Horde (Wildbeuter)
Als Horde (von turksprachig ordu „Feldlager“, siehe Wortherkunft und Bedeutungswandel) bezeichnet die Anthropologie und die Ethnologie eine kleine, selbständige soziale Gruppe von etwa 20 bis 100 Jägern und Sammlern (Wildbeutern), die zusammenleben und meist durch Abstammung oder Heirat untereinander verwandt sind.
Wildbeuterhorden bestehen oder bestanden aus mehreren Großfamilien, die als selbstversorgende Gemeinschaft leben und sich gemeinsam und gleichgestellt um Arbeit, Sicherheit, religiöse Rituale und Betreuung ihrer Kinder und Alten kümmern.[1] Diese Form der sozialen und politischen Organisation wird als Hordengesellschaft bezeichnet und findet sich beispielsweise noch bei den San im südlichen Afrika (siehe auch Liste heutiger Jäger-und-Sammler-Völker).
Auch die Archäologie geht davon aus, dass die meisten Menschengruppen der Altsteinzeit in Horden organisiert waren, als „mobile Gruppen von Jägern und Sammlern“ oder „Wildbeuter“ bezeichnet. Mittlerweile wird zusätzlich dem Fischfang eine wichtige Bedeutung beigemessen, er kann als natürliche Ressource zur Vergrößerung von Gruppen und sogar zu einer gewissen Sesshaftigkeit geführt haben.
Beschreibung
Eine Horde bestimmt sich als ethnische Gruppe vor allem durch folgende Eigenschaften:[2][3]
- überschaubare Größe (25 bis etwa 100 Mitglieder, selten mehr, meist um die 50)
- ausgiebige Gegenseitigkeit der sozialen Beziehungen und Interaktionen (Verwandtschaft, Kultur des Schenkens)
- selbstgenügsame und selbstversorgende Okkupationswirtschaft[4] (Jagen, Sammeln, Fischfang: Wildbeuter)
- geringe Mehrproduktion (Subsistenzwirtschaft)
- keine ausgeprägten Eigentumsbeziehungen
- ungefähre Gleichheit des Reichtums
- keine ausgeprägte soziale Unterscheidung oder Schichtung
- nur informelle Führerschaft
- Unmöglichkeit der Konzentration der Kontrolle über Ressourcen
Eine Horde hat zumeist eine nicht sesshafte, nomadisierende Lebensweise, die Gruppe muss zur Nutzung wild wachsender oder lebender Nahrungsquellen jahreszeitlich wandern.[5] Dabei lebt sie in wechselnden Lagern (die ursprüngliche Wortherkunft von „Horde“), zu denen weitere Plätze wie etwa Schlachtorte oder Übergangslager, aber auch Plätze der Werkzeugherstellung kommen können, mit eigenen Unterkunfts- oder Unterschlupfmöglichkeiten. Arbeitsteilung besteht nur aufgrund von Alter, Fähigkeit und Geschlecht. Größere Horden können sich in örtliche Gruppen unterteilen (englisch local bands). Die gemeinsame Identität und der Gruppenzusammenhalt wird durch Rituale gepflegt und gefestigt.
Die Mitglieder einer Horde sind in der Regel familiär eng miteinander verbunden, entweder durch gemeinsame Abstammung verwandt oder durch Heirat verschwägert. Die einzige soziale Organisationsform bilden die Haushalts- und Wohngruppen, die sich relativ eigenständig selbstverwalten. Der soziale Status eines Mitglieds beruht entweder auf seiner Stellung innerhalb des Verwandtschaftssystems (etwa als Mutter, Bruder, Onkel) oder auf persönlichen Fertigkeiten und Fähigkeiten (etwa als großer Jäger).
