Lifta (palästinensisches Dorf)
Lifta (arabisch لفتا, DMG Liftā; hebräisch ליפתא) ist ein wüst gefallenes palästinensisches Dorf in Israel, westlich von Jerusalem. Es musste von seinen Bewohnern Anfang 1948 verlassen werden. Die Häuser im Ortskern blieben seitdem im Wesentlichen unverändert. 2015 wurde Lifta von Israel als ein einmaliges Beispiel eines traditionellen levantinischen Dorfes auf der Tentativliste des UNESCO-Welterbes eingetragen.
Namen
Der Ort Lifta profitiert von einer ergiebigen Quelle. Man nimmt an, dass die Quelle von Lifta identisch sei mit der in der Bibel erwähnten Neftoach-Quelle (Jos 15,9 ).[1] In byzantinischer Zeit habe der Ort Nephtho geheißen und unter den Kreuzfahrern Clepsta.[2] Der von der israelischen Altertümerbehörde 2008 durchgeführte Survey (siehe unten) erbrachte laut Abschlussbericht keinen Beleg für die These, dass sich an dieser Stelle der in der Bibel erwähnte Ort Neftoach-Quelle befand.[3]
Entwicklung des Dorfes
Bevor das neu gefasste Quellbecken für die Öffentlichkeit freigegeben wurde, untersuchte Dan Bahat 1986 die Umgebung der Quelle und fand ein Grab sowie Keramik der Mittelbronzezeit II und der Eisenzeit II.[3]
Im Ortskern bestand bereits in hellenistisch-römischer Zeit eine Siedlung. Die antiken Ruinen wurden in der Kreuzfahrerzeit überbaut. Es entstand ein fränkisches Landgut. Dies war ein rechteckiges, massives Steinhaus auf einer Grundfläche von 15,2 × 18,6 Metern. Zu dem fränkischen Gut gehörten außerdem Olivenpressen.[4]
In ottomanischer Zeit wurden zunächst die großen Höhlen der Umgebung für Wohnzwecke ausgebaut. Dann baute man Wohnhäuser und landwirtschaftliche Anlagen (zum Beispiel Ölpressen). Das Dorf expandierte und es entstand die Hangbebauung, die jetzt die Dorfanlage kennzeichnet.[5]
Im Jahr 1596 wird Lifta als Dorf in der Nahiya von Jerusalem genannt. Es hatte 396 Einwohner und zahlte Steuern unter anderem von folgenden landwirtschaftlichen Produkten: Weizen, Gerste, Oliven, Obst und Wein.[6]
Lifta im 19. Jahrhundert
Titus Tobler beschrieb den Ort so: „… ein Dorf im Distrikte der Beni Mâlik, eine kleine Stunde nordwestlich von Jerusalem, liegt an der Nordostseite eines Wadi, der, von Südost herablaufend, in das große, von Bêt Hanîna herziehende Thal übergeht, und dem Grunde des letztern ziemlich nahe. … Gleich südöstlich weiset das Dorf einen großen Schatz, eine auch am Ende der regenfreien Zeit ziemlich reiche Quelle, die aus einer Röhre in einen kleinen gemauerten Kasten fließt.“ Dank dieses Reichtums an Wasser, das sogar mit Eseln nach Jerusalem gebracht wurde, gab es in Lifta Obstgärten mit Pomeranzen, Zitronen, Aprikosen und Birnen. „Die Lage des Ortes bringt es mit sich, daß die von kleinen Quadersteinen gebauten Häuser, an der Zahl über fünfzig, stufenförmig über einander stehen. Unten bilden sie eine lange, zum größten Theile gewölbte Gasse. Als eine Seltenheit zeichnet sich in diesem Dorfe eine Moschee aus.“ Tobler bemerkte am Ortseingang drei Lagen antiken Mauerwerks, das ihn an die Mauern des Haram esch-Scharif erinnerte.[7]
Lifta im Palästinakrieg
In den ursprünglich 450 Häusern lebten vor dem Palästinakrieg etwa 2000 Menschen.[8] Es war das größte und wichtigste Dorf im Umland von Jerusalem. Lifta war in vielerlei Hinsicht schon zu einem Vorort von Jerusalem geworden, und die wirtschaftlichen Verbindungen zur Stadt waren stark. Für die Bauern brachte die Nähe zur Stadt den Vorteil, dass sie ihre Produkte dort auf dem Markt anbieten konnten. Sie bauten Getreide, Gemüse und Obst, Oliven und Weintrauben an.
