Nachfragepolitik
Die Nachfragepolitik (auch nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik) geht davon aus, dass das gesamtwirtschaftliche Angebot und damit auch die Höhe der Produktion und der Grad der Beschäftigung von der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage bestimmt wird. Sie steht damit im direkten Gegensatz zum Sayschen Theorem und der Angebotspolitik.
Theoretische Grundlagen
Die Nachfragepolitik greift auf die theoretischen Grundlagen von John Maynard Keynes zurück und wird daher auch Keynesianismus genannt. Unter dem Eindruck des Börsencrashs von 1929 entwickelte Keynes die These, dass es zwar auf den Märkten durchaus eine Tendenz zum Gleichgewicht gebe, sich dieses aber auch als Gleichgewicht von niedriger Produktion, fehlender Investition und hoher Unterbeschäftigung einstellen könne. Bei rückläufiger Konsumnachfrage der privaten Haushalte stellen die Unternehmen mangels positiver Renditeerwartungen die Investitionen ein, was einen weiteren gesamtgesellschaftlichen Nachfrageausfall bewirke. Um der Verunsicherung der Märkte entgegenzuwirken, seien permanente und langfristige Investitionen des Staates nötig.
Der Ökonom J. A. Hobson entwickelte bereits ab 1889 (und 1928 davon unabhängig auch William Trufant Foster und Waddill Catchings) die Idee, dass ein Mangel an Nachfrage für Wirtschaftskrisen verantwortlich sei, gebrauchte dafür aber den Ausdruck underconsumption (wörtl. etwa: Unternachfrage). Dies befand sich jedoch zu dieser Zeit außerhalb des wirtschaftswissenschaftlichen Mainstreams. 1936 belebte der britische Ökonom Keynes in seinem Buch The General Theory of Employment, Interest and Money diese Sichtweise wieder. Er argumentierte, dass Kapital nicht durch Sparen geschaffen werde, sondern dadurch, dass Besitzer von Produktionsanlagen eine steigende Nachfrage nach ihren Produkten wahrnehmen.[1] Wie Keynes schrieb: „[Kapital] wird nicht durch die Neigung zum Sparen geschaffen, sondern als Reaktion auf die Nachfrage, die sich aus dem tatsächlichen und voraussichtlichen Konsum ergibt.“ Entsprechend argumentierte er, Sparsamkeit sei kontraproduktiv für das Wachstum, da der Konsum sinke. Er nannte dies das „Paradox der Sparsamkeit“.
Die Nachfragepolitik ist eine antizyklische Konjunkturpolitik, der Staat handelt antizyklisch zur Konjunktur. Die Stabilisierung des Konjunkturzyklus kann sowohl durch nachfrage- als auch durch angebotsorientierte Maßnahmen versucht werden. Überlegungen, die Nachfrage durch ein Deficit spending des Staates anzukurbeln, wurden des Öfteren scharf kritisiert.
Maßnahmen
Die Stärkung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage durch Erhöhung der Konsumausgaben kann durch folgende Maßnahmen erfolgen:
- Unterstützung privater Haushalte durch Lohnsteuerentlastungen oder Zuschüsse
- Erhöhung der Investitionen des Staates
- Erhöhung der Ausgaben des öffentlichen Sektors durch Erhöhung seines Konsums
- Verbrauchsfördernde Rahmenbedingungen
- Steuerpolitik
Situation in Deutschland
Nach der ordoliberalen Phase der Sozialen Marktwirtschaft begann in der Bundesrepublik Deutschland eine Phase der keynesianischen Globalsteuerung.[2] Diese Politik wurde im Stabilitäts- und Wachstumsgesetz aus dem Jahre 1967 gesetzlich verankert.
Ein typischer Vertreter der Nachfragepolitik in Deutschland war Helmut Schmidt, der in seiner Zeit als Bundeskanzler mehrere Konjunkturprogramme zur Ankurbelung der schwächelnden Wirtschaft beschloss. In den 1950er bis Mitte der 1970er Jahre folgten die meisten europäischen Regierungen der Nachfragepolitik. In den 80er Jahren wurde in der BRD wieder stärker auf eine angebotsorientierte Wirtschaftspolitik gesetzt.[3] Im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung der Bundesregierung („Die 5 Wirtschaftsweisen“) vertrat 2007 nur noch Peter Bofinger teilweise nachfrageorientierte Positionen. Im Herbstgutachten 2008 „Die Finanzkrise meistern – Wachstumskräfte stärken“ finden sich aber wieder zum Teil nachfragepolitische Empfehlungen:
- Es sollen deutliche Impulse zur Stärkung der internen Wachstumskräfte und der Binnennachfrage gesetzt werden.
- Die EZB soll Zinssenkungsspielräume nutzen.
- Die Fiskalpolitik soll im Rahmen der „Goldenen Regel der Finanzpolitik“ Investitionen kreditfinanzieren.
