Leo Borchard
Leo Borchard (* 31. März 1899 in Moskau, Russisches Kaiserreich; † 23. August 1945 in Berlin; ursprünglich Lew Lwowitsch Borchard, russisch: Лев Львович Боргард) war ein russisch-deutscher Dirigent. Im Sommer 1945 leitete er zwei Monate lang die Berliner Philharmoniker.
Leben
In Königsberg (Preußen) stand Borchard 1930 neben Hermann Scherchen am Pult des Rundfunkorchesters der Ostmarken Rundfunk AG. Er galt als Exponent speziell russischen Repertoires, erarbeitete sich aber über die Werke von Johann Sebastian Bach und Ludwig van Beethoven bald die mitteleuropäische Literatur. Borchard arbeitete zuerst als Opernkorrepetitor, später während des Kriegs in Berlin als freier Dirigent.
Während des Zweiten Weltkrieges halfen er und seine Lebensgefährtin, die Journalistin Ruth Andreas-Friedrich, mit ihrer Widerstandsgruppe „Onkel Emil“ Juden in Berlin. 1943 verbreiteten sie die Flugblätter der Weißen Rose aus München. Die Gruppe beteiligte sich auch an einer Widerstandsaktion, bei der das Wort Nein an Häusern und Schaufenstern in allen Berliner Bezirken angebracht wurde.
Am 26. Mai 1945 – nur zweieinhalb Wochen nach der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht – improvisierten die Berliner Philharmoniker ihr erstes Konzert nach dem Krieg im Steglitzer Titania-Palast mit Tschaikowskis 4. Sinfonie, das von Leo Borchard dirigiert und vom Publikum stürmisch gefeiert wurde. Einen Monat später beauftragte ihn der Magistrat von Berlin, das Orchester zu leiten. Dem vorausgegangen ist Borchards Denunziation des ehemaligen Generalintendanten der Preußischen Staatstheater Heinz Tietjen, der gleich nach dem Krieg den Befehl zur Leitung aller Berliner Theater und der Berliner Philharmoniker von Generaloberst Bersarin erhielt. Daraufhin verlor Tietjen seine Stellung und trat von diesem Befehl am 22. Juni 1945 zurück (1947 Entnazifizierungsakten Tietjen / Bundesarchiv Berlin).
Am Abend des 23. August 1945 wurde Borchard in Höhe der Ringbahnbrücke am Bundesplatz in Berlin-Wilmersdorf bei der Einfahrt in den amerikanischen Sektor von einem amerikanischen Soldaten erschossen, weil das Fahrzeug nicht hielt.[1] Die US-Soldaten hatten den Befehl erhalten, jedes Fahrzeug zu stoppen und im Verweigerungsfall sofort das Feuer zu eröffnen.[2]
Er ist auf dem Friedhof Steglitz bestattet (Grablage: Abteilung 41, Reihe 2 WR C, Nummer 14). Sein Grab ist als Ehrengrab der Stadt Berlin gewidmet.
Werke
Libretto
- Der Großinquisitor, Oratorium für Bariton, Chor und Orchester von Boris Blacher (1942), Uraufführung 1947. Libretto von Leo Borchard, nach Dostojewskis Erzählung Der Großinquisitor.[3]
Übersetzungen
- Nina Berberowa: Tschaikowsky: Geschichte eines einsamen Lebens. Aus dem Russischen übertragen und bearbeitet von Leo Borchard. Kiepenheuer, Berlin 1938.
- Anton Tschechow: Geschichten vom Alltag. Aus dem Russischen übertragen und mit einem Vorwort versehen von Leo Borchard. Kiepenheuer, Berlin 1938.
