Kais Saied
Kais Saied (arabisch قيس سعيد, DMG Qais Suʿayyid, französisch Kaïs Saïed; * 22. Februar 1958 in Béni Khiar, Gouvernement Nabeul) ist ein tunesischer Jurist, Professor für Verfassungsrecht und konservativer Politiker. Saied wurde bei der Präsidentschaftswahl in Tunesien am 13. Oktober 2019 zum Präsidenten des Landes gewählt und übernahm am 23. Oktober 2019 das Amt von Mohamed Ennaceur.
Leben
Kais Saied ist der Sohn von Moncef Saied und Lalla Zakia aus Beni Khiar, einer Familie der Mittelschicht. Sein Onkel väterlicherseits, Hicham Saied, war der erste Kinderarzt in Tunesien, der in den 1970er Jahren durch die Trennung siamesischer Zwillinge weltweite Bekanntheit erlangte.[1]
Saied studierte[2] Jura und erhielt ein Diplôme d’études approfondies (DEA) in Völkerrecht an der Faculté de Droit et des sciences politiques de Tunis (Fakultät für Rechts-, Politik- und Sozialwissenschaften von Tunis), ein Diplôm der Académie internationale du Droit constitutionnel (AIDC - englisch IADC, International Academy of Constitutional Law, deutsch IAVR - Internationalen Akademie für Verfassungsrecht) in Tunis und ein Diplom des Internationalen Instituts für humanitäres Recht in Sanremo, Italien.
1986 trat er seine erste Professur an der Fakultät für Rechts-, Wirtschafts- und Staatswissenschaften der Universität Sousse an. Während dieser Zeit wurde er
- von 1989 bis 1990 Mitglied der Expertengruppe des Generalsekretariats der Arabischen Liga
- von 1993 bis 1995 Experte am Arabischen Institut für Menschenrechte
- von 1994 bis 1999 Direktor des Instituts für Öffentliches Recht an der Fakultät für Rechts- und Wirtschafts- und Staatswissenschaften von Sousse
- und von 1990 bis 1995 Generalsekretär und Vizepräsident der tunesischen Vereinigung für Verfassungsrecht.
Außerdem war er ab 1997 Mitglied des wissenschaftlichen Rates und des Direktoriums der IAVR und Präsident des Tunis Center for Constitutional Law for Democracy und lehrte ab 1999 an der Fakultät für Rechts-, Politik- und Sozialwissenschaften von Tunis.
Nach der Revolution 2011 war er Mitglied des Expertenausschusses, der für die Erarbeitung der neuen Verfassung Tunesiens zuständig war.[3]
Außerdem ist er Autor zahlreicher Bücher und Artikel zum Verfassungsrecht[2], promovierte aber nie[4] und ging 2018 in den Ruhestand.
Kais Saied ist mit der Richterin Ichraf Chebil verheiratet, die er während seines Studiums an der Universität Sousse kennengelernt hatte. Das Paar hat drei Kinder.
Präsident seit 2019
Positionen
Saied war einer der ersten erklärten Kandidaten bei den tunesischen Präsidentschaftswahlen 2019. Während des Wahlkampfs pflegte er das Image eines bescheidenen Mannes. Er wohnte weiterhin in einer einfachen Wohnung für Bedienstete, fuhr mit Bus und U-Bahn und traf die Bürger in beliebten Cafés.
Im Wahlkampf vertrat er gesellschaftlich ultrakonservative Positionen und einen Law-and-Order-Kurs in der Sicherheitspolitik. So sprach er sich für die Todesstrafe und gegen die Gleichberechtigung von Frauen im Erbrecht aus. Das islamische Recht solle die Grundlage der Rechtsprechung bilden. In einem Interview warf Saied Ausländern vor, Homosexualität in Tunesien finanzieren und verbreiten zu wollen.[5] Aber vor allem versprach er dem Volk, als Präsident einen Plan gegen Korruption umzusetzen.[6][7]
Saied lehnt die Normalisierung der Beziehungen zu Israel nicht nur ab, bezeichnet sie sogar als „Verrat“. „Wir sind in einem Kriegszustand mit dem Zionismus, und Normalisierung ist Verrat“, sagte er. Weiterhin erklärte er: „Wer […] die Beziehungen zum Zionismus normalisiert, der das Land des palästinensischen Volkes gestohlen und sie aus ihrem Land vertrieben hat, der ist ein Verräter“.[8]
Des Weiteren verzichtete er im Wahlkampf auf große Kundgebungen und nahm nach eigenen Angaben keine Wahlspenden an.[6][7][9]
Abseits seiner politischen Position fällt Saied vor allem durch seine Verwendung des Hocharabischen statt des tunesischen Dialekts und seine Parteilosigkeit auf.
