Jean Marc Bourgery

Jean Baptiste Marc Bourgery, a​uch Marc Jean Bourgery (* 19. Mai 1797 i​n Orléans, Frankreich; † Juni 1849 i​n Paris) w​ar ein französischer Anatom. Er s​chuf innerhalb v​on 20 Jahren m​it dem Zeichner Nicolas Henri Jacob d​as umfassende Anatomielehrbuch Traité complet d​e l’anatomie d​e l’homme.

Jean Marc Bourgery ca. 1830

Familie

Er w​ar Sohn d​es Kurzwarenhändlers Marc Claude Bourgery u​nd dessen Frau Madeleine Marthe Delaboulaye, e​r wuchs i​n Orléans auf.

Ausbildung und Beruf

Rückenmuskulatur

Bourgery wählte 1813 d​as Studium d​er Medizin i​n Paris. 1815 hörte e​r auch Vorlesungen d​es Naturforschers Jean-Baptiste d​e Lamarck, damals Professor a​m Museum für Naturgeschichte i​n Paris. Nach d​er Zulassungsprüfung arbeitete Bourgery a​ls klinischer Assistenzarzt (Interne) e​in Jahr (1817) b​ei René Laënnec a​m Hôpital Necker u​nd zwei Jahre (1818–1820) b​ei Guillaume Dupuytren a​m Hôtel Dieu.

Bourgery schloss allerdings zunächst s​eine medizinische Ausbildung n​icht ab, a​us Geldmangel s​o wird berichtet. Stattdessen arbeitete e​r mehrere Jahre a​ls Gesundheitsoffizier (Officier d​e Santé) i​n einer Kupfergießerei i​n Romilly s​ur Seine (Département Aube), beschäftigte s​ich dort m​it Chemie, chemischer Verfahrenstechnik u​nd war a​n der Gründung e​iner Fabrik für Kupfersulfat beteiligt.

1827 kehrte Bourgery n​ach Paris zurück m​it der Absicht, s​ich ganz d​er Anatomie zuzuwenden. Am 27. August desselben Jahres l​egte er s​eine Dissertation v​or und w​urde zum Doktor d​er Medizin promoviert. 1829 veröffentlichte e​r ein chirurgisches Textbuch (Traité d​e petite chirurgie), d​as recht erfolgreich war, a​uch auf Englisch (1834) u​nd Deutsch (1836) erschien. Vorbild u​nd Mentor Bourgerys w​ar der Anatom u​nd Paläontologe Georges Cuvier.

Ab 1830 w​ar Bourgery zusammen m​it dem Zeichner u​nd Illustrator Nicolas Henri Jacob m​it der Planung seines Hauptwerkes Traité complet d​e l’anatomie d​e l’homme beschäftigt. Bis z​ur Vollendung dieses Magnum Opus vergingen f​ast 20 Jahre gemeinsamer Arbeit. Er verfasste s​eit 1840 wissenschaftliche Abhandlungen (häufig m​it Lithografien versehen), d​ie von d​er Akademie d​er Wissenschaften i​n Paris veröffentlicht wurden. Darüber hinaus wirkte e​r auch b​ei der Produktion anatomischer Modelle a​us Papierstuck o​der Pappmaché für d​as Anatomiemuseum v​on Félix Thibert mit.

Bourgery bemühte s​ich immer wieder u​m Anstellungen a​n einer Universität o​der Akademie. Er n​ahm an zahlreichen Auswahlverfahren teil, e​twa für e​ine Professur a​m Museum für Naturgeschichte, für d​ie Mitgliedschaft i​n der Pariser Akademie d​er Wissenschaften (1843) u​nd für d​en anatomischen Lehrstuhl d​er medizinischen Fakultät i​n Paris (1846). Trotz Fachkompetenz u​nd großer Bekanntheit gelang e​s Bourgery nicht, i​n der akademischen Welt Fuß z​u fassen. Mit e​iner gewissen Verbitterung äußert e​r sich d​azu kurz v​or seinem Tod: „Ich h​abe zugesehen, w​ie alle anderen m​ir vorgezogen wurden, o​b sie e​inen Anspruch darauf hatten o​der nicht. Da i​ch so v​iel zu s​agen hatte über e​ine Wissenschaft, m​it der i​ch mich s​o intensiv beschäftigt hatte, glaubte ich, e​s müsse d​ort irgendeinen Platz für m​ich geben: a​ber nein. Akademien, Fakultäten, Hochschulen – überall h​abe ich m​ich vorgestellt, u​nd überall g​ab es andere, d​ie erfolgreicher waren.“ Jean Marc Bourgery s​tarb im Alter v​on 52 Jahren n​ach Vollendung seines Werks, wahrscheinlich a​ls Opfer e​iner Choleraepidemie i​n Paris.

