweise die Menschen in Südamerika unter einem Termin um 10 Uhr eher „später Vormittag“, d. h. irgendeine Zeit zwischen ungefähr 9 Uhr 30 und Mittag und sind so nach westlichem Zeitverständnis zwangsläufig unpünktlich. In vielen Ländern sind aus diesem Grund Geschäftsöffnungszeiten oder die Fahrpläne öffentlicher Verkehrsmittel, auch wenn sie mit Zeitangaben versehen sind, eher relativ zu interpretieren und unterliegen vielen anderen Einflüssen als der Uhr. In einer monochronen Gesellschaft, wie in Deutschland oder der Schweiz, sind hingegen bereits regelmäßige Unpünktlichkeiten von wenigen Minuten bei der Bahn ein Politikum.
Siehe auch
Literatur
- Edward T. Hall: The Hidden Dimension. Anchor Books, 1990. ISBN 0-385-084-765
- Edward T. Hall: The Dance of Life – The other dimension of time Anchor Books, 1990. ISBN 0-385-192-487
- Robert Levine: Eine Landkarte der Zeit. Wie Kulturen mit der Zeit umgehen (Originaltitel: A Geography of Time, übersetzt von Christa Broermann und Karin Schuler). Piper, München / Zürich 1999. ISBN 3-492-22978-6; NA: 2003, ISBN 978-3-492-04560-5.