Marktsackpfeife
Der Begriff Marktsackpfeife bezieht sich auf eine sehr laut klingende, mundgeblasene Sackpfeife mit einer konisch gebohrten Spielpfeife und ein bis drei Bordunen. Diese Bezeichnung wird allgemein auf die Tatsache zurückgeführt, dass jene lautstarke Sackpfeife auf Mittelaltermärkten gebraucht wird, wobei sie ursprünglich für gewöhnliche Volksfeste in der DDR entwickelt wurde und dort erstmals in Erscheinung trat. Die Bauform mit zwei Bordunen ist am weitesten verbreitet. Die konisch gebohrte Spielpfeife hat üblicherweise sieben vorderständige Grifflöcher und ein rückständiges Loch für den linken Daumen; die Griffweise der Spielpfeife ist normalerweise offen, wobei die offenen Griffe den Tonvorrat einer dorischen Tonleiter auf dem Grundton A ergeben. Es besteht bei vielen Marktsackpfeifen zusätzlich die Option, den Bordun einen Ton tiefer zu stimmen, um somit in G spielen zu können. Die Gabelgriffe zur Erzeugung leiterfremder Töne funktionieren je nach Instrument gut bis fast gar nicht, jedoch wird der Gabelgriff zur Erzeugung der kleinen Moll-Sexte (f‘‘ auf dem Grundton A) bei nahezu allen Herstellern als Standard angesehen. Die Spielpfeife ist mit einem Doppelrohrblatt, die Bordune sind mit Einfachrohrblättern ausgestattet. Sowohl die Spielpfeife als auch die Bordune sind üblicherweise mit großen Schallbechern versehen, die meist einem Exponentialtrichter angenähert sind.
Entstehungsgeschichte
Die ersten Rekonstruktionen mittelalterlicher deutscher Sackpfeifen entstanden schon in den 1970er Jahren in Westdeutschland, man orientierte sich dabei an mittelalterlichen Abbildungen[1] und an den Blockflötenstimmungen F und C. Die moderne Marktsackpfeife wurde u. a. von Klaus Stecker und Roman Streisand in den frühen 1980er Jahren entwickelt. Roman Streisand wollte für die Freiluftauftritte seiner Gruppe Instrumente zur Verfügung haben, die bezüglich der Lautstärke den Great Highland Bagpipes entsprachen. Daher wurde die Spielpfeife mit einem steilen Konus und Schalltrichter wie bei der bretonischen Bombarde gebaut. Ursprünglich war man bezüglich der Optik um ikonografische Originaltreue bemüht, so dass bis heute viele Marktsackpfeifen ein optisch relativ authentisches Design mit Oktav- und Quintbordun im gegabelten Doppelholzstock besitzen.
Vergleich zu mittelalterlichen Sackpfeifen
Es existieren mehrere Originalfunde von Holzblasinstrumenten aus dem Spätmittelalter, welche derzeit den Archäologen und Musikwissenschaftlern bekannt sind. Der wichtigste Fund ist die sogenannte Rostocker Spielpfeife[2][3], ein Rohrblattinstrument welche auf das frühe 15. Jahrhundert datiert wird.[4] Das Design der Pfeife lässt den Schluss zu, dass diese mit großer Wahrscheinlichkeit einmal in einer Sackpfeife Verwendung fand, was auch durch ikonografische Quellen belegt werden konnte (siehe Bild rechts). Damit ist die Rostocker Spielpfeife tatsächlich das einzige der Wissenschaft vorliegende physische Beispiel einer Sackpfeife aus dem historischen Mittelalter. Rekonstruktionsversuche durch Alexander Remdes und Horst Grimm (siehe Gehler 2004) haben gezeigt, dass diese leicht konisch gebohrte Spielpfeife eine chromatische Tonskala zwischen Grundton as‘ und f‘‘ besitzt und eine kleine Untersekunde als Grund-bzw. Leitton aufweist.
