Künstlerische Forschung
Künstlerische Forschung (auch: Kunst als Forschung; englisch artistic research) ist ein seit den 2000er Jahren verbreitetes interdisziplinäres Feld zwischen Kunst und Wissenschaft, das seit den 2010er Jahren verstärkt an internationalen Kunsthochschulen institutionalisiert wird und akademische Abschlüsse für zugleich künstlerisch und wissenschaftlich tätige Personen ermöglicht.
Konzepte Künstlerischer Forschung basieren auf einer Wissenschaftstheorie, die künstlerische Verfahrensweisen als diskursive Prozesse versteht, die, analog zu den Methoden der etablierten Wissenschaften, Erkenntnis erzeugen. Sie stellt damit geltende Überzeugungen des Wissenschaftsbetriebs grundsätzlich in Frage und widerspricht der Vorstellung, Kunst und Wissenschaft seien als Gegensätze aufzufassen, sondern stärkt deren Gemeinsamkeiten, beispielsweise das Interesse an Erkenntnisgewinn und Wissensvermehrung.
Geschichte
Theorien zu Kunst als Forschung entwickelte Serge Stauffer, Mitbegründer der F+F Schule für experimentelle Gestaltung in Zürich ab den 1960er-Jahren.[1]
In Österreich wurde im Universitätsgesetz 2002 als Pendant zur (wissenschaftlichen) Forschung auch der Begriff der Entwicklung und Erschließung der Künste (EEK) etabliert, den die Universität für Musik und darstellende Kunst Graz in ihrer Definition[2] allerdings weiter fasst als die künstlerische Forschung. Diese wird folglich als ein Spezialfall von EEK angesehen. Künstlerische Forschung beruht zwar auf explorativer, informierter und reflektierter künstlerischer Arbeit und ist damit EEK im oben dargestellten Sinn, sie geht aber insofern über EEK im weiteren Sinn hinaus als sie u. a. einen systematischen methodischen Rahmen erfordert und durch die intersubjektive Relevanz, Gültigkeit und Nachvollziehbarkeit der Ergebnisse gekennzeichnet ist, was methodisch oft – im Gegensatz zur EEK im weiteren Sinn – die Dokumentation und Analyse des Forschungsprozesses beinhaltet.
2008 gründete die Künstlergruppe a rose is zusammen mit dem Radialsystem V, einem Kulturzentrum in Berlin, das !KF – Institut für künstlerische Forschung.[3] Zusammen mit 37 internationalen Institutionen ist das !KF Gründungsmitglied der Society for Artistic Research,[4] die auch die Internet-Fachzeitschrift Journal for Artistic Research[5] herausgibt.
Mit der Gründung des Instituts für Künstlerische Forschung (IKF) im Juni 2008 brachte sich die Filmuniversität Potsdam in den Diskurs um die künstlerische Forschung / artistic oder art based research ein und fokussiert insbesondere auf Erkenntnis generierendes Arbeiten im Bereich audiovisueller Medien. Das IKF Potsdam thematisiert, präsentiert und initiiert das filmkünstlerische Experiment und sucht nach Formaten, die geeignet sind, filmkünstlerisch forschende Vorgehensweisen transparent zu machen. Das Institut lädt in seinen Projekten und Veranstaltungen überregional Institutionen, Künstler und Wissenschaftler zu Kooperation und Diskussion ein.
2016 veröffentlichte die European League of the Institutes of the Arts (ELIA) The 'Florence Principles' on the Doctorate in the Arts[6], die Bezug nehmen auf die Salzburg Principles und die Salzburg Recommendations der European University Association (EUA). Die 'Florence Principles' benennen in sieben 'points of attention' Bedingungen und Spezifika des künstlerischen Doktorats / Ph.D. im Vergleich zum wissenschaftlichen Doktorat / Ph.D. Die 'Florence Principles' werden von European Association of Conservatoires (AEC), CILECT, CUMULUS und Society for Artistic Research (SAR) mitgetragen und unterstützt.
