Neuere Urkundenhypothese
Die Neuere Urkundenhypothese ist eine Theorie der historisch-kritischen Bibelwissenschaft über die Entstehung der Tora (der fünf Bücher Mose), die im Gefolge der Aufklärung entwickelte wurde und im 19. Jahrhundert entfaltet wurde. Sie löste die Ältere Urkundenhypothese ab.
Forschungsgeschichte
Mit dem Zeitalter der Aufklärung begann in Europa auch die historisch-kritische Erforschung der Bibel. Seit dem 18. Jahrhundert wurde die Bibel nicht mehr nur in ihrer Funktion als geoffenbartes Wort Gottes rezipiert, sondern auch in ihrer Gestalt als historisch gewachsenes Buch wahrgenommen und untersucht. Die historische Kritik räumte ab dieser Zeit auf mit der über Jahrhunderte geltenden Vorstellung, Mose sei der Autor der Tora. Vielmehr sei sie in einem Jahrhunderte andauernden Wachstumsprozess aus verschiedenen, ehedem selbständigen Quellenschriften entstanden und durch Redaktionen immer wieder überarbeitet worden. Diese Quellenschriften liegen uns heute nicht mehr vor, sondern können nur noch mittels der Methoden der historischen Kritik rekonstruiert werden.
Den Anfang der historischen Kritik an der Tora markieren die Beobachtungen des Hildesheimer Pfarrers Henning Bernward Witter. Er entdeckte in den ersten drei Kapiteln des 1. Buchs Mose eine Doppelüberlieferung. Die Erschaffung der Welt, die Schöpfungsgeschichte, wird hier zweimal nacheinander, mit je unterschiedlichem Schwerpunkt und je unterschiedlichen Gottesbezeichnungen erzählt: einmal in Gen 1,1–2,4a unter Verwendung der Gottesbezeichnung Elohim und ein zweites Mal in Gen 2,4b–3,24 (meistens) unter Verwendung des Gottesnamens JHWH. Ebenso finden sich in der Genesis weitere Doppel- und Mehrfachüberlieferungen, etwa in der Sintfluterzählung (Gen 6–8 ), der Geschichte von der Gefährdung der Ahnfrau (Gen 12 ; 20 und 26 ) oder der Ätiologie für das Heiligtum in Bet-El (Gen 12 ; 28 und 35 ). Die Beobachtungen Witters wurden lange Zeit nicht rezipiert.
Erst ähnliche Einsichten des Franzosen Jean Astruc, welcher der Leibarzt des französischen Königs Ludwig XV. war, stießen die kritische Forschung am Alten Testament an. Er entdeckte in den Mehrfachüberlieferungen innerhalb der Tora (vor allem der Genesis) zwei durchlaufende und zwei weitere kürzere, ehedem unabhängige Quellenschriften, die dem jetzigen Text zugrunde liegen. Diese Quellenschriften seien von Mose in vier Kolumnen (Astruc nennt diese Quellen A, B, C und D) zusammengestellt worden.[1] Ein späterer, nachmosaischer Redaktor habe die vier Quellen ineinandergearbeitet.
Vorgeschichte: Ältere Urkundenhypothese
In Deutschland weitete Johann Gottfried Eichhorn die These Astrucs auf den Textkomplex Genesis 1 – Exodus 2 aus und schied die Quellen in einen vormosaischen Elohisten (benannt nach der Verwendung des Gottestitels „Elohim“) und einen nachmosaischen Jehowisten (benannt nach der Verwendung des Gottesnamens JHWH, rekonstruierte Aussprache „Jahwe“, der Name wird von gläubigen Juden nicht ausgesprochen).[2] Die Schreibung „Jehowist“ entspricht der damaligen Lesung des Gottesnamens JHWH, der bis ins 19. Jahrhundert irrtümlich als „Jehowa“ gelesen wurde. Karl David Ilgen baute die These Eichhorns weiter aus, indem er noch einen zweiten Elohisten annahm und daher insgesamt drei Quellen unterschied.[3] Forschungsgeschichtlich wurde diese Theorie unter der Bezeichnung Ältere Urkundenhypothese (auch: Quellenhypothese) bekannt.
Neuere Urkundenhypothese
Die Neuere Urkundenhypothese wurde in der Forschungsgeschichte der Toraforschung zum bislang bestimmendsten Erklärungsmodell für die Entstehungsgeschichte der fünf Bücher Mose.