Ein weiterer Rekonstruktionsversuch liegt von Thomas Rezanka vor[5] welcher unter Einbeziehung zusätzlicher Informationen über die Spielpfeife getätigt wurde. Der sich dabei ergebene Tonumfang und die Chromatik sind dem der vorherigen Rekonstruktion von Grimm und Remdes weitgehend identisch, die einzige Veränderung besteht in einer zusätzlichen Erweiterung der Tonskala um jeweils einen halben Ton nach oben und nach unten (g‘ bis fis‘‘), wobei das as‘/gis‘ als Grundton die beste Lösung darstellt. Der Tonvorrat ab dem Grundton aufwärts (as‘/gis‘ - fis‘‘) ergibt, bei offener Griffweise, eine unvollständige dorische Tonleiter mit einer verminderten Terz und einer kleinen Septime.
Stimmung und Tonvorrat
Der Tonumfang der Spielpfeife beträgt eine große None beginnend mit dem Ton g1, wobei – bedingt durch die Mensur und die verwendeten Rohrblätter – nur wenige Instrumente musikalisch brauchbar überblasen werden können. Bei einbordunigen Instrumenten ist der Bordun auf den Ton A gestimmt. Bei zweibordunigen Instrumenten ist die häufigste Stimmung A+e0. Die Stimmung A+a0 ist selten. Bei dreibordunigen Instrumenten ist die Stimmung A+e0+a0, seltener A+a0+a1. Der Tonvorrat einer offen gegriffenen rein gestimmten Marktsackpfeife unter Anwendung der deutschen Blockflötengriffweise (die Abweichung von der gleichstufigen Stimmung wird in der rechten Spalte dargestellt):
Ton | Cent |
g' | -4 |
a | 0 |
h' | +4 |
c" | +16 |
d" | -2 |
e" | +2 |
fis" | -16 |
g" | -4 |
a" | 0 |
Je nach Hersteller und Rohrblatt können verschiedene Halbtöne erzeugt werden, wobei die meisten Hersteller eine befriedigende Lösung für cis" entwickelt haben in Form von Gabelgriffen oder eines zweiten Daumenlochs[6][7][8]:
Ton | Cent |
cis" | -14 |
dis" | -10 |
f" | +14 |
gis" | -12 |
Die Spielpfeife wird meist quintenrein oder gleichstufig temperiert gestimmt, um das Zusammenspiel mit anderen Instrumenten reibungsfrei zu gestalten, was bei der auch oft verwendeten reinen Stimmung nicht immer der Fall ist. In der Praxis werden Stimmwachs und Klebe- bzw. Isolierband verwendet, um den Durchmesser der Tonlöcher reversibel zu verändern und somit Töne tiefer zu setzen. Damit kann erreicht werden, dass sowohl die gleichstufige und pythagoreische als auch die reine Stimmung zur Verfügung stehen. Bei einer rein gestimmten Spielpfeife müssen z. B. h', c" und e" gesenkt werden, um dem G-Bordun gerecht zu werden; eine solche Prozedur entfällt, wenn die Spielpfeife gleichstufig gestimmt ist.
Verfügbare Tonarten
Wie bei allen Sackpfeifen wird die Tonart durch den Bordun festgelegt. Der grundlegende Tonvorrat der Marktsackpfeife ergibt eine a-dorische Tonleiter, bei funktionierendem f" Gabelgriff steht zusätzlich a-Moll zur Verfügung. Wenn eine cis"-Lösung vorhanden ist, kommt a-mixolydisch dazu und ein gis" bringt zusammen mit cis" die Möglichkeit, Stücke in a-Dur zu spielen, was das spielbare Repertoire erheblich erweitert. Insgesamt - wenn alle im vorigen Abschnitt erwähnten Halbtöne zur Verfügung stehen - ergeben sich folgende in der westlichen historischen und modernen Musik verwendeten Tonarten:
- ACDEG (pentatonisch)
- a-Dur
- a-Moll
- a-Dorisch
- a-Mixolydisch
- a-Lydisch
Daneben sind Teile von D-Dur, d-Moll und e-Moll vorhanden welche mit dem A-Bordun kompatibel sind. Für den G-Bordun stehen zur Verfügung:
- GAHDE (pentatonisch)
- g-Dur
- g-Mixolydisch
- g-Lydisch
Daneben sind Teile von C-Dur, c-Dorisch, C-Moll und c-Mixolydisch vorhanden. Das bedeutet, dass zumindest theoretisch 10 vollständige Tonarten einschließlich Pentatonik vorhanden sind, den Halbtonvorrat und Umstimmbarkeit vorausgesetzt. In der Praxis stehen heute cis", f" und gis" bei den meisten Herstellern zur Verfügung, so dass die Marktsackpfeife mit dem standardmäßigen A-Bordun in der Regel vier Tonarten spielen kann: a-Dorisch, a-Moll, a-Dur und a-Mixolydisch.