Im September 2018 wurde die Gesellschaft für künstlerische Forschung in der Bundesrepublik Deutschland (GKFD)[7] als Bundesverband aller Institutionen und unabhängigen Personen der künstlerischen Forschung in Deutschland gegründet. In das Präsidium wurden gewählt: Elke Bippus, Kathrin Busch und Julian Klein. 2020 gründete Max Haarich das Užupis University Institute for Applied Paradox, zur künstlerischen Beforschung des Potenzials von Paradoxie für die Bewältigung sozialer und ökologischer Krisen.[8]
2021 empfahl der Wissenschaftsrat den Kunsthochschulen die Einführung eines Doktorgrads, der Abschlüsse in Künstlerischer Forschung kenntlich macht. Künstlerisch-wissenschaftliche Promotionen sollen demnach mit Dr. artis oder Ph.D abgeschlossen werden.[9]
Kritik
Kritisiert wurde wiederholt, dass die zunehmende Institutionalisierung Künstlerischer Forschung Kunst und Künstlern nicht helfe, sondern lediglich die Chancen von Kunstvermittlern und Kuratoren auf dem Arbeitsmarkt erhöhe sowie von Hochschulen als Instrument der Hochschulpolitik eingesetzt werde.[9]
2020 veröffentlichte die Initiative „Culture Action Europe“ die Vienna Declaration on Artistic Research. Florian Cramer und Nienke Terpsma kritisierten die Erklärung.[10]
Literatur
- Culture Action Europe: Vienna Declaration on Artistic Research, Wien 2020, Link
- Silvia Henke, Dieter Mersch, Nicolaj van der Meulen, Thomas Strässle, Jörg Wiesel: „Manifest der künstlerischen Forschung“. Eine Verteidigung gegen ihre Verfechter. Diaphanes, Zürich 2020.
- Corina Caduff u. Tan Wälchli (Hrsg.): Artistic Research and Literature. Fink Verlag, München 2019, OPEN ACCESS: https://arbor.bfh.ch/274/
- Anke Haarmann: Artistic Research. Eine epistemologische Ästhetik. transcript, Bielefeld 2019, ISBN 978-3-8376-4636-8.
- Johanna Schindler: Subjectivity and Synchrony in Artistic Research. Ethnographic Insights. transcript, Bielefeld 2018, ISBN 978-3-8376-4447-0
- Julian Klein: The Mode is the Method. In: D. Jobertová (Hrsg.): Artistic Research – Is There Some Method?
- Ursula Bertram: Kunsttransfer: Effizienz durch unangepasstes Denken. transcript Verlag, Bielefeld 2017, ISBN 978-3-8376-3899-8.
- The 'Florence Principles' on the Doctorate in the Arts. A publication by ELIA (European League of the Institutes of the Arts). Amsterdam 2016.
- Künstlerische Forschung. Ein Handbuch, herausgegeben von Jens Badura, Selma Dubach, Anke Haarmann, Dieter Mersch, Anton Rey, Christoph Schenker, Germán Toro Pérez, Zürich, diaphanes 2015, ISBN 978-3-03734-880-2
- Giaco Schiesser: What is at stake – Qu’est ce que l’enjeu? Paradoxes – Problematics – Perspectives in Artistic Research Today. In: Gerald Bast, Elias G. Carayannis (Hrsg.): Arts, Research, Innovation and Society. (= ARIS, Vol. 1). Springer, Wien/ New York 2015, ISBN 978-3-319-09908-8
- Julian Klein: Künstlerische Forschung gibt es gar nicht – und wie es ihr gelang, sich nicht davor zu fürchten https://www.academia.edu/14669860/ englische Version: https://www.academia.edu/28685249/
- Gabriele Schmid, Peter Sinapius (Hrsg.): Artistic Research in Applied Arts. HPB University Press, Hamburg, Potsdam, Berlin 2015, ISBN 978-3-7375-1850-5.