In der britischen Mandatszeit expandierte der Ort in nordöstlicher Richtung bis nahe an die Jerusalemer Altstadt,[5] einige der Neubauten wurden mitten im landwirtschaftlich genutzten Gebiet errichtet.[3]
Die genauen Umstände, wann und warum die Dorfbewohner Lifta im Palästinakrieg verließen, werden unterschiedlich dargestellt.
In seinem Vorbericht zum archäologischen Survey von 2008 gab Avi Mashiah dazu folgende knappe Informationen: „Während des Krieges von 1948 diente das Dorf als Basis, von wo aus Angriffe auf die Jaffa-Jerusalem-Straße und jüdische Wohngebiete durchgeführt wurden. Im Februar 1948 wurde Lifta verlassen, nachdem Lechi Vergeltungsangriffe in der Gegend von Romema und am Ortsrand (erg. von Lifta) ausgeführt hatte.“[9]
Die israelische NGO Zochrot nennt folgende Einzelheiten: Gleich am Anfang des Palästinakrieges fanden Kämpfe am westlichen Stadtrand von Jerusalem statt. Im Dezember 1947 sicherte die Hagana den westlichen Zugang zur Stadt, wobei die arabischen Bewohner von Romema und Shaykh Badr ihre Dörfer verlassen mussten. Kurz darauf, so die Dokumentation der Hagana, hätten auch die Einwohner von Lifta ihr Dorf geräumt.[6] Dem palästinensischen Historiker ‘Arif al-‘Arif zufolge sei das Kaffeehaus von Lifta am 28. Dezember 1947 unter Beschuss genommen worden, wobei sechs Einwohner gestorben und sieben verwundet worden seien.[6] Nach einem Bericht der New York Times seien Mitglieder der Stern Gang (= Lechi) mit einem Bus vorgefahren und hätten das Feuer auf das Kaffeehaus eröffnet.[6] Die meisten Dorfbewohner hätten Lifta nach diesem Angriff verlassen, die Verbliebenen seien wenig später nachgefolgt. Am 7. Februar 1948 habe David Ben Gurion bei einem Treffen der Mapai mitgeteilt, dass es in mehreren Orten, unter anderem in Lifta, jetzt keine „Fremden“ mehr gebe.[6]
Der Historiker Benny Morris gibt folgende, ebenfalls auf Quellen gestützte Darstellung: Patrouillen der Hagana hätten den Auftrag gehabt, am Ortsrand von Lifta Plakate anzubringen – wohl mit Warnungen, keine Gewalt anzuwenden –, aber das Dorf nicht zu betreten. Gelegentlich habe es Feuergefechte mit der Dorfmiliz gegeben. Irgun Zwi Leumi und Lechi seien von Anfang an aggressiver aufgetreten. Ab Mitte Dezember hätten Milizen aus Nachbardörfern Stellungen in Lifta bezogen. Um die Jahreswende hätten die Einwohner unter einem Mangel an Brot gelitten; Frauen und Kinder hätten das Dorf verlassen. Mitte Januar habe ’Abd al Qadir al Husseini Lifta besichtigt und angeordnet, Frauen, alte Menschen und Kinder zu evakuieren; die Männer sollten bleiben. Am 29. Januar habe Lechi das Dorf überfallen und drei Häuser zerstört. Anfang Februar seien die meisten Einwohner als Flüchtlinge in Ramallah eingetroffen.[10]
Die Ländereien des Dorfes wurden vom israelischen Staat konfisziert.[8] Auf den landwirtschaftlichen Flächen des Dorfes entstanden die beiden israelischen Siedlungen Me Niftoach und Givat Shaul.[6]
Auf Anordnung der Jewish Agency waren jüdische Einwanderer aus dem Jemen und dem Irak 1951 in die leerstehenden Häuser eingezogen. Um sie zum Auszug zu bewegen, ließ die Regierung Jahre später Löcher in die Decken der Häuser sprengen.[11] Die jemenitischen Juden zogen aus, die jüdisch-kurdischen Einwanderer aus dem Irak dagegen blieben.[11] 2008 teilten die Behörden ihnen mit, dass sie das Dorf verlassen sollten; sie wohnten dort illegal und hätten keinen Anspruch auf Entschädigung. Ein Rechtsstreit begann. Der Staat Israel räumte erstmals offiziell ein, dass die Regierung seinerzeit verantwortlich gewesen sei für die Ansiedlung von Mizrachi-Einwanderern in verlassenen palästinensischen Häusern. Daraus leitete sich für die jüdischen Bewohner Liftas ein Anspruch auf Entschädigung ab, woraufhin sie im Sommer 2017 auszogen.[12]
