Niwchen
Die Niwchen (historische russische Bezeichnung: Giljaken) zählen zu den indigenen Völkern Russlands und Japans. Historisch lebten sie in Teilen der Amur-Region, auf Teilen Sachalins und möglicherweise im nördlichen Hokkaidō.[1][2]
Laut Volkszählung 2002 beträgt die Zahl ihrer Angehörigen 5.162 Menschen. Die Hälfte von ihnen bewohnt den Norden der Insel Sachalin. Nach ihnen wurden mehrere Schiffe benannt.
Sprache
Ihre Sprache, das Niwchische, gehört ebenso wie die korjakische und ketische Sprache zu den keine genetische Einheit bildenden paläosibirischen Sprachen, einer Gruppe von isolierten Sprachen Sibiriens. Die Sprache wurde in der Ära der Sowjetunion verschriftlicht. Die bekanntesten niwchischen Schriftsteller sind Tschuner Taksami und Wladimir Sangi.
Verwandtschaften werden vor allem mit einigen indigenen Sprachfamilien Nordamerikas vermutet. Michael Fortescue vermutet eine direkte Verwandtschaft mit den Salish-Sprachen, den Wakash-Sprachen und den Chimakum-Sprachen an der Nordwestküste Nordamerikas.[3] 2011 erweiterte Fortescue die Verwandtschaft durch die tschuktscho-kamtschadalischen Sprachen.[4] Ähnlich sieht es der Linguist Sergei L. Nikolajew. Er erweitert Fortescues Sprachfamilie zusätzlich mit den algischen Sprachen.[5][6]
Namensherkunft
Der Name der Niwchen kommt aus dem Niwchischem Nʼivxgu (Amur) beziehungsweise Nʼiɣvŋgun (Sachalin). Er bedeutet etwa „wir“ oder „verwandte Person“.
Geschichte
Die Niwchen, beziehungsweise deren Vorfahren werden als Ureinwohner der nördlichen Amur-Region angesehen und lebten auch in Teilen der Mandschurei und Sachalins. Sie standen in Kontakt und Handelsbeziehungen mit den frühen Han-Chinesen, den Ainu und den Japanern.[7]
Die erste eindeutig geklärte Erwähnung durch chinesische Chroniken fand erst im 12. Jahrhundert statt. Die Chinesen nannten die damaligen Niwchen „Jílièmí“ und beschrieben ihr Land als eigenständiges Königreich mit diplomatischen Beziehungen zur Yuan-Dynastie.[8]
Die Beziehungen zu den Ainu Japans waren generell aggressiv und kriegerisch, jedoch waren beide Seiten in Friedenszeiten gute Handelspartner.[9]
Die Mishihase (粛填), welche von chinesischen und japanischen Quellen erwähnt wurden, waren höchstwahrscheinlich ein niwchischer Stamm. Die Mishihase hatten kriegerische Auseinandersetzungen mit den Ainu als auch mit dem Japanern. Im Jahr 660 wurden die Mishihase von den Japanern besiegt.[10]
Die Niwchen in der Mandschurei und der Amur-Region hatten zu Beginn einen wichtigen politischen und kulturellen Stellenwert. So wird vermutet, dass das koreanische Königreich Goguryeo womöglich von einem niwchischen Clan regiert wurde, beziehungsweise Niwchen eine wichtige Position im Königreich hatten. Im Laufe der Zeit wurden die Niwchen aber von den Koreanern und Mandschu immer stärker verdrängt und verloren ihren Machtstatus.[11]
Seit dem Jahr 1856 waren beinahe alle Regionen der Niwchen unter fremder Herrschaft. Der Großteil der Niwchen lebte nun in russischen Kolonien oder im Japanischen Kaiserreich.[12] Die Niwchen in Russland haben heute offiziell Minderheitenrechte und eine autonome Provinz, sind aber noch immer Diskriminierung durch Russland ausgesetzt.[13]