Varianten
Neben der oben erwähnten Stimmung (in der Tabelle kursiv gesetzt) gibt es Marktsackpfeifen auch in anderen Stimmungen.
Stimmung | Spielpfeife, tiefster Ton − Grundton | Bordun(e), häufigste Variante |
---|---|---|
hoch-A | g2 − a2 | a0 |
hoch-G | f2 − g2 | g0 |
hoch-E | d2 − e2 | e0 |
hoch-D | c2 − d2 | d0 |
hoch-B | b1 − b1 | B+b0[9] |
A / Standard | g1 − a1 | A+e0 |
G | f1 − g1 | G+d0 |
tief-E | d1 − e1 | E |
tief-D | c1 − d1 | D+A |
tief-A | g0 − a0 | A1+A |
Die Instrumente mit Spielpfeifen auf den Grundtönen A und E werden meist zusammen mit Marktsackpfeifen in Standardstimmung gespielt. Die Instrumente mit Spielpfeifen auf den Grundtönen G und D werden allein oder auch zusammen mit Holzblasinstrumenten in c/f-Stimmung gespielt. Instrumente mit einer Spielpfeife auf dem Grundton D können auch mit Instrumenten mit einer Spielpfeife auf den Grundtönen G oder A zusammen gespielt werden.
Populäre Rezeption
Für die Marktsackpfeife haben sich in ihrer kurzen Geschichte einige je nach Gebrauch liebevoll bis abwertende Bezeichnungen eingebürgert.
Deutsche Sackpfeife: Das Design der ersten Hersteller ist sehr an zeitgenössischen Abb. orientiert. Dieser Name wird vor allem im Ausland allerdings auch für die Schäferpfeife und das Hümmelchen verwendet.
A-Schwein: Dieser Name bezieht sich auf die Grundtonart A der Standardstimmung, die im Zusammenspiel mit anderen Holzblasinstrumenten, die meist in c/f-Stimmung stehen, zu Problemen führen kann. Aus diesem Grund bieten vor allem Sackpfeifenbauer, die auch Marktsackpfeifen bauen, mittlerweile Schalmeien und Rauschpfeifen an, die ebenfalls auf dem tiefsten Ton g beginnen und offen gegriffen den Tonvorrat einer dorischen Tonleiter auf dem Grundton A hervorbringen.
Alternative Erklärung: Im Mittelaltermarktjargon eine Anspielung auf das A-Wort (authentisch, Authentizität), was auf diese Sackpfeifen oft nicht zutrifft.
Osthupe – nimmt Bezug darauf, dass das Instrument erstmals auf dem Gebiet der ehemaligen DDR vermehrt in Erscheinung trat.
Mittelalterhupe – hat sich parallel zur Osthupe unter Spielern anderer Sackpfeifentypen eingebürgert.
Machosack – nimmt Bezug auf einige rein männlich besetzte Musikgruppen, die die Marktsackpfeife spielen und sich bei ihren Auftritten bewusst derbe bis brachial präsentieren.
Krachtüte – bezieht sich darauf, dass Marktsäcke meistens sehr laut sind.