Aufgrund seines Vorsatzes, der Korruption ein Ende zu setzen, und seiner regungslosen Mimik erhielt er den Spitznamen „Robocop“.
In der ersten Runde der Präsidentschaftswahl belegte er mit 18,4 % der Stimmen den ersten Platz und trat in der zweiten Wahlrunde gegen Nabil Karoui an.[10] Die zweite Runde gewann Saied deutlich mit 72,7 Prozent gegen Karoui.[11] Saied wurde nicht nur von großen Teilen der tunesischen Jugend unterstützt und gewählt, auch die muslimisch-konservative Ennahda-Partei unterstützte ihn.
Analyst Michaël Ayari von der International Crisis Group bestätigt: „Niemand hat wirklich an diesen außergewöhnlichen Kandidaten ohne politische Erfahrung geglaubt. Kais Saied verkörpert Redlichkeit und Korruptionsbekämpfung, er ist ein Mann, der glaubt, dass alles durch die Anwendung der Gesetze geregelt wird. Kais Saied verkörpert die enttäuschten Hoffnungen von 2011, er spricht für die Marginalisierten, will die Würde wiederherstellen und regionale Ungleichheiten bekämpfen“.
Institutionelle Krise 2021
In Januar 2021 kündigte Regierungschef Hichem Mechichi eine Kabinettsumbildung und die Ernennung mehrerer neuer Regierungsmitglieder an. Die neuen Minister wurden vom Parlament bestätigt. Präsident Kaïs Saïed weigerte sich jedoch, sie zu vereidigen, da mehrere Minister unter Korruptionsverdacht standen. Er vertrat die Ansicht, dass dies gegen die Verfassung verstoße, und bemängelte überdies, dass es bei der Abstimmung des Ministerrats über die Kabinettsumbildung zu Unregelmäßigkeiten gekommen sei.
Anfang April 2021 weigerte sich Kais Saied, einen von der Regierung vorgelegten Gesetzentwurf zur Einrichtung eines Verfassungsgerichts zu ratifizieren. Seit der Revolution verfügt Tunesien über kein solches, obwohl seine Einrichtung von der 2014 in Kraft getretenen Verfassung der Republik Tunesien spätestens ein Jahr nach ihrem Inkrafttreten vorgeschrieben war. Saied lehnte das Gesetz ab mit der Begründung, dass diese verfassungsmäßige Frist überschritten worden sei. Eine Änderung der Verfassung zum Heilen des Fristproblems lehnte er indessen ebenfalls ab, und zwar mit der Begründung, eine Verfassungsänderung bedürfe der Bewilligung eines (nicht existierenden) Verfassungsgerichtshofs. Einige politische Beobachter mutmaßten, Saieds Blockadehaltung könne auf die mögliche Kompetenz eines Verfassungsgerichts zurückzuführen sein, den Präsidenten seines Amts zu entheben. Ebenfalls wurde gemutmaßt, er wolle eine Krise heraufbeschwören, um die Verfassung durch eine gänzlich andere zu ersetzen.[12]
Entlassung der Regierung von Hichem Mechichi
Am 25. Juli 2021, dem Nationalfeiertag, forderten tausende Demonstranten die Auflösung des Parlaments und die Ausarbeitung einer neuen Verfassung im Rahmen einer von Saied geleiteten Übergangsphase. Zu dem Zeitpunkt hatte sich die mit der COVID-19-Pandemie verbundene Gesundheitskrise verschlimmert. An demselben Abend entließ Kais Saied die Regierung Hichem Mechichi mit sofortiger Wirkung unter Berufung auf den Paragraphen 80 der Verfassung, der im Ausnahmefall die Konzentration der Macht in seinen Händen für 30 Tage vorsieht, und kündigte folgende Maßnahmen an:
- die Suspendierung des Parlaments und Aufhebung der Immunität seiner Mitglieder