- Solange die Produktionslücke im negativen Bereich sei, könnten auch Bildungsausgaben über staatliche Kredite finanziert werden.
Vor dem Hintergrund der Finanzkrise ab 2007 wurde staatliche Nachfragepolitik in der damaligen Lage wieder zunehmend als dringlich eingestuft.[4]
Kritik an der nachfrageorientierten Wirtschaftspolitik
Kritiker weisen auf die inflationstreibenden Aspekte von Geldpolitik hin. Defizitfinanzierte Fiskalpolitik könne über steigende Zinssätze zur Schwächung der privaten Investitionstätigkeit führen (crowding-out).
Außerdem könne der Staat erst mit einer Zeitverzögerung auf einen konjunkturellen Rückgang reagieren, so dass die Wirtschaft möglicherweise schon wieder im Aufschwung sei, bevor die Maßnahmen wirksam würden. Statt antizyklisch zu wirken, würden die Zyklen noch verstärkt. Zu diesen Verzögerungen, den sogenannten time lags, gehört zum einen der inside lag: Der Zeitpunkt, an dem die Maßnahme nötig wäre, bis hin zu dem, an dem sie als nötig erkannt wird, ist der recognition lag, bis zum Ergreifen der Maßnahme vergeht der action lag. Danach beginnt der outside lag bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Maßnahme schließlich greift. Des Weiteren ergibt sich ein Dosierungsproblem, ob zum Beispiel 1, 2 oder gar 5 % des BIP als Konjunkturantrieb ausgegeben werden sollen.
Ferner werden gegen die Nachfragetheorie Kreislaufüberlegungen angeführt: Eine Erhöhung der staatlichen Nachfrage geht zu Lasten privater Ersparnis, die ihrerseits über das Bankensystem Investitionen finanziert. Nachfragepolitik verändere daher eher die Struktur als die Gesamthöhe der aggregierten Nachfrage. Vielmehr sei die inländische Nachfrage stets durch die inländische (reale) Geldmenge gegeben, multipliziert mit der Umlaufgeschwindigkeit des Geldes. Modernere Formen der Nachfragetheorie knüpfen deshalb eher an die Möglichkeiten der Zentralbank an, die reale Geldmenge zu erhöhen. Da die Zentralbank jedoch allenfalls die nominale Geldmenge steuern kann, hängt die Wirksamkeit von Geldpolitik entscheidend davon ab, wie schnell das Preisniveau auf Änderungen der nominalen Geldmenge reagiert. In neukeynesianischer Sicht gibt es kurzfristig wirksame Preisstarrheiten, die eine Beeinflussung der Nachfrage mit geldpolitischen Mitteln möglich erscheinen lassen. Nach neoklassischer Auffassung passen sich Preise neuen Gegebenheiten hinreichend schnell an; zudem bestehe die Gefahr, dass inflationäre Erwartungen entstünden. Dadurch könnten die Preise stärker ansteigen als aufgrund der nominalen Geldmengenänderung eigentlich gerechtfertigt, so dass die gesamtwirtschaftliche Nachfrage falle statt steige.
Deficit spending, d. h. die kreditfinanzierte Nachfrageausweitung des Staats in einer Rezession impliziert, dass in Boomphasen die staatliche Nachfrage zurückgefahren und die Steuern erhöht werden. Das ist aus politökonomischer Sicht für die Regierung unattraktiv, die wiedergewählt werden will, so dass die Gefahr steigender Staatsverschuldung besteht.
Außerdem ist es nach Meinung der Gegner der Nachfragepolitik für den Staat sehr kompliziert, überhaupt auf Strukturveränderungen in der Weltwirtschaft zu reagieren. Da die Folge einer solchen Strukturveränderung meist Absatzprobleme einzelner Industriezweige sind, sollten diese Branchen von alleine reagieren und sich anpassen (Produktvielfalt erhöhen, Stellenabbau). Würde der Staat hier aber eingreifen, komme es zu strukturverzerrenden Wirkungen und einer Verzögerung nötiger Anpassungsprozesse, was die Probleme nur vergrößere.
Literatur
- Peter Bofinger: Grundzüge der Volkswirtschaftslehre, Pearson, München 2007
- Peter Bofinger: Wir sind besser, als wir glauben. Wohlstand für alle, Pearson, München 2005
Einzelnachweise
- The general theory of employment, interest and money / by John Maynard Keynes. 1936 (visuallibrary.net [abgerufen am 31. August 2021]).
- Jürgen Pätzold: Soziale Marktwirtschaft
- Paetzold
- Z.B. „Gleichwohl erweist sich eine staatliche Nachfragepolitik in der gegenwärtigen Lage als dringlich. Die Tatsache, dass sie in den vergangenen Jahrzehnten unangemessen angewendet wurde, ist kein ernsthaftes Gegenargument.“ Michael Hüther: „Drei Maßnahmen gegen den Absturz“ in: iwd, Institut der deutschen Wirtschaft Köln, Jg. 35, 1. Januar 2009.