Nemesis
Nemesis (griechisch Νέμεσις Némesis, deutsch ‚Zuteilung (des Gebührenden)‘) ist in der griechischen Mythologie die Göttin des gerechten Zorns, der ausgleichenden Gerechtigkeit, wodurch sie zur Rachegottheit wurde.
Ihre Begleiterin ist Aidos, die Göttin der Scham. Nemesis bestraft vor allem die menschliche Selbstüberschätzung (Hybris) und die Missachtung der Themis, (der Göttin) des göttlichen Rechts und der Sittlichkeit.
Im späten 20. Jahrhundert ist durch Einfluss der Popkultur eine Bedeutungsveränderung im Sinne eines ewigen Gegenspielers, eines Erzrivalen, einer Art persönlichen Todesengels, eines Todfeindes, eines nicht personifizierten Todbringers oder einer tödlichen Bedrohung eingetreten. Die Aussage „Ich bin deine Nemesis“ wird als „Ich bin dein Untergang“ statt als „Du bekommst, was du verdienst“ interpretiert.
Mythos
Sie ist eine Tochter der Nyx („Nacht“), entweder nur aus dieser geboren,[1] oder die Tochter der Nyx und des Erebos[2], bzw. Tochter des Okeanos.[3]
Zeus paarte sich mit Nemesis in der Gestalt eines Schwans, nachdem sie zunächst aus Scham und gerechtem Zorn vor seinen Nachstellungen geflüchtet war. Auf ihrer Flucht über das Meer verwandelte sie sich in einen Fisch, am Rand der Erde angelangt, schließlich in eine Ente oder Gans, mit der Zeus als Schwan die Helena zeugte, um deretwillen schließlich der Trojanische Krieg geführt wurde.[4]
In einer anderen Version der Geschichte spielt Aphrodite die Nemesis Zeus zu, indem sie sich als Adler auf den Schwan stürzt, der sich in den Schoß der Nemesis „flüchten“ kann. In beiden Erzählungen wird das Ei zu Leda gebracht, die Helena aufzieht – wenngleich sie nicht selbst die Mutter Helenas ist. Schwan und Adler wurden zu den entsprechenden Sternbildern.[5]
Nach Bakchylides ist Nemesis mit Tartaros die Mutter der Telchinen von Rhodos.[6]
In Ovids Metamorphosen bestraft sie den Narkissos, weil dieser die Nymphe Echo und andere durch seine Unerbittlichkeit zugrunde gerichtet hat.[7]
Ihre Attribute sind mannigfach. Unter anderem hält sie einen Zweig vom Apfelbaum in der Hand und wird von einem Greif begleitet. Wie die Erinys oder Furien kann auch sie in der Mehrzahl (Nemeseis) angerufen werden. Zwei Nemeseis wurden in Smyrna verehrt, die bei dem dortigen Heiligtum Alexander dem Großen im Traum erschienen, als er erschöpft von der Jagd unter einer Platane schlief: Sie forderten ihn zur Neugründung der Stadt Smyrna auf, wo sich ihre älteste Kultstätte befand. Das Orakel des Apollon zu Klaros bestätigte den Auftrag.[8]
In Aischylos’ Der gefesselte Prometheus heißt Nemesis auch Adrasteia („die Unentfliehbare“), in Ovids Metamorphosen Rhamnusia nach ihrem Heiligtum mit dem berühmten Kultbild in Rhamnous.
Dass im Unterschied zum modernen Verständnis die Göttin Nemesis mehr Richterin als Rächerin ist, macht der Orphische Hymnos „An Nemesis“ deutlich:
Ich rufe Dich, Nemesis!
Höchste!
Göttlich waltende Königin!
Allsehende, Du überschaust
Der vielstämmigen Sterblichen Leben.
Ewige, Heilige, Deine Freude
Sind allein die Gerechten.
Aber Du hassest der Rede Glast,
Den bunt schillernden, immer wankenden,
Den die Menschen scheuen,
die dem drückenden Joch
Ihren Nacken gebeugt.
Aller Menschen Meinung kennst Du,
Und nimmer entzieht sich Dir die Seele
Hochmütig und stolz
Auf den verschwommenen Schwall der Worte.
In alles schaust Du hinein,
Allem lauschend, alles entscheidend.
Dein ist der Menschen Gericht.