Die in Karafuto lebenden wurden zusammen mit den Oroken 1926 nach Otasu umgesiedelt. Sie wurden in einem genjūmin jinmeibo genannten Familienregister erfasst, was als „äußeres“ Koseki nicht die volle japanische Staatsangehörigkeit verlieh.[14]
Seit 1990 gibt es eine monatliche Zeitung auf Niwchisch, die sich mit politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Themen der Niwchen befasst.[15]
Glaubensvorstellungen
Die Glaubenswelt der Niwchen basierte auf dem Animismus und einem Glauben an Geister, die überall wohnen – im Himmel, auf der Erde, im Wasser und in der Taiga. Jeder Bär galt als Sohn des Taiga-Herrschers, so dass die Jagd auf ihn mit einem Bärenkult verbunden wurde. Das Bärenfest wurde, je nach Sippe, im Januar oder Februar gefeiert. Der Bär wurde gefangen, aufgezogen und mehrere Jahre lang in einem Gehege gepflegt. Während der Feier wurde der Bär in ein spezielles Kostüm gekleidet, um die Häuser geführt und mit geschnitzten Holzwerkzeugen behandelt. Danach wurde das Tier mit einem Schuss aus dem Bogen geopfert. Eine Schale wurde auf den Kopf des getöteten Bären gestellt, um ihn zu „behandeln“. Dann wurde der Bär nach vielen Regeln gehäutet.
Im Gegensatz zu anderen Völkern am Amur verbrannten die Niwchen ihre Toten unter rituellen Klageliedern auf einem riesigen Lagerfeuer in der Taiga und praktizierten in alten Zeiten den Ritus der Himmelsbestattung.
Heutige Lebensweise
Die über viele Jahrhunderte währende russische Einflussnahme auf die Niwchen und andere kleine Völker Sibiriens hat kulturell zu einer weitgehenden Russifizierung geführt. Demgegenüber hat jedoch bereits die Sowjetunion 1989 weitreichende Maßnahmen beschlossen, um diesen Prozess zu stoppen, beziehungsweise umzukehren: So wurden muttersprachliche Schulklassen eingerichtet, um die Sprache zu erhalten. Lehrprogramme für Rentierhaltung, Jagd und Pelztierzucht wurden eingeleitet. Diese Gesetze wurden nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion vom russischen Staat im Dezember 1991 übernommen.[16]
Bei der Volkszählung 2010 gaben 1603 Menschen an, Jukagiren zu sein.[17]
Ein Teil der Niwchen betreibt Rentierhaltung mit saisonalem Wohnortwechsel, jedoch weitgehend sesshaft ohne Nomadismus. Die wichtigste Lebensgrundlage ist der Fischfang. Die früher bedeutsame Pelztierzucht ist durch den wirtschaftlichen Niedergang weitgehend zum Erliegen gelangt. Auch die Jagd auf Meeressäuger wird praktiziert.
Die größte Gefahr für die traditionellen Wirtschaftsweisen der Niwchen geht derzeit von den Offshore-Ölförderprojekten Sachalin I (USA, Japan, Indien, Russland) und Sachalin II (Russland, USA, Japan) aus. Diese hatten schon mehrfach ein massenhaftes Fischsterben verursacht. Seit Beginn des Jahres 2005 haben die Niwchen daher gemeinsam mit anderen indigenen Völkern Sachalins mehrere gewaltfreie Protestwellen gegen die Ölkonzerne abgehalten.
Der gewählte Vertreter der Niwchen, Alexej Limanso, war 2005 als Gast des infoe e.V. zu Gast in Deutschland und den Niederlanden.