Mittlerweile ist das Instrument im 21. Jahrhundert angekommen und wird von vielen Fantasy- und Mittelalterbands ganz selbstverständlich eingesetzt. Vor allem Sackpfeifenbauer in der DDR haben zunächst die Entwicklung vorangetrieben, mittlerweile werden Marktsackpfeifen in ganz Mitteleuropa gefertigt. Es hat nach wie vor einen starken Symbolwert: männlich, urwüchsig, barbarisch, kraftvoll usw., was oft dazu führte dass die tatsächlichen musikalischen Möglichkeiten der Marktsackpfeife, aufgrund ihrer szenetypischen Verwendung, nicht ausgereizt wurden. Dadurch bestehen bis heute recht weit verbreitete Überzeugungen, z. B. dass die Marktsackpfeife ausschließlich auf die dorische Tonleiter beschränkt ist, keinerlei Chromatik besitzt und keine andere Griffweise als die offene zulässt, welche auch oft als "einfach zu lernen" wahrgenommen wird. Ebenfalls wird oft pauschal angenommen dass die Marktsackpfeife für Sackpfeifen-Spieltechniken (Vorschlagnoten, Triller, Vibrati, Taps, Doublings, Rolls etc.) rein technisch ungeeignet ist, da in der szenetypischen Musik und Darbietungsart solche Spieltechniken generell keinen Einsatz finden. Solcherlei Annahmen werden auch dadurch verstärkt, dass die Versuche, die Spieltechnik einer Great Highland Bagpipe, Cornemuse du Centre oder Kaba Gajda auf der Marktsackpfeife zu kopieren, nur schlecht bis gar nicht funktionieren, da diese in die auf der Marktsackpfeife gewöhnlich gespielte Stücke sich musikalisch kaum einbinden lässt.
Übungsinstrumente
Wegen ihrer enormen Lautstärke eignet sich die Marktsackpfeife nicht zum Musizieren in kleineren Räumen. Zum Erlernen der Griffweise und später auch zum Einüben neuer Stücke wird als Übungsinstrument häufig eine Blockflöte mit offener Griffweise („deutsche Griffweise“) verwendet. Von den Grifflochabständen her kommt eine Altblockflöte in F der Spielpfeife einer Marktsackpfeife in Standardstimmung am nächsten, dennoch wird häufiger auf einer Sopranblockflöte in C geübt, da diese kostengünstiger oder in vielen Haushalten ohnehin vorhanden ist. Als Übungsinstrumente oder auch als Ersatz bei Aufführungen in kleineren Räumen sind mittlerweile auch Hümmelchen erhältlich, deren Spielpfeifen mit offener Griffweise gespielt werden. Diese Hümmelchen sind je nach Hersteller optisch ähnlich wie Marktsackpfeifen gestaltet. Seit kurzem gibt es ebenfalls Übungspfeifen nach dem Vorbild des schottischen Practice Chanter.
Siehe auch
Literatur
- Merit Zloch: Reste vergangener Klangwelten – Archäologische Funde von Musikinstrumenten. In: Archäologie unter dem Straßenpflaster. Beiträge zur Ur- und Frühgeschichte Mecklenburg-Vorpommerns. Nr. 39, Schwerin 2005
- Ralf Gehler: Zwei Sackpfeifenfragmente als archäologische Zeugen norddeutscher Musikkultur. In: Studien zur Musikarchäologie V. Musikarchäologie im Kontext. Archäologische Befunde, historische Zusammenhänge, soziokulturelle Beziehungen. Vorträge des 4. Symposiums der Internationalen Studiengruppe Musikarchäologie im Kloster Michaelstein, 19.–26. September 2004
- Ralf Gehler: Das Fahrrad neu erfinden. Dudelsackspiel und Dudelsackbau In: Volkes Lied und Vater Staat. Die DDR-Folkszene 1976–1990. Ch. Links Verlag 2016.
Einzelnachweise
- Bagpipes in Medieval Manuscripts - eine Sammlung mittelalterlicher Abbildungen von Sackpfeifen
- Zeichnung der Rostocker Spielpfeife von Merit Zloch
- Datenblatt der Rostocker Spielpfeife von Merit Zloch
- Ralf Gehler: Zwei Sackpfeifenfragmente als archäologische Zeugen norddeutscher Musikkultur. In: Studien zur Musikarchäologie V. Musikarchäologie im Kontext. Archäologische Befunde, historische Zusammenhänge, soziokulturelle Beziehungen. Vorträge des 4. Symposiums der Internationalen Studiengruppe Musikarchäologie im Kloster Michaelstein, 19.–26. September 2004, S. 41–48
- www.rezanka.at. Abgerufen am 3. März 2021
- Klaus Stecker, Mittelalterdudelsack G/a
- Arno Eckhardt, Marktsackpfeife in A (Memento des Originals vom 9. Februar 2015 im Internet Archive) Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.
- Jens Güntzel, Große Mittelalterliche Sackpfeife (GMS)
- Spezialanfertigung in B-Dur für Helmut Kickton, bei YouTube dokumentiert; abgerufen am 9. Februar 2021.