- die Bildung einer neuen Regierung, die ihm direkt untergeordnet sein werde
- das Führen der Regierungsgeschäfte per Erlass
- den Vorsitz der Staatsanwaltschaft
Parlamentspräsident Rached al-Ghannouchi, der Führer der Ennahda-Partei, warf ihm umgehend vor, einen „Staatsstreich gegen die Revolution“ durchgeführt zu haben.[13]
Mitte Dezember 2021 stellte Saied den Zeitplan für politische Reformen vor. Von Jahresanfang bis zum 20. März 2022 erhalten Bürger des Landes die Möglichkeit, Vorschläge zu einer Überarbeitung der Verfassung einzureichen. Diese sollen nachfolgend von einem Expertenkomitee ausgewertet werden und so die Basis einer Verfassungsreform bilden, über die dann die Bevölkerung am 25. Juli 2022 in einem Volksentscheid abstimmen kann. Käme es zu einer Annahme, würde am 17. Dezember 2022 das Parlament neu gewählt werden.[14]
Entmachtung des Obersten Justizrates
Im Februar 2022 löste Saied den Obersten Justizrat (CSM), ein Gremium, welches ist unter anderem dafür zuständig ist, die Unabhängigkeit der Justiz zu sichern und Richter zu ernennen, auf. Saied begründete seine Maßnahme damit, dass die CSM parteilich und korrupt und die Richter der CSM zur Anklage zu bringen seien. Die CSM habe außerdem Verfahren verschleppt.[15]
Weblinks
Einzelnachweise
- Qui est Kais Saied, l’infatigable marcheur, qui a emporté le premier tour de la présidentielle en Tunisie. Abgerufen am 23. September 2019.
- Biographie von Kaïs Saïed – Präsidentschaftskandidat – Liste 17 – Tunesienexplorer. Abgerufen am 23. September 2019 (deutsch).
- aroua: Tunisie : Kais Saïd, candidat à la présidentielle de 2019. In: Directinfo. Abgerufen am 23. September 2019 (fr-FR).
- Présidentielle en Tunisie: Kais Saied, la revolution austère. In: Le Point. 9. Oktober 2019, abgerufen am 12. Mai 2020.
- Tunisie - Mais, qui est Kaïs Saïed, favori de la course au Palais de Carthage ? 12. Mai 2020, abgerufen am 23. September 2019 (französisch).
- Martin Gehlen: Kaïs Saïed: Sieg für den Außenseiter. In: Die Zeit. 14. Oktober 2019, ISSN 0044-2070 (zeit.de [abgerufen am 14. Oktober 2019]).
- Présidentielle tunisienne : « Robocop », ultraconservateur… 10 choses à savoir sur Kaïs Saïed. Abgerufen am 23. September 2019.
- tachles-Newsletter vom 17. Oktober 2019
- Tunisia elections: ‘Robocop’ and ‘Berlusconi’ head to second round (en) In: Middle East Eye. Abgerufen am 17. September 2019.
- Wahlen in Tunesien - Kais Saied gewinnt erste Runde der Präsidentschaftswahl. 17. September 2019, abgerufen am 23. September 2019.
- tagesschau.de: Parteiloser wird Präsident Tunesiens. Abgerufen am 14. Oktober 2019.
- Frida Dahmani: Tunisie : requiem pour la Cour constitutionnelle. In: jeuneafrique.com. 7. April 2021, abgerufen am 26. Juli 2021 (französisch).
- Präsident entlässt Premierminister Mechichi. Deutschlandfunk, 25. Juli 2021, abgerufen am selben Tage.
- Sarah Mersch: Tunesiens Präsident stellt Zeitplan für politische Reformen vor. Der Standard, 14. Dezember 2021, abgerufen am 16. Dezember 2021.
- Tunesiens Präsident Kaïs Saïed löst Obersten Justizrat auf. In: Der Spiegel. 6. Februar 2022, ISSN 2195-1349 (spiegel.de [abgerufen am 6. Februar 2022]).