Musarion
Musarion oder Die Philosophie der Grazien. Ein Gedicht in drei Büchern ist eine philosophische Verserzählung von Christoph Martin Wieland. Er arbeitete daran zwischen 1764 und 1767, veröffentlichte es aber erst 1768 beim Verlagsbuchhändler Reich in Leipzig, nachdem sein Verleger Geßner in Zürich den Text wegen befürchteter Schwierigkeiten mit der Zensur abgelehnt hatte. Für folgende Ausgaben wurde der Text immer wieder überarbeitet; die Ausgabe letzter Hand erschien 1795 im 9. Band von Wielands Sämmtlichen Werken.
Wieland kritisiert darin Schwärmerei und Dogmatismus und plädiert stattdessen – im Sinne der Aufklärung – für eine maßvolle, weltzugewandte Denk- und Lebensweise.
Handlung
Die Handlung findet auf einem Landgut bei Athen zur Zeit des Hellenismus statt.
Erstes Buch
Der junge Phanias geht verdrossen und gedankenvoll in seinem Garten umher. Vor kurzem genoss er noch in Athen das Leben in vollen Zügen – doch nun, da er kein Geld mehr hat, beklagt er die Eitelkeit alles Irdischen und die Unbeständigkeit der Freundschaft. Wie Herkules am Scheideweg glaubt er, zwischen einem Leben in Genuss und Wollust einerseits und einem tugendhaften Leben auf der Suche nach Ruhm und Weisheit andererseits wählen zu müssen. Er wählt Letzteres und flieht deshalb vor allen Verlockungen.
Er erblickt seine frühere Freundin Musarion und verbirgt sich vor ihr, sie folgt ihm jedoch. Aus ihrem Dialog erfährt der Leser, dass die beiden lange befreundet waren, bis er sie einmal schlafend überraschte und sich in diesen Anblick sofort verliebte. Sie wollte ihn (und sich selbst auch) von dieser „Schwärmerei“ kurieren, durch eine oberflächliche Beziehung zu einem „Geck[en]“. Dies gab den Anstoß zu Phanias' Wandlung: Die Zeit der Leidenschaften und der Schwärmerei sei für ihn vorbei. Musarion verspottet ihn, weil er sich nach Art der Kyniker in Lumpen kleidet, und ermahnt ihn, er solle sich seine Denkungsart nicht von den Wechselfällen des Schicksals bestimmen lassen: Wahres Glück liege in der Freundschaft und im Genuss der Natur, nicht in materiellem Wohlstand. Phanias jedoch will sich von allen äußeren Reizen abschotten und Glück nur aus seinem Inneren schöpfen – ein verliebter Blick Musarions bringt ihn jedoch aus der Fassung und widerspricht seiner gerade geäußerten Haltung.
Der Abend kommt, und Musarion bittet Phanias, bei ihm übernachten zu können, um nicht in der Nacht in die Stadt zurückkehren zu müssen. Er wehrt zunächst ab und gibt dann zu, bereits Besuch zu haben: Zwei Philosophen, nämlich Kleanth, ein Stoiker, und Theophron, ein Pythagoreer. Musarion besteht darauf, die beiden kennenzulernen, und beide gehen zum Haus.
Zweites Buch
Die Philosophen sind einander inzwischen in die Haare geraten und prügeln sich, als Musarion und Phanias im Haus eintreffen. Phanias ist die Situation peinlich, Musarion scheint durch ironische Kommentare den Philosophen zu schmeicheln, macht sich jedoch eigentlich über sie lustig. Dass gerade der Stoiker Kleanth sich von ihr schmeicheln lässt, offenbart, dass niemand vor Eigenliebe gefeit ist. Musarion möchte, dass bei Tisch Kleanth und Theophron über ihre Gedanken debattieren, damit sie davon lernen könne. Kleanth prahlt mit seiner tugendhaften, enthaltsamen Lebensweise, während Theophron den Genuss verteidigt – sofern es geistiger Genuss ist. Von allem Körperlichen soll die Seele gereinigt und dadurch gottähnlicher gemacht werden – ironischerweise starrt er während dieser Ausführungen auf Musarions Brüste, wodurch das Gespräch ins Stocken gerät. Auch verteidigt er den Genuss der Musik, da sie ein Abbild der Sphärenharmonie sei.
Beide Philosophen blamieren sich durch ein Verhalten, das ihren Lehren widerspricht: Während Theophron den Blick nicht von Musarions Sklavin Chloe lassen kann und sie mit Musik und Tanz beeindrucken will, trinkt Kleanth zu viel Wein, redet sich in Rage und muss am Ende von den anderen hinausgetragen werden. Unterdessen verständigen sich Phanias und Musarion mit Blicken: Sie bemerkt, dass er (trotz seiner Beteuerungen) immer noch in sie verliebt ist.