Ton- und Filmdokumente
Von 1933 bis 1937 machte Borchard Aufnahmen mit den Berliner Philharmonikern für die Telefunkenplatte: Er begleitete die Sänger Aulikki Rautawaara, Hans Reinmar und Marcel Wittrisch und nahm unter anderem die Nussknacker-Suite von Tschaikowski, die Peer-Gynt-Suite von Grieg und das Concertino für Klavier und Orchester von und mit Jean Françaix auf.[4] Die französische Firma Tahra veröffentlichte 2003 einige seiner Rundfunkaufnahmen vom Juni 1945: die Ouvertüre zu Oberon von Carl Maria von Weber, die Fantasie-Ouvertüre Romeo und Julia von Tschaikowsky und das symphonische Poem Stenka Rasin von Alexander Glasunow.[5]
Filmaufnahmen aus der Mitte der 1930er Jahre zeigen Borchard mit der Staatskapelle Berlin als Dirigent von Werken von Jacques Offenbach und Johann Strauss (Sohn).
Ehrungen
- 1943 widmete ihm Gottfried von Einem sein Capriccio für Orchester, op. 2: „Leo Borchard in Freundschaft gewidmet“. Borchard dirigierte die Uraufführung mit den Berliner Philharmonikern am 11. März 1943.[6]
- Im Oktober 1988 wurde am Wohnhaus von Ruth Andreas-Friedrich und Leo Borchard eine Berliner Gedenktafel enthüllt.[7]
- Im April 1990 erhielt die Musikschule des Berliner Bezirks Steglitz den Namen Leo-Borchard-Musikschule. Sie fusionierte danach mit der Musikschule in Zehlendorf zur Leo-Borchard-Musikschule Steglitz-Zehlendorf.[8] Sie gilt als die größte Musikschule Deutschlands (Stand 2016).[9]
- Im September 1995 widmeten die Berliner Philharmoniker unter Claudio Abbado ihrem früheren Dirigenten ein Festwochen-Konzert.[10]
Literatur
- Ruth Andreas-Friedrich: Der Schattenmann. Tagebuchaufzeichnungen 1938–1945. Suhrkamp, Berlin 1947. (Neuauflage mit Nachwort von Jörg Drews, 1986, ISBN 3-518-37767-1)
- Andrej Kusakin: Symphonie emphatique oder: Ein Leben in vier Sätzen und einem Epilog: zum 60. Todestag des Dirigenten Leo Borchard. In: Berliner Philharmoniker: das Magazin. Berlin Sept./Okt. 2005, S. 53–55.
- Matthias Sträßner: Der Dirigent Leo Borchard: eine unvollendete Karriere. Transit-Buchverlag, Berlin 1999, ISBN 3-88747-144-X.
- Matthias Sträßner: Der Dirigent, der nicht mitspielte: Leo Borchard 1899–1945. Lukas Verlag für Kunst- und Geistesgeschichte, Berlin 2017, ISBN 978-3-86732-272-0.[11]
Weblinks
- Literatur von und über Leo Borchard im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Portrait Leo Borchard Leo-Borchard-Musikschule Steglitz-Zehlendorf
- Leo Borchard dirigiert die Ouvertüre zur Operette Die Fledermaus (Video)
Einzelnachweise
- Zum Tode Leo Borchards (Nachruf). In: Berliner Zeitung. 26. August 1945, abgerufen am 10. Mai 2021.
- Holger Hübner: Das Gedächtnis der Stadt. Argon, Berlin 1997, ISBN 3-87024-379-1.
- Programmheft Philharmonisches Staatsorchester Hamburg, 2./3. Februar 1969.
- Matthias Sträßner: Der Dirigent Leo Borchard. Berlin 1999, S. 271–273.
- Leo Borchard (1899-1945). In: MusicWeb. Abgerufen am 10. Mai 2021.
- Gottfried von Einem: Lebenslauf gottfried-von-einem.at
- Ruth Andreas-Friedrich, eigtl. Ruth Seitz / Leo Borchard gedenktafeln-in-berlin.de
- Über uns Leo-Borchard-Musikschule Steglitz-Zehlendorf
- Festkonzert: 70 Jahre Leo-Borchard-Musikschule am 10.11.2016 Pressemitteilung des Bezirksamts Steglitz-Zehlendorf, 14. Oktober 2016.
- Jürgen Otten: Festwochenkonzert der Berliner Philharmoniker: Gewaltiges Denkmal berliner-zeitung.de, 7. September 1995.
- Rezension von Peter Sühring auf info-netz-musik, 6. Juni 2018.