Konzentrationslager in der Cyrenaika (1930–1933)

Die Konzentrationslager in der Cyrenaika von 1930 bis 1933 wurden vom faschistischen Italien während des Zweiten Italienisch-Libyschen Krieges betrieben und waren Teil des faschistischen Genozids an der cyrenäischen Bevölkerung, bei welchem ein Viertel bis ein Drittel der Einwohner infolge von Todesmärschen und KZ-Haft umkam. Sie waren die ersten faschistischen Konzentrationslager der Geschichte und werden von Historikern auch als Todes- bzw. Vernichtungslager klassifiziert.

Karte von 15 der italienischen Konzentrationslager in Libyen

Geschichte

Im Frühjahr 1930 gelangten der italienische Kolonialminister Emilio De Bono und der Generalgouverneur für Libyen Pietro Badoglio zu der Ansicht, dass man die aufständischen Beduinen, die um ihre traditionelle Lebensgrundlage als Halbnomaden kämpften, nur durch eine weitere Eskalation der Gewalt befrieden könnte. Die Abriegelung der Grenze zu Ägypten durch einen Zaun (faschistischer Limes) sollte den Kämpfern und Zivilisten die Versorgungs- und Rückzugsmöglichkeit entziehen, Giftgasbombardements und die Deportation der Bevölkerung in Konzentrationslager wurde angeregt.[1]

Badoglio machte mit General Rodolfo Graziani die Nichtkombattanten zu den Hauptleidtragenden der Kriegführung. Am 25. Juni 1930 ordnete er die Zwangsumsiedlung und Internierung von 100.000 Menschen in Konzentrationslager an. Unter der sengenden Sommersonne starben etwa 10.000 Menschen an den Strapazen der Märsche.[2] Gewalt, Hunger und Seuchen machten die Lager zu eigentlichen Todeslagern mit nach Mattioli glaubwürdigen Schätzungen von 40.000 Toten. Angelo Del Boca nennt 40.000 Opfer aus Deportation und Lagerhaft. Beide gehen davon aus, dass etwa ein Viertel der Bevölkerung der Cyrenaika durch Deportation und Haft umkamen.[3] Dieses Massensterben kam dem Endziel des faschistischen Kolonisationsprozesses, neuen „Lebensraum“ (spazio vitale) zu gewinnen, entgegen.[4]

Die Bewachungsmannschaften der Lager bestanden aus Esercito, Carabinieri, eritreischen Askari und indigenen Zaptie.[5]

Der Anführer der Aufständischen, al-Muchtar, wurde 1931 gefangen genommen, zum Tode verurteilt und im Konzentrationslager Soluch vor 20.000 Libyern erhängt.[6]

Einordnung der Lager

Laut dem Schweizer Historiker Aram Mattioli (2004) könne man die Konzentrationslager der italienischen Faschisten in der Cyrenaika von 1930 bis 1933 zwar nicht mit den nationalsozialistischen „Vernichtungsfabriken“ während des Zweiten Weltkrieges vergleichen, allerdings hätten sie als „eigentliche Todeslager“ dem Genozid an der autochthonen Bevölkerung gedient, um Platz für italienische Siedlerfamilien zu schaffen.[7] „Italien war das erste faschistische Regime, das ganze Volksgruppen deportierte und in Todeslagern zugrunde gehen ließ“, so Mattioli in einem Artikel für Die Zeit im Jahr 2003.[8] Der italienische Historiker Angelo Del Boca (2004)[9] und der US-amerikanisch-libysche Historiker Ali Abdullatif Ahmida (2009) bezeichnen die faschistischen KZs in der Cyrenaika als „Vernichtungslager“.[10] Der libysche Historiker Abdulhakim Nagiah (1995) hält fest, dass es sich hierbei um die „ersten faschistischen Konzentrationslager in der Geschichte“ handelte und spricht ebenfalls von einem Genozid, bei dem in Cyrenaika zwischen 1923 und 1931 schätzungsweise ein Drittel der Gesamtbevölkerung umgekommen sei.[11]

Konzentrationslager in Italienisch-Libyen 1930–1933[12]
Lager Ort von bis geschätzte Häftlingszahl
AgedabiaAdschdabiyaMärz 1930September 19339.000
Ain GazalaGazala193019332.130
ApolloniaMarsa Susah193019333.140
BarceAl-Marj193019332.190
BescerBishr19301933?
CarcuraCarcura Baiadi19301933?
CoefiaKuwayfiyah19301933365
DernaDarnis19301933725
DrianaDaryanah193019331.375
el NufiliaAn Nawfalīyah193019331.125
el-AbiarAl-Abyār1931Oktober 19338.000
el-Agheilaal-AqaylahJanuar 1930Oktober 193234.500
GuarsciaBenghazi19301933360
Marsa al BregaAl BurayqahMärz 1931Juni 193320.072
Sidi Ahmed el-MagrunAl MagrunSeptember 1930Oktober 193313.050
Sidi ChalifaSid Khalifah19301933650
SoluchSūluqOktober 1930Mai 193320.123
Suani el-AchuanSawānī al IkhwānJanuar 1932Oktober 19332.300
Suani el-TerriaSawani Tik19301933500