[…][9]
Friedrich Schiller dichtet:
„Es ist des Wohllauts mächtige Gottheit,/ die zum geselligen Tanz ordnet den tobenden Sprung, /die, der Nemesis gleich, an des Rhythmus goldenem Zügel / lenkt die brausende Lust und die verwilderte zähmt.“
Astronomie
Der 1872 entdeckte Hauptgürtelasteroid (128) Nemesis wurde nach der Göttin benannt.
Außerdem ist Nemesis der Name eines hypothetischen Himmelskörpers, welcher das Sonnensystem zu einem Doppelsternsystem machen würde.[10][11] Die Hypothese wurde 1984 von David M. Raup und J. John Sepkoski aufgestellt, als sie frühere Massensterben analysierten. Dabei entdeckten sie, dass diese in Abständen von etwa 27 Millionen Jahren auftreten. Als Erklärung postulierten sie einen Begleitstern der Sonne, welcher zu dieser Zeit die Oortsche Wolke durchquere und so mehr Kometen und Asteroiden als sonst ins Sonnensystem lenke. Alternativ wurde dies auch durch einen Planeten (Tyche) erklärt.[12] Neuere Erkenntnisse widersprechen beiden Hypothesen.[13]
Literatur
- Hans Herter: Nemesis. In: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft (RE). Band XVI,2, Stuttgart 1935, Sp. 2338–2380.
- Paulina Karanastassis, Federico Rausa: Nemesis. In: Lexicon Iconographicum Mythologiae Classicae (LIMC). Band VI, Zürich/München 1992, S. 733–770.
- Noel Deeves Robertson: Nemesis. The history of a Social and Religious Idea in Early Greece. Ithaca N.Y 1964, OCLC 638349797 (Philosophische Dissertation, Cornell University, Ithaca NY, 1964).
- Otto Rossbach: Nemesis. In: Wilhelm Heinrich Roscher (Hrsg.): Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie. Band 3,1, Leipzig 1902, Sp. 117–166 (Digitalisat).
- Mary Scott: Aidos and Nemesis in the Works of Homer, and their relevance to Social or Co-operative Values. In: Acta Classica. Bd. 23, Nr. 1, 1980, ISSN 0065-1141, S. 13–35, (Digitalisat (PDF; 1,54 MB)).
- Jan Stenger: Nemesis. In: Der Neue Pauly (DNP). Band 8, Metzler, Stuttgart 2000, ISBN 3-476-01478-9, Sp. 818–819.
- Hermann Posnansky: Nemesis und Adrasteia. Eine mythologisch-archäologische Abhandlung (= Breslauer philologische Abhandlungen. Band 5, Heft 2, ISSN 0866-9155), Koebner, Breslau 1890, (Digitalisat).
- Marion Tradler: Die Ikonographie der Nemesis. Mainz 1998 DNB 959198660 Dissertation, Universität, Mainz, 1998
Belletristik
- Übers. Irene Holicki: Isaac Asimov, Nemesis. Heyne, München 1989 u.ö.
Weblinks
- Nemesis im Theoi Project (englisch)
- Nemesis-Votivrelief aus dem Amphitheater von Virunum
- Nemesis, in: Das grosse Kunstlexikon von P.W. Hartmann
Einzelnachweise
- Hesiod Theogonie 233. Pausanias 7,5,3
- Hyginus Mythographus Fabulae praefation. Cicero De Natura Deorum 3,17
- Pausanias 7,5,3. Nonnos Dionysiaka 48,375. Johannes Tzetzes zu Lykophron 88
- Kypria Frag. 8. Bibliotheke des Apollodor 3,127. Pausanias 1,33,4
- Hyginus Mythographus Astronomica 2,8
- Bakchylides Frag. 52
- Ovid Metamorphosen 3,406
- Pausanias 7,5,1ff
- Orphische Hymnen 62. Zitiert nach: Orpheus. Altgriechische Mysterien, übertr. und erl. von Joseph Otto Plassmann, Diederichs Gelbe Reihe, Köln 1982, S. 103.
- Marc Davis, Piet Hut, Richard A. Muller, Nature, April 1984, Seite 715 ff.
- Marc Davis, Piet Hut, Richard A. Muller, Nature Februar 1985 Seite 503
- Anatol Johansen: Riesenplanet Tyche – geheimnisvoll und übersehen. In: welt.de. 18. Februar 2011, abgerufen am 23. August 2019.
- Ralph-Mirko Richter: WISE: Kein Planet X im äußeren Sonnensystem. In: raumfahrer.net. 11. März 2014, abgerufen am 12. April 2018.