Historische Klimatologie
Die Historische Klimatologie befasst sich mit der Wirkung des Klimas und seiner Veränderungen auf historische Gesellschaften. Dabei stehen neben der Rekonstruktion historischer Klimaverhältnisse, die Suche nach dem gesellschaftlichen Einfluss langsamer Klimaveränderungen und klimatisch bedingter Extremereignisse sowie eine Kulturgeschichte des Klimas im Mittelpunkt, die eine Wissenschafts- und Wahrnehmungsgeschichte einschließt. Dies geschieht vielfach unter der weiter gefassten Perspektive einer Umweltgeschichte.[1][2]
Lange Zeit war sie am Rande der Sozialgeschichte und Mentalitätsgeschichte angesiedelt und unterlag dem Vorwurf des Klimadeterminismus. Seit der Debatte um die derzeitige globale Erwärmung erfreut sich die Klimageschichte steigenden wissenschaftlichen und öffentlichen Interesses, doch es bestanden gravierende methodische Probleme. Zunächst sollten seit den 1990er Jahren Witterungsverläufe, Klimaparameter, Großwetterlagen und Naturkatastrophen für die Zeit vor der Errichtung staatlicher Messnetze erstellt werden, hinzu kommt die von diesen Veränderungen (mit-)erzeugten Gesellschaftsveränderungen. Die Historische Klimatologie fußt auf Datenerhebungen unterschiedlicher Teildisziplinen, die aus verschiedenen Klimaarchiven, den „Archiven der Gesellschaft und der Natur“, stammen.[3] So liefern letztere aus Eisbohrkernen, aus Mooren, Seesedimenten, Pollen oder Baumringen Zeitreihen. Erstere hingegen liefern erheblich stärker zu überprüfende Angaben, wobei serielle Quellen, wie etwa Aufzeichnungen über den jährlichen Beginn der Weinlese, bevorzugt werden.
Geschichte
Die Variabilität des Klimas wurde ab dem späten 18. Jahrhundert erstmals vermutet und durch Autoren wie Louis Agassiz (1807–1873) zum Allgemeingut. Nur so konnte man die Spuren der Eiszeiten erklären und langfristige Klimaveränderungen aufzeigen.
Kurzfristige Änderungen in historischer Zeit wurden durch die bahnbrechenden Arbeiten von Hubert Lamb (1913–1997), Emmanuel Le Roy Ladurie (* 1929) oder Christian Pfister (* 1944) deutlich. Die in den 1960er Jahren einsetzende Forschung hat beachtliche Fortschritte gemacht. Zunächst wurden Wellen ausgemacht, die als römisches Klimaoptimum oder Mittelalterliche Warmzeit bekannt wurden. Die Konferenz Climate in History in Norwich 1979 gilt als ein Meilenstein der Klimageschichtsforschung.[4]
Die Kleine Eiszeit, eine Kälteperiode zwischen 1400 und 1850, ist besonders intensiv beforscht,[5] der schwedische Wirtschaftshistoriker Gustav Utterström hatte sie in die Wissenschaft eingeführt. Nur für diese Epoche lassen sich im gesamten Holozän Gletschervorstöße global nachweisen. In den Alpen verschwanden Dörfer, der Weinbau verschwand aus Pommern, Ostpreußen, Schottland oder Norwegen, die Olivenbäume in der Toskana erfroren. Parallel oder durch die Industrialisierung, die den „unterirdischen Wald“[6] verbrannte, um Bewegungsenergie und Wärme zu gewinnen, also fossile Brennstoffe, erwärmte sich das Klima wieder. Um 1840 entsprach das energetische Äquivalent der in Großbritannien verfeuerten Steinkohle einem so gedachten Wald von der Fläche des gesamten Landes. Der Nobelpreisträger für Chemie Paul J. Crutzen schlug daher vor, die geologische Epoche des Holozäns mit dem Beginn der Industrialisierung enden zu lassen und ab diesem Zeitpunkt von einem „Anthropozän“ zu sprechen.[7]
Seither lassen sich für die Zeit ab etwa 1500 sogar die räumlichen Verläufe einzelner Großwetterlagen nachzeichnen; hingegen sind weder Rekonstruktionsversuche noch die Rückwirkungen der Gesellschaft in Form der sogenannten Impaktforschung bis ins Mittelalter vorgedrungen. Subsistenzkrisen oder Epidemien konnten in einigen Fällen mit besonders kalten Perioden in Verbindung gebracht werden. Anhand von Abrechnungen von grundherrlichem Besitz ließ sich so etwa der Einfluss des Klimas im Zusammenhang mit der Großen Europäischen Hungersnot von 1314–1317 aufzeigen.
Mitteleuropa ist so reich an schriftlichen Zeugnissen, dass für die Frühe Neuzeit ab etwa 1500 in ausreichender Dichte und Qualität für nahezu jeden Monat ein differenziertes Bild der thermischen und hygrischen Bedingungen erstellt werden kann. Dies gestattet die Zuordnung der Quellenaussagen zu sieben Intensitätsklassen (von -3 für 'extrem kalt' bis +3 für 'extrem heiß'). Für den Zeitraum von 1000 bis 1500 ist immerhin eine jahreszeitliche Auflösung mit mindestens drei (-1 0 1) Intensitätsklassen möglich. Glaser (2008) stellte die Ergebnisse in einer durchgängigen Reihe zusammen. Zwar beziehen sich die Indexangaben nur auf die Temperatur, doch ließen sich auch andere Witterungsangaben ausdehnen. Wollte man hiermit Rückschlüsse auf einen Klimawandel ziehen, so hätte es sein können, dass