Heutiger Zustand
Die Dorfwüstung liegt nahe am Highway 1, der Jerusalem mit Tel Aviv verbindet, das entspricht der historischen Jaffa-Jerusalem-Straße. Eine Zufahrt gibt es nicht, da die moderne Infrastruktur ganz auf die Neubaugebiete ausgerichtet ist.[13] Die Häuser sind in unterschiedlichen Stadien des Verfalls. Sie sind aus Naturstein gebaut, auf quadratischem Grundriss, einige zweistöckig. Die ehemaligen Gärten mit Granatapfel-, Mandel- und Feigenbäumen sind in verwildertem Zustand noch vorhanden.[14]
Ein großes Gebäude (Site 33 des Survey) besitzt ein Kreuzgewölbe und wird als älter eingestuft als die übrigen Wohnhäuser von Lifta.[3]
Die Moschee ist noch erhalten, daneben ist der Friedhof erkennbar.[6] Diese Moschee (Site 10) ist ein einstöckiges Gebäude, das in zwei Flügel unterteilt ist. Der westliche Raum besitzt einen Mihrab und diente dem Gebet – die Dorfbevölkerung war fast vollständig muslimisch –, während für den östlichen Raum eine Nutzung als Madrasa oder Versammlungsraum vermutet wird.[3]
Bei einem großen Gebäude aus ottomanischer Zeit (Sites 11–13) wurden antike Grundmauern festgestellt, teilweise erkennt man Quadern mit Bossenschlag. Die Archäologen vermuten, dass sich an dieser Stelle das aus den Quellen bekannte Gebäude der Kreuzfahrerzeit befand.[3]
Im höhergelegenen Teil des Ortes stehen die Ruinen eleganter zwei- und dreistöckiger Gebäude, während sich in der Nachbarschaft der Quelle die Reste einfacherer Häuser finden, die ohne Fundamentierung und ohne Verwendung von Zement erbaut wurden. Letztere sind teilweise eingestürzt.[3] Behauene Steine, einige davon alt, wurden in Zweitverwendung im Mauerwerk der Häuser identifiziert.[3]
Lifta ist ein beliebtes Wander- und Ausflugsziel für die Einwohner von Jerusalem. Anziehungspunkte sind das gefasste Becken der Quelle, worin man schwimmen kann, und die vielfältige Flora und Fauna der umgebenden Landschaft. Auch die ehemaligen palästinensischen Einwohner des Dorfes (Liftawis) kommen regelmäßig in Lifta zusammen.[5]
Baupläne und Bürgerinitiative „Rettet Lifta“
Nach Plänen der Jerusalemer Stadtverwaltung soll Lifta und sein Umland als Wohngebiet erschlossen werden. Unter Erhaltung und denkmalpflegerischer Sicherung des historischen Ortskerns soll hier ein Appartement-Komplex mit 268 Wohneinheiten entstehen, Geschäfte, öffentliche Einrichtungen, ein Hotel und das erforderliche Straßennetz.[9][15] In der Vorbereitung dieser Baumaßnahme fand 2008 ein archäologischer Survey statt. Die Archäologen erfassten die historische Bausubstanz des palästinensischen Dorfes. Es stellte sich heraus, dass der Ortskern von Lifta deutlich älter ist, als man bisher vermutete, und dass es unterirdische Räume gab, deren Existenz unbekannt war.[12]
Ein Jerusalemer Gericht stoppte 2012 vorläufig das großangelegte Bauvorhaben.[11] Eine Koalition aus ehemaligen Einwohnern von Lifta, sowohl palästinensischen Liftawis als auch jüdisch-kurdischen Einwanderern, die seit 1951 einige der leerstehenden Häuser bezogen hatten, israelischen Architekten, Friedensaktivisten und Naturschützern versucht, die Umgestaltung zu einem Wohngebiet zu verhindern. Koordiniert wird diese Bürgerinitiative von Daphna Golan, Professorin an der Hebräischen Universität Jerusalem.[11]
Begründung des Welterbe-Antrags
In Zusammenhang mit der geplanten städtebaulichen Erschließung steht auch die Eintragung des Dorfes auf der Tentativliste des UNESCO-Weltkulturerbes.