Literatur
- Frederik Kortlandt: Nivkh as a Uralo-Siberian language. In: Fs. Rasmussen: Per aspera ad asteriscos. IBS, Innsbruck, 2004, S. 285–29
- Anton Tschechow: Die Insel Sachalin, Diogenes Zürich 1976
- Tschingis Aitmatov: Der Junge und das Meer, 1977
Weblinks
- http://www.infoe.de/home/Sibirien/
- http://www.pacificenvironment.org/russia/sakhalin/index.html
- Sound Materials of the Nivkh Language Phonetisches Material zum Nivchischen
- Die Nanaizen, Ultschen und Niwchen Reportage des Radiosenders „Stimme Russlands“
Einzelnachweise
- ウェブマガジン カムイミンタラ ~北海道の風土・文化誌 :オホーツク文化人とモヨロ貝塚 網走 流氷とともにやってきた古代民族の謎とロマンに魅せられた父子三代と研究者たち. Abgerufen am 11. September 2019.
- Richard Zgusta: The Peoples of Northeast Asia through Time: Precolonial Ethnic and Cultural Processes along the Coast between Hokkaido and the Bering Strait. BRILL, 2015, ISBN 978-90-04-30043-9 (com.au [abgerufen am 11. September 2019]).
- Michael D. Fortescue: Language Relations Across The Bering Strait: Reappraising the Archaeological and Linguistic Evidence. Bloomsbury Academic, 1998, ISBN 978-0-304-70330-2 (google.com [abgerufen am 11. September 2019]).
- Michael Fortescue: The relationship of Nivkh to Chukotko-Kamchatkan revisited. In: Lingua. Band 121, Nr. 8, 1. Juni 2011, ISSN 0024-3841, S. 1359–1376, doi:10.1016/j.lingua.2011.03.001 (sciencedirect.com [abgerufen am 11. September 2019]).
- Sergei L. Nikolaev / Сергей Львович Николаев: S.L. Nikolaev. 2015. Toward the reconstruction of Proto-Algonquian-Wakashan. Part 1: Proof of the Algonquian-Wakashan relationship. (academia.edu [abgerufen am 11. September 2019]).
- Sergei L. Nikolaev / Сергей Львович Николаев: S.L.Nikolaev. 2016. Toward the reconstruction of Proto-Algonquian-Wakashan. Part 2: Algonquian-Wakashan sound correspondences. (academia.edu [abgerufen am 11. September 2019]).
- Ivanov, S.; Levin, M.; Smolyak, A. V. (1964). "The Nikvhi". The Peoples of Siberia. The University of Chicago.
- Mattissen, p.515
- Chaussonnet, p. 35
- ウェブマガジン カムイミンタラ ~北海道の風土・文化誌 :オホーツク文化人とモヨロ貝塚 網走 流氷とともにやってきた古代民族の謎とロマンに魅せられた父子三代と研究者たち. Abgerufen am 11. September 2019.
- Janhunen, Juha (2005). "The Lost Languages of Koguryo". Journal of Inner and East Asian Studies. 2–2: 65–86.
- Jesup Exhibition. 12. Februar 2008, abgerufen am 11. September 2019.
- "Oil majors attempt to suppress Sakhalin indigenous peoples' protest" Archived 2007-03-14 at the Wayback Machine - Sakhalin Environment Watch (SEW) - (c/o www.sakhalin.environment.ru) - January 19, 2005
- Chapman, David [Hrsg.]; Japan's household registration system and citizenship: koseki, identification and documentation; London 2014 (Routledge); ISBN 9780415705448; S. 96 f.
- Shiraishi, pp. 8,14
- [URL https://www.gfbv.de/de/news/indigene-voelker-im-norden-russlands-und-sibiriens-174/.] In: Information der Gesellschaft für bedrohte Völker Südtirol, aus Die kleinen Völker des hohen Nordens und fernen Ostens Russlands. Ein aktueller Lagebericht mit geschichtlich-ethnographischer Einführung, Bozen 1998, abgerufen am 15. September 2019.
- Nationale Angaben der Volkszählung 2010 (Jukagiren-Zeile 202)