Drittes Buch
Phanias besucht nachts Musarion in ihrem Zimmer und gesteht ihr seine Liebe. Musarion erwidert, sie liebe ihn auch, jedoch mit „sanftem Triebe“ und nicht mit „Schwärmerei“. Als sie sich seiner Umarmung entzieht, ist er gekränkt, und sie erklärt, zunächst sichergehen zu wollen, dass es sich bei ihm nicht nur um eine Laune handelt.
Dann sprechen die beiden über Kleanth und Theophron: Phanias macht sich über sie lustig und schämt sich, sie vorher noch als weise Männer bewundert zu haben. Musarion jedoch sieht Sinnvolles in ihren beiden Systemen und findet es „menschlich“, dass die Philosophen selbst weniger weise sind als die Systeme, die sie verteidigen. Auch hat sie Verständnis für Phanias: In einer Situation, in der ihm jeder Genuss geraubt war, nahm er Lehren willig auf, die die Entbehrung preisen und die Welt der Ideen höher schätzen als irdische Genüsse.
Erst dann gibt Musarion sich Phanias hin. Das Paar hat eine glückliche Zeit „gleich fern von Dürftigkeit und stolzem Überfluß“ vor sich. Phanias hat nicht durch die Philosophen, sondern durch die Liebe erkannt, was wahres Glück ist.
Vorwort der 2. Auflage
Für die im März 1769 erschienene zweite Auflage verfasste Wieland anstelle eines Vorworts eine Art offenen Brief an Christian Felix Weiße. Darin bedankt er sich bei Weiße für dessen Lob der Musarion und äußert seine Freude über „das günstige Urtheil so vieler andrer Kenner“, das er für dieses Werk bekommen hat. Wieland glaubte, „nach so vielen allzu unvollkommenen Versuchen“ nun ein Werk geschaffen zu haben, das ihn überdauern wird.
Weiterhin bekennt er, dass er die Figur der Musarion als „getreue Abbildung der Gestalt [s]eines Geistes“ konzipiert hat, und gibt einen Einblick in seine eigene Lebenshaltung:
„Ihre Philosophie ist diejenige, nach welcher ich lebe; ihre Denkungsart, ihre Grundsätze, ihr Geschmack, ihre Laune sind die meinigen. Das milde Licht, worinn sie die menschlichen Dinge ansieht; dieses Gleichgewicht zwischen Enthusiasmus und Kaltsinnigkeit, […] dieser leichte Scherz, wodurch sie das Überspannte, Unschickliche, Schimärische […] auf eine so sanfte Art, daß sie gewissen harten Köpfen unmerklich ist, vom wahren abzuscheiden weiß; diese sokratische Ironie, […] diese Nachsicht gegen die Unvollkommenheiten der menschlichen Natur – […] Alle diese Züge […] sind die Lineamenten meines eignen Geistes und Herzens.“
Stil
Wieland verbindet einen kunstvollen, komplexen Satzbau mit einem heiter-ironischen, stellenweise spöttischen Tonfall. Er verwendet eine Vielzahl von Anspielungen und Verweisen auf Figuren der griechischen und römischen Mythologie und Geschichte sowie auf Personen seiner Gegenwart – da auch dem zeitgenössischen Leser nicht alle Referenzen bekannt sein konnten, fügte er dem Text erläuternde Anmerkungen hinzu.
Die Redewendung „den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen“ stammt von Wieland – er verwendete sie in mehreren seiner Werke, auch in Musarion: Im zweiten Buch kommentiert der auktoriale Erzähler die Tatsache, dass Kleanth und Theophron die zärtlichen Blickwechsel zwischen Musarion und Phanias nicht bemerken, mit den Worten: „Die Herren dieser Art blendt oft zu vieles Licht, / Sie sehn den Wald vor lauter Bäumen nicht.“
Weblinks
Literatur
- Wielands Werke in vier Bänden. Dritter Band. Ausgewählt und eingeleitet von Hans Böhm. Aufbau-Verlag Berlin und Weimar 1967, S. 5–49.
- Dirk von Petersdorff: Wieviel Metaphysik braucht die Aufklärung? : Christoph Martin Wielands "Musarion". In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken. Nr. 667 (11/2004), S. 1009–1019.
- Gottfried Willems: Von der ewigen Wahrheit zum ewigen Frieden. ›Aufklärung‹ in der Literatur des 18. Jahrhunderts, insbesondere in Lessings ›Nathan‹ und Wielands ›Musarion‹. In: Wieland-Studien Bd. 3. Hg. v. Klaus Manger und v. Wieland-Archiv Biberach. Sigmaringen: Thorbecke 1996. S. 10–46.
- Gottfried Willems: Hans Castorp und Herkules am Scheideweg. Das Leib-Seele-Problem und seine Wendung im Sinne aufgeklärter Humanität in Thomas Manns "Zauberberg" und Wielands "Musarion". In: Bejahende Erkenntnis. Festschrift für T. J. Reed. Tübingen 2004. S. 145–162.