- Daniel Fetzner, Martin Dornberg (Hrsg.): Intercorporeal Splits. Künstlerische Forschung zur Medialität von Stimme, Haut, Rhythmus, OpenHouse, Leipzig 2015, ISBN 978-3-944122-09-0.
- Jörg Scheller: The Embedded Artist. Zur Heimholung der Künste in Kultur und Gesellschaft durch künstlerische Forschung. In: Ruedi Widmer (Hrsg.): Laienherrschaft. 18 Exkurse zum Verhältnis von Künsten und Medien. Diaphanes, Zürich/ Berlin 2014, ISBN 978-3-03734-452-1.
- Henk Borgdorff: The Conflict of the Faculties: Perspectives on Artistic Research and Academia. Amsterdam University Press, 2013, ISBN 978-90-8728-167-0.
- Sibylle Peters (Hrsg.): Das Forschen aller. Artistic Research als Wissensproduktion zwischen Kunst, Wissenschaft und Gesellschaft. transcript, Bielefeld 2013.
- Daniel Klapsing u. a. (Hrsg.): z.B.- Praxisbasierte Forschung in Kunst & Design. Bauhaus-Universitätsverlag, Weimar 2013, ISBN 978-3-86068-490-0.
- Martin Tröndle, Julia Warmers (Hrsg.): Kunstforschung als ästhetische Wissenschaft: Beiträge zur transdisziplinären Hybridisierung von Wissenschaft und Kunst. transcript, Bielefeld 2011, ISBN 978-3-8376-1688-0.
- Julian Klein: Was ist künstlerische Forschung? In: Gegenworte. 23/2010, S. 24–28. (online auf: edoc.hu-berlin.de, PDF; 43 kB)
- Elke Bippus (Hrsg.): Kunst des Forschens: Praxis eines ästhetischen Denkens. Diaphanes, Zürich/ Berlin 2009, ISBN 978-3-03734-080-6.
- Corina Caduff u. a. (Hrsg.): Kunst und künstlerische Forschung: Musik, Kunst, Design, Literatur, Tanz. (= Zurich Yearbook of the Arts/Zürcher Jahrbuch der Künste. Band 6). Scheidegger & Spiess, Zürich 2009, ISBN 978-3-85881-293-3.
Weblinks
- Henk Borgdorff: The debate on research in the arts (Memento vom 29. Mai 2014 im Internet Archive) (PDF)
- Dieter Lesage: Who’s Afraid of Artistic Research? On measuring artistic research output.
- Society for Artistic Research (SAR)
- Artistic Research in Applied Arts: Documentation of a conference in 2013
- Swiss Artistic Research Network (SARN)
- Kunst als Forschung bei F+F 1971, online Archiv-Ausstellung zur Geschichte der F+F Schule Zürich
- Webseite der Artistic Research-Buchreihe Welt/Gestalten
Einzelnachweise
- vgl. Serge Stauffer: Kunst als Forschung. Zürich, Scheidegger & Spiess, 2013, Stauffer Kunst als Forschung Einführung Einführung, Kunst als Forschung bei F+F 1971
- Website der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz
- !KF – Institut für künstlerische Forschung Berlin
- Society for Artistic Research (SAR)
- Journal for Artistic Research
- http://www.elia-artschools.org/userfiles/File/customfiles/1-the-florence-principles20161124105336_20161202112511.pdf
- Gesellschaft für künstlerische Forschung in der Bundesrepublik Deutschland
- Max Haarich, Tomas (Hrsg.): Explore The Unthinkable. Proceedings of the Užupis University Symposium on Applied Paradox. Arkadien, Berlin 2021, ISBN 978-3-940863-49-2.
- Thomas Thiel: Kunstwerke mit Fußnoten: Kommt jetzt der Dr. artis? In: FAZ.NET. ISSN 0174-4909 (faz.net [abgerufen am 29. April 2021]).
- Florian Cramer, Nienke Terpsma: What Is Wrong with the Vienna Declaration on Artistic Research? Abgerufen am 26. Januar 2021.