Siehe auch

Literatur

  • Ali Abdullatif Ahmida: The Making of Modern Libya. State Formation, Colonization and Resistance, 1830–1932. 2. Auflage. State University of New York, New York 2009, ISBN 978-1-4384-2891-8.
  • Ali Abdullatif Ahmida: When the Subaltern speak: Memory of Genocide in Colonial Libya 1929 to 1933. In: Italian Studies 61. 2006, Nummer 2, S. 175–190.
  • Anna Baldinetti: The Origins of the Libyan Nation: Colonial legacy, exile and the emergence of a new nation-state. Routledge 2010, ISBN 978-0-415-47747-5, S. 29 f.
  • Angelo Del Boca: Faschismus und Kolonialismus – Der Mythos von den anständigen Italienern. Erschienen in: Völkermord und Kriegsverbrechen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Hrsg.: Irmtrud Wojak und Susanne Meinl, Campus 2004, ISBN 3-593-37282-7, S. 193 ff.
  • Nicola Labanca: Italian Colonial Internment. Erschienen in: Italian Coloialism. Hrsg.: Ruth Ben-Ghiat und Mia Fuller, Palgrave MacMillan 2005, ISBN 978-0-230-60636-4, S. 27 ff.
  • Aram Mattioli: Libyen, verheißenes Land, Zeit 15. Mai 2003, abgerufen 20. Februar 2017.
  • Aram Mattioli: Die vergessenen Kolonialverbrechen des faschistischen Italien in Libyen 1923–1933. Erschienen in: Völkermord und Kriegsverbrechen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Hrsg.: Irmtrud Wojak und Susanne Meinl, Campus 2004, ISBN 3-593-37282-7, S. 203 ff.
  • Abdulhakim Nagiah: Italien und Libyen in der Kolonialzeit: Faschistische Herrschaft und nationaler Widerstand. In: Sabine Frank, Martina Kamp (Hrsg.): Libyen im 20. Jahrhundert. Zwischen Fremdherrschaft und nationaler Selbstbestimmung. Deutsches Orient-Institut, Hamburg 1995, ISBN 3-89173-042-X, S. 67–85, hier S. 78.

Einzelnachweise

  1. Aram Mattioli: Die vergessenen Kolonialverbrechen des faschistischen Italien in Libyen 1923–1933. S. 216 f.
  2. Aram Mattioli: Die vergessenen Kolonialverbrechen des faschistischen Italien in Libyen 1923–1933. S. 218
  3. Aram Mattioli: Die vergessenen Kolonialverbrechen des faschistischen Italien in Libyen 1923–1933. S. 219 und De Boca: Faschismus und Kolonialismus – Der Mythos von den anständigen Italienern. S. 195
  4. Aram Mattioli: Die vergessenen Kolonialverbrechen des faschistischen Italien in Libyen 1923–1933. S. 221
  5. Campo die Concentramento auf I Campi Fascisti, abgerufen 20. Februar 2017
  6. De Boca: Faschismus und Kolonialismus – Der Mythos von den anständigen Italienern. S. 201
  7. Vgl. Aram Mattioli: Die vergessenen Kolonialverbrechen des faschistischen Italien in Libyen 1923–1933. In: Fritz-Bauer-Institut (Hrsg.): Völkermord und Kriegsverbrechen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Frankfurt am Main 2004, S. 205 u. 219.
  8. Aram Mattioli: Libyen, verheißenes Land. In: Die Zeit. 15. Mai 2003, abgerufen am 30. März 2015.
  9. Angelo Del Boca: Faschismus und Kolonialismus. Der Mythos von den „anständigen Italienern“. In: Fritz-Bauer-Institut (Hrsg.): Völkermord und Kriegsverbrechen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Frankfurt am Main 2004, S. 196.
  10. Amida schreibt im Englischen von „genocidial camps“, die von Aram Mattioli ins Deutsche mit „Vernichtungslager“ übersetzt werden, vgl. Ali Abdullatif Ahmida: The Making of Modern Libya. State Formation, Colonization and Resistance, 1830–1932. New York 2009, S. 139 und Aram Mattioli: Die vergessenen Kolonialverbrechen des faschistischen Italien in Libyen 1923–1933. In: Fritz-Bauer-Institut (Hrsg.): Völkermord und Kriegsverbrechen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Frankfurt am Main 2004, S. 203–226, hier S. 226.
  11. Abdulhakim Nagiah: Italien und Libyen in der Kolonialzeit: Faschistische Herrschaft und nationaler Widerstand. In: Sabine Frank, Martina Kamp (Hrsg.): Libyen im 20. Jahrhundert. Zwischen Fremdherrschaft und nationaler Selbstbestimmung. Hamburg 1995, S. 78 u 80.
  12. Campo die Concentramento auf I Campi Fascisti, abgerufen 20. Februar 2017
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