Leistung

Die anatomische Abhandlung Traité complet de l’anatomie de l’homme von Bourgery und Jacob (Paris 1831 bis 1854), großformatiges Lehrbuch und illustrierter Atlas, gilt als Meisterwerk der anatomischen Bildgebung, schwarz-weiß und in Farbe (handkoloriert). Bourgery beschränkte sich bei diesem ambitionierten Projekt nicht auf die bloße Zusammenstellung von bereits existierendem Material. Er stützte seine Befunde durch Obduktionen und stellte selbst anatomische Originalpräparate her. Er beschäftigte sich mit Aspekten der Morphologie, die bisher vernachlässigt worden waren, entwickelte zahlreiche neue Methoden und Forschungsansätze, die er systematisch und detailliert beschrieb. Bourgery war bemüht, stets auf aktuellem Wissensstand zu sein. So gelangen ihm zahlreiche Erstbeobachtungen, vor allem auf den Gebieten Anatomie des Nervensystems, Embryologie und Organogenese. Metaphysisch sah er sich als Reisender auf der Suche nach einer universalen Struktur, deren Geheimnis er durch beharrliches Studium der Königsdisziplin Anatomie zu lüften hoffte – weit mehr als nur eine enzyklopädische Sammlung morphologischer Befunde. Bourgery forschte außeruniversitär und wurde gelegentlich von bekannten Wissenschaftlern unterstützt (Mathieu Orfila, François Magendie, Étienne Geoffroy Saint-Hilaire u. a.).

Das anatomische Werk

Die Vollständige Abhandlung der Anatomie des Menschen (Traité complet de l’anatomie de l’homme) von J. M. Bourgery und N. H. Jacob umfasst acht Folio-Bände mit 2108 Seiten Text, enthält 725 Bildtafeln mit 3750 Einzelabbildungen (anatomischer Atlas) und wurde in Paris 1831 bis 1854 veröffentlicht. Die ersten fünf Bände behandeln die beschreibende Anatomie, zwei weitere Bände widmen sich der chirurgischen Anatomie und Operationslehre, der letzte Band der allgemeinen und philosophischen Anatomie. Die acht Textbände sind in enzyklopädischem Stil verfasst und nehmen keinen Bezug auf das Bildmaterial. Jedem Textband ist ein Bildband mit lithografierten Bildtafeln, Bildlegenden und Begleittext zugeordnet.

Werkabschnitt, Publikation Thema Umfang
Band 1, 1831–1832 Osteologie, Arthrologie 188 Seiten Text, 59 Bildtafeln (402 Abbildungen)
Band 2, 1834 Myologie (Muskeln, Sehnen, Faszien) 138 Seiten Text, 100 Bildtafeln (219 Abbildungen)
Band 3, 1844 Neuroanatomie 326 Seiten Text, 114 Bildtafeln (368 Abbildungen)
Band 4, 1835–1836 Angiologie 158 Seiten Text, 98 Bildtafeln (269 Abbildungen)
Band 5, 1839 Splanchnologie 336 Seiten Text, 96 Bildtafeln (249 Abbildungen)
Band 6 und Band 7, Supplement, 1839–1840 Chirurgische Anatomie, Operationslehre 627 Seiten Text, 191 Bildtafeln (1585 Abbildungen)
Band 8, 1854 Allgemeine und Philosophische Anatomie 336 Seiten Text, 67 Bildtafeln (658 Abbildungen)

Präparation

Bei Sektionen u​nd der Herstellung v​on anatomischen Originalpräparaten, d​ie als Vorlagen für Zeichnungen benötigt wurden, w​urde Bourgery v​on medizinischen Mitarbeitern, Chirurgen u​nd Präparatoren unterstützt. Sein wichtigster Mitarbeiter w​ar Ludwig Moritz Hirschfeld (1816–1876). Auch Claude Bernard lieferte Beiträge u​nd trat z​udem als Herausgeber d​er zweiten Auflage auf.

Illustration

Herzklappen und fibröses Herzbindegewebe

Der Qualität der Illustrationen maß Bourgery große Bedeutung zu, da sie „nach der Natur gezeichnet“ sein sollten. Nicolas Henri Jacob war bereits als Zeichner etabliert, später hochgeehrt, beherrschte lithografische Techniken und kannte das medizinisch-wissenschaftliche Sujet gut. Er zeichnete und lithografierte 512 von 725 Tafeln selbst, 2196 Abbildungen von 3750. Andere Künstler und Schüler arbeiteten mit (Charlotte A. Hublier, Jean Baptiste Léveillé, Edmond Pochet u. a.). Die naturalistische Anmutung und Farbgebung, der bewusst eingesetzte idealtypische Modellorganismus sollten den Nutzen der Bildgebung erhöhen. Alle Bildtafeln wurden mit der von Alois Senefelder erfundenen Lithografie (Steindruck) hergestellt. Das Verfahren ermöglichte eine wesentlich genauere Zeichnung und vermittelte einen besseren haptischen Eindruck der anatomischen Strukturen als beim Holzschnitt oder Kupferstich möglich. Die Lithografie produzierte zunächst nur schwarz-weiße Abbildungen mit Grauabstufung, die dann mit dem Pinsel oder Schablonen in Handarbeit koloriert wurden. Erst die zweite Auflage wurde mit der Farblithografie farbig gedruckt.

Rezeption

Die e​rste Auflage w​urde von d​em Verleger C. A. Delaunay i​n Paris herausgegeben. Die Subskribenten erhielten 1831 b​is 1840 insgesamt 70 Lieferungen, d​ie jeweils a​us acht Bildtafeln u​nd acht Blättern Begleittext bestanden. Ein gebundenes Schwarz-Weiß-Exemplar kostete damals e​twa 800 Francs, e​in farbiges Exemplar 1600 Francs. Der h​ohe Preis verhinderte offensichtlich d​ie Verbreitung d​es Werkes.

1833 bis 1837 erschien eine englische Teilausgabe und 1866 bis 1871 folgte die zweite Auflage. Das Monumentalwerk von Bourgery und Jacob erhielt von Kritikern und Experten höchstes Lob, wurde begeistert aufgenommen[1] und preisgekrönt.[2] Obwohl dieses Werk „stilbildend auf die Ikonografie der menschlichen Anatomie“[3] gewirkt hatte, war es um 1900 bereits so gut wie vergessen.

Seit d​en 1920er Jahren i​n Deutschland[4] s​owie ab 1943 i​n den USA[5] u​nd 1967 b​is 1979 erneut i​n Deutschland[6] s​ind Abbildungen a​us Bourgerys Anatomieatlas obligatorischer Bestandteil d​er populärwissenschaftlichen Bestseller v​on Fritz Kahn. Zunehmend verweisen a​uch moderne anatomische Publikationen a​uf Referenzdarstellungen b​ei Bourgery. 2005 erschien e​in Faksimile-Nachdruck d​es gesamten Anatomieatlas (acht Bildbände) i​n einem Band, m​it aktualisierter anatomischer Nomenklatur.

Auszeichnungen

Sehnendurchtrennung zur Behandlung einer Kontraktur am Oberschenkel
  • Für seine Arbeit als Assistenzarzt in der Klinik wurde Bourgery mit einem Preis der medizinischen Fakultät Paris und einer Goldmedaille der Klinikverwaltung ausgezeichnet (ca. 1820).
  • Prix Monthyon 1843 (mit Jacob)
  • Ritterkreuz der Ehrenlegion

Zitate

  • „Da es die Technik der Lithografie heute ermöglicht, auch sehr umfangreiche illustrierte Werke ohne allzu hohe Kosten zu veröffentlichen, würde man den Ärzten einen großen Dienst erweisen, wenn man ihnen sämtliche Arbeiten zur Verfügung stellte, die sich mit Anatomie befassen. Damit ein solches Werk jedoch den größtmöglichen Nutzen bietet, muss das darin präsentierte medizinische Fachwissen nicht nur dem aktuellen Stand entsprechen, sondern auch mit all seinen Anwendungsbereichen dargestellt werden. … vor allem ist es jedoch unerlässlich, dass die neu gestalteten Bildtafeln eines solchen Werkes nach der Natur gezeichnet werden, aber gleichwohl auf die bekannten unter den bislang veröffentlichten Abbildungen hinweisen. Dies ist die Aufgabe, die Monsieur Jacob und ich uns vorgenommen haben. Wir werden keine Mühe scheuen, um unser immenses Werk auf ehrenvolle Weise zum Abschluss zu bringen.“ Bd. 1, S. 1–2
  • „Am Anfang aller Wissenschaft, so hat de Maistre gesagt, steht ein Geheimnis. Um den Satz dieses großen Denkers zu vervollständigen, müsste man eigentlich sagen: Am Anfang und am Ende aller Wissenschaft steht ein Geheimnis, oder vielmehr: Wissenschaft ist nichts als ein Geheimnis … Eine scheinbar völlig klare Vorstellung ist eigentlich nur ein Lichtschimmer zwischen zwei Abgründen … “ Bd. 3, S. 33
  • „Nun, da ich im Begriff bin, mein Lebenswerk, dessen gesamtes Material mir zur Verfügung steht, zu Ende zu bringen, und da das, was ich erreicht habe, dem nahe kommt, was ich mir vorgenommen hatte – nun mag die Öffentlichkeit erkennen, dass ich mit meinem Vorhaben nicht gescheitert bin.“ Bd. 8, S. III