Entwickelt wurde die Neuere Urkundenhypothese im ausgehenden 19. Jahrhundert von den Alttestamentlern Karl Heinrich Graf, Abraham Kuenen und vor allem von Julius Wellhausen. Diese Forscher stützten sich zwar auf die Ergebnisse der Älteren Urkundenhypothese, entwickelten aber andere Datierungen und Rekonstruktionen.
Wellhausen unterschied für die gesamte Tora vier Quellen:
- Jahwist (abgekürzt: J), aus der Zeit um 950 v. Chr.
- Elohist (abgekürzt: E), aus der Zeit um 800 v. Chr.
- Priesterschrift (abgekürzt: P), aus der Exilszeit um 550 v. Chr.
- (Ur-)Deuteronomium (abgekürzt: D), aus dem 7. Jh. v. Chr.
Nach Wellhausens These arbeitete ein Redaktor in die jahwistische Quellenschrift (J) die elohistische Quellenschrift (E) ein. Das Ergebnis wird als das Jehowistische Geschichtswerk (JE) bezeichnet, der Redaktor als RJE. Das Werk JE entstand unmittelbar nach dem Untergang des Nordreiches Israel (722 v. Chr.) und wurde später in nachexilischer Zeit wiederum in die Priesterschrift (P) eingearbeitet.[4]
Martin Noth baute die These Wellhausens zu Beginn des 20. Jahrhunderts weiter aus und verhalf ihr durch seine „Überlieferungsgeschichtlichen Studien“ zu langjähriger Geltung und breiter Rezeption in der alttestamentlichen Forschung. Nach Noths Ansicht entstand die jahwistische Quellenschrift um 950 v. Chr. in Kreisen um den Jerusalemer Königshof. Sie erzählt die Geschichte Israels von der Erschaffung der Welt bis zur Auskundschaftung des verheißenen Landes (vom ersten bis zum 4. Buch Mose).
Wellhausens These bildet einen Meilenstein der alttestamentlichen Forschung. Viele seiner Schlussfolgerungen werden zwar heute nicht mehr vertreten, es gibt aber keinen Konsens für eine ähnlich griffige Entstehungsgeschichte der Tora.
Kritik an der Urkundenhypothese
Die Päpstliche Bibelkommission bekräftigte 1906, dass Mose der Verfasser des Pentateuch sei und verwarf jede Form einer Urkundenhypothese (De mosaica authentia Pentateuchi).
Mose kann aber bei Abfassung des Pentateuch selbst Quellen (schriftliche Urkunden oder mündliche Überlieferungen) verwendet haben. Nach dem Urteil der römisch-katholischen Kirche ist es möglich, dass im Text des Pentateuch Überlieferungsfehler enthalten sind.
Literatur
- Henning Bernward Witter: Jura Israelitarum in Palaestinam terram Chananaeam, commentatione perpetua in Genesin demonstrata. Hildesheim 1711.
- Jean Astruc: Conjectures sur les mémoires originaux, dont il paroit que Moyse s'est servi pour composer le livre de la Genèse. Bruxelles 1753 (Digitalisat)
- Johann Gottfried Eichhorn: Einleitung in das Alte Testament. 3 Bände Leipzig 1780–1783.
- Karl David Ilgen: Die Urkunden des jerusalemischen Tempelarchivs in ihrer Urgestalt. Band 1: Die Urkunden des ersten Buchs von Moses in ihrer Urgestalt. Halle 1798.
- Julius Wellhausen: Die Composition des Hexateuchs und der historischen Bücher des Alten Testaments. Berlin 1876.
- Julius Wellhausen: Prolegomena zur Geschichte Israels. Berlin 1878.
- Martin Noth: Überlieferungsgeschichtliche Studien. Teil 1: Die sammelnden und bearbeitenden Geschichtswerke im Alten Testament (Schriften der Königsberger Gelehrten Gesellschaft, Geisteswissenschaftliche Klasse 18,2). Halle: Niemeyer 1943.
- Martin Noth: Überlieferungsgeschichte des Pentateuch. Stuttgart: Kohlhammer 1948.
Einzelnachweise
- Astruc, Conjectures, S. 143f.
- Eichhorn, Einleitung III, S. 22f.
- Ilgen, Urkunden, S. 393f.
- Wellhausen, Prolegomena, S. 8.