Die israelische Regierung als Antragstellerin führte 2015 aus, Lifta sei das einzige historische, intakte Palästinenserdorf. Es sei typisch für Bergdörfer im östlichen Mittelmeerraum. So wie es 1948 verlassen worden sei („als Resultat historischer Ereignisse“[16]), sei es bis heute erhalten geblieben. Die Bausubstanz der Häuser sei unverändert, ohne neuere Hinzufügungen. Es gebe keine neue Infrastruktur, keine hinzugefügten Gebäude, überhaupt keine Spuren des modernen Lebens.[16]
Lifta sei ein Zeuge des traditionellen Dorflebens und traditionellen Ackerbaus, womit sich der Ort perfekt in die Landschaft einfüge. Doch sei die authentische historische Stätte heute gefährdet „unter den historischen Umständen und durch den Druck neuerer Entwicklungen.“[16]
Literatur
- Henning Niederhoff: Trialog in Yad Vashem: Palästinenser, Israelis und Deutsche im Gespräch (= Deutsch-Israelische Bibliothek. Band 4). 3. Auflage. LIT Verlag, Berlin 2010, ISBN 978-3-643-10226-3, S. 107–109.
Weblinks
- Lifta. Zochrot
- Yehuda Dagan, Leticia Barda: Jerusalem, Lifta, Survey. Final Report. In: Israel Antiquities Authority (Hrsg.): Hadashot Arkheologiyot. Excavations and Surveys in Israel. Band 122, 2010.
- Bürgerinitiative Safe Lifta.
- Benjamin Hammer: Streit um das Geisterdorf Lifta. tagesschau.de, 1. August 2021 (abgerufen am 3. August 2021) Benjamin Hammer: Gespenstisch, wunderschön, umstritten: Die lange Geschichte des Dorfes Lifta. Podcast
Einzelnachweise
- Othmar Keel, Max Küchler, Christoph Uehlinger: Orte und Landschaften der Bibel. Band 2. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1982, S. 790.
- Avi Mashiah: Lifta. A Preliminary Urban Survey. In: IAA Conservation Department. Israel Antiquities Authority, 2008, abgerufen am 3. November 2018 (englisch): „Archaeological remains of the settlement Mei Niftoach, which dates to the First Temple period, were found in Lifta. This settlement is mentioned in the Bible, in the Book of Joshua, as the northern border of the Tribe of Judah. The village was destroyed during the Roman invasion led by Titus Flavius Vespasian. During the Byzantine period a settlement by the name of Nephtho was located there and in the Crusader period there was a village called Clepsta, from which an impressive building has survived near the village core.“
- Yehuda Dagan, Leticia Barda: Jerusalem, Lifta, Survey (Final Report). In: Hadashot Arkheologiyot. Excavations and Surveys in Israel. Israel Antiquities Authority, 26. Dezember 2010, abgerufen am 3. November 2018 (englisch).
- Adrian J. Boas: Domestic Settings: Sources on Domestic Architecture and Day-to-Day Activities in the Crusader States. Brill, Leiden / Boston 2010, S. 154.344.
- Dov Lieber: Remarkably kept, ancient village faces future as another kind of ghost town. In: The Times of Israel. 2. Juli 2017, abgerufen am 3. November 2018 (englisch, mit Video: Brief history of Lifta).
- Lifta. In: Zochrot. Abgerufen am 2. November 2018.
- Titus Tobler: Zwei Bücher Topographie von Jerusalem und seinen Umgebungen. Band 2. Berlin 1854, S. 758–759.
- Henning Niederhoff: Trialog in Yad Vashem: Palästinenser, Israelis und Deutsche im Gespräch. S. 108.
- Avi Mashiah: Lifta. A Preliminary Urban Survey. In: IAA Conservation Department. Israel Antiquities Authority, 2008, abgerufen am 3. November 2018 (englisch).
- Benny Morris: The Birth of the Palestinian Refugee Problem Revisited. Cambridge University Press, Cambridge 2004, ISBN 0-521-00967-7, S. 120.
- Inge Günther: Gemeinsam für Lifta. In: Frankfurter Rundschau. 6. Mai 2017, abgerufen am 3. November 2018.
- Nir Hasson: Defeated in Court, Lifta’s Last Families to Leave Their Jerusalem-area Homes. In: Haaretz. 22. Juli 2017, abgerufen am 2. November 2018 (englisch).
- Henning Niederhoff: Trialog in Yad Vashem: Palästinenser, Israelis und Deutsche im Gespräch. S. 107–108.
- Henning Niederhoff: Trialog in Yad Vashem: Palästinenser, Israelis und Deutsche im Gespräch. S. 108–109.
- Nir Hasson: Israel Moves to Turn Deserted Palestinian Village Into Luxury Housing Project. In: Haaretz. 21. Januar 2011, abgerufen am 2. November 2018 (englisch).
- Permanent Delegation of Israel to UNESCO: Liftah (Mey Naftoah) – Traditional mountain village, Ref. 6061. In: Tentative Lists. UNESCO, 5. Februar 2015, abgerufen am 2. November 2018 (englisch).