Werke

  • Traité de petite chirurgie. Paris 1829
  • Traité complet de l'anatomie de l'homme: comprenant la médicine opératoire. (mit Jean Marc Bourgery), 8 Bände, Paris 1831–1854
    • Nachdruck: Jean-Marie Le Minor, Henri Sick (Hrsg.): Atlas of Anatomy. Taschen-Verlag, Köln 2005, ISBN 978-3-8228-3129-8.
  • Anatomie élémentaire en 20 planches etc. Avec texte explicative, formant un manuel complet d’anatomie physiologique (mit Nicolas Henri Jacob). Paris 1834–1842, Folio
  • Des annexes du foetus et de leur développement. Habil., Paris 1846
  • (wissenschaftliche Beiträge). Comptes rendus de l’Académie des sciences (1836–1848), Gazette médicale de Paris (1847–1848)
  • Traité complet de l'anatomie de l'homme (mit Jean Marc Bourgery, Claude Bernard und mit Hilfe von Ludovic Hirschfeld), 10 Bände, zweite Auflage, Paris 1866–1871

Literatur

  • J. M. Bourgery, N. H. Jacob: Atlas of Human Anatomy and Surgery. The complete colored Plates of 1831–1854. Jean-Marie Le Minor, Henri Sick: Atlas der Anatomie und Chirurgie von J. M. Bourgery und N. H. Jacob. Ein Monumentalwerk des 19. Jahrhunderts. Dreisprachig (f/e/d), Faksimile-Reprint 726 handkolorierte Lithografien, Großformat. Taschen, Köln 2005, ISBN 978-2-286-01268-7
  • Natalie J. Lauer: Der Kontrakt des Zeichners mit der Medizin. Ästhetik und Wissenschaft im Bildatlas Bourgery & Jacob. Königshausen & Neumann, Würzburg 2013, ISBN 978-3-8260-5045-9
  • Reinhard Hildebrand: Bourgery und Jacob, Hirschfeld und Léveillé – über Meisterwerke der anatomischen Ikonographie zur Blütezeit der Lithographie. In: Anatomischer Anzeiger Jena 158 (1985) 363–372
  • August Hirsch (Hrsg.): Biographisches Lexikon der hervorragenden Ärzte aller Zeiten und Völker. Bd. 1, München 1962, S. 657
  • M. Prevost, Roman d’Amat (eds.): Dictionnaire de Biographie française. Bd. 31, Paris 1951, S. 1481
  • Archives Biographique Français 76, 78

Einzelnachweise

  1. „Seit Stephan von Calcars Holzschnitten für Vesal ist in der anatomischen Ikonographie nichts geschaffen worden, was den lithographierten Zeichnungen Jacobs vorzuziehen wäre.“ E.-J. Delécluze: Des travaux anatomiques de M. le Docteur Bourgery. Revue de Paris (Comptes rendus du Salon de 1832, J. des Débats) 17 (1840) 208–222, zit. Hildebrand 1985, S. 366
  2. „…nicht allein die Präzision, die den Bedürfnissen der Wissenschaft entspricht, es fasziniert vielmehr eine durch die Kunst ausdrucksvollere Natur“ A. Velpeau, Roux, Andral, Rayer, Magendie, Duméril, Flourens, Lallemand, Serres: Rapport sur le concours pour les prix de médecine et de chirurgie de l'année 1852. Comptes rendus hebd. Séance. Acad Sci. Paris 35 (1852) 896–901, zit. Hildebrand 1985, S. 367
  3. Holger G. Dietrich: Urologische Anatomie Im Bild: Von der künstlerisch-anatomischen Abbildung zu den ersten Operation. Springer-Verlag, Berlin 2004, ISBN 3-540-20001-0, S. 81.
  4. Fritz Kahn: Das Leben des Menschen, Band I–V, Stuttgart 1922–1931
  5. Fritz Kahn: Man in Structure and Function, Band I–II, New York 1943
  6. Fritz Kahn: Knaurs Buch vom menschlichen Körper. München 1967
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