Alle Hordenmitglieder sind einander gleichgestellt (egalitäre Gesellschaft), Horden bilden keine Machtstrukturen aus und haben keine formelle Führung (Herrschaftsfreiheit). Die Führung der Gruppe liegt meist in den Händen der älteren und ältesten Hordenmitglieder (Senioritätsprinzip). Führungspositionen werden je nach konkreter Aufgabe, Charisma und Befähigung verteilt, entsprechend besteht zwischen den Mitgliedern auch kein großer wirtschaftlicher Unterschied. Entscheidungen werden in gemeinsamer Übereinstimmung getroffen (Konsensprinzip). Es gibt keine schriftlichen Gesetze, in der Horde bestehende Sitten und Gebräuche werden mündlich überliefert.[1]
Von der Horde unterscheidet sich ein „Stamm“ (englisch tribe) durch die viel größere Zahl an Familien und insgesamt hunderte oder tausende von Mitgliedern, er besitzt mehr soziale und politische Einrichtungen, beispielsweise einen oder mehrere Häuptlinge und einen Stammesrat. Bevor sich Stämme entwickelten, waren weite Teile der Kontinente von locker zusammengefügten ethnischen Gruppen oder Horden besiedelt.[6][7] Die Existenz von Horden und Hordengesellschaften ist geschichtlich und archäologisch in mehreren Erdteilen und Klimazonen belegt, bevorzugt in spärlich besiedelten Gebieten. Aufgrund der Verbreitung moderner Staaten in aller Welt gibt es heute nur noch sehr wenige Hordengesellschaften oder Jäger- und Sammlerkulturen (siehe Liste heutiger Jäger-und-Sammler-Völker, sowie Indigene Völker in Wildnisgebieten, Isolierte Völker).
Hordengesellschaft
Die Hordengesellschaft (englisch band society) wurde unter den Anthropologen, Geografen und Entdeckern des 19. Jahrhunderts als eine Anfangsstufe der soziokulturellen Entwicklung angesehen und zur Beschreibung von Jäger- und Sammlerkulturen benutzt (englisch hunter-gatherer bands).[1] Der US-amerikanische Ethnologe Elman Service definierte in den 1960ern die Hordengesellschaft als ursprüngliche und einfachste Gesellschaftsform seines vierstufigen Entwicklungsmodells. Während das Modell heute als einseitig und evolutionistisch kritisiert wird, sind in der Ethnosoziologie und Politikethnologie die Bezeichnungen Horde und Hordengesellschaft zur Bestimmung der sozialen und politischen Organisation von selbstgenügsamen ethnischen Gruppen gebräuchlich. Die politische Herrschaftsform bei Hordengesellschaften wird als Akephalie bezeichnet („Herrschaftsfreiheit“). Der Historische Materialismus schreibt der Hordengesellschaft als „Urgesellschaft“ eine eigenständige Produktionsweise zu (Urkommunismus).
In dem Entwicklungsmodell von Elman Service folgt der Hordengesellschaft die Stammesgesellschaft als zweite Stufe der gesellschaftlichen Organisation.
Siehe auch
- Optimalitätsmodell (optimal foraging: Entscheidungsfindung bei Nahrungssuche und -auswahl)
- band als Bezeichnung von Indianergruppen (englisches Wort für „Horde“)
- Clans (Familienverbände mythischer Abstammung)
- Lineages (Abstammungsgruppen)
- lokale Gemeinschaften (kleine, zusammengehörige Bevölkerungsgruppen)
Literatur
- Vicki Cummings, Peter Jordan, Marek Zvelebil (Hrsg.): The Oxford Handbook of the Archaeology and Anthropology of Hunter-gatherers. Oxford University Press, Oxford 2014, ISBN 978-0-19-955122-4 (englisch; Leseprobe in der Google-Buchsuche).
- Eleanor Leacock, Richard Lee (Hrsg.): Politics and History in Band Societies. Cambridge University Press, Cambridge 1982, ISBN 0-521-24063-8 (englisch; ein Grundlagenbuch; Leseprobe in der Google-Buchsuche).
- Marshall Sahlins: Notes on the Original Affluent Society. In: Richard Barry Lee, Irven DeVore (Hrsg.): Man the Hunter. The First Intensive Survey of a Single, Crucial Stage of Human Development – Man’s Once Universal Way of Life. Aldine, Chicago 1968, ISBN 0-202-33032-X, S. 85–89 (englisch; Tagungsband; richtungsweisende Überlegungen zur „Überflussgesellschaft“ bei Jägern und Sammlern/Wildbeutern; 2. Auflage von 2009 als Volltext in der Google-Buchsuche).
- Julian H. Steward: The Patrilineal Band und The Composing Hunting Band. In: Derselbe: Theorie of Culture Change. The Methodology of Multilinear Evolution. University of Illinois Press, Urbana 1955, ISBN 0-252-00295-4, S. 122–142 und 143–151 (englisch; Ausarbeitungen von Arbeiten von 1936 zur Organisation von Horden; Teilansicht in der Google-Buchsuche).
- Frank Robert Vivelo: Horden. In: Derselbe: Handbuch der Kulturanthropologie. Eine grundlegende Einführung. Klett-Cotta, Stuttgart 1981, ISBN 3-12-938320-4, S. 194–196 (US-Original 1978: Cultural Anthropology Handbook. A Basic Introduction).
- Robert H. Winthrop: Band. In: Derselbe: Dictionary of Concepts in Cultural Anthropology. Greenwood Press, New York 1991, ISBN 0-313-24280-1, S. 23–26 (englisch, mit Literaturliste; Vollansicht in der Google-Buchsuche).
Zeitschrift:
- Hunter Gatherer Research. Liverpool University Press (englisch).
Weblinks
- Gabriele Rasuly-Paleczek: ad. Horde (englisch band). (PDF: 222 kB; 39 Seiten) (Nicht mehr online verfügbar.) In: Einführung in die Formen der sozialen Organisation. Teil 5/5, Institut für Kultur- und Sozialanthropologie, Universität Wien, 2011, S. 190–191, archiviert vom Original am 4. Oktober 2013 (Unterlagen zu ihrer Vorlesung im Sommersemester 2011).
- Dieter Steiner: Die archaische Gesellschaft: Patrilokale/patrilineare Horden… oder egalitäre Gemeinschaften? In: Soziales im engeren Sinne. Eigene Webseite, Zürich, 1998 (umfassende Abhandlung über soziale Organisation von einem Humanökologen).
- Elizabeth Prine Pauls: The Difference Between a Tribe and a Band. In: Encyclopædia Britannica. 6. März 2008 (englisch; Fachautorin: ausführliche Unterscheidung zwischen bands und tribes: Horde vs. Stamm).
Einzelnachweise
- Britannica Online: Band: kinship group. 18. Januar 2016, abgerufen am 23. Oktober 2019 (englisch).
- Robert H. Winthrop: Dictionary of Concepts in Cultural Anthropology. Greenwood Press, New York 1991, ISBN 0-313-24280-1, S. 23 (englisch; Seitenansicht in der Google-Buchsuche); Zitat: „A relatively small and self-sufficient group, with subsistence based on some combination of hunting, gathering, and fishing, characterized by near equality or wealth, extensive reciprocity, and informal leadership.“
- Charlotte Seymour-Smith: Dictionary of Anthropology. Hall, Boston 1986, ISBN 0-8161-8817-3, S. 21 (englisch).
- Bernd Andreae: Weltwirtschaftspflanzen im Wettbewerb: Ökonomischer Spielraum in ökologischen Grenzen. Eine produktbezogene Nutzpflanzengeographie. De Gruyter, Berlin 2016, ISBN 978-3-11-083977-7, S. 67.
- Das HRAF-Projekt des amerikanischen Anthropologen George P. Murdock nutzt bezüglich der „Settlement Pattern and Community Organization“ die Kennzeichnung „Bands“ zur Unterscheidung der rund 400 erfassten Ethnien, siehe George P. Murdock: World Ethnographic Sample. In: American Anthropologist. New Series. Band 59, Nr. 4, 1957, S. 664–687, hier S. 669 (englisch); Zitat: „B [=] Bands, i.e., migratory or nomadic communities.“
- David Hurst Thomas u. a. (Hrsg.): Die Welt der Indianer: Geschichte, Kunst, Kultur von den Anfängen bis zur Gegenwart. Frederking Thaler, München 1994, ISBN 3-89405-331-3, S. 119 (US-Original: The Native Americans).
- Elizabeth Prine Pauls: The Difference Between a Tribe and a Band. In: Encyclopædia Britannica. 6. März 2008, abgerufen am 23. Oktober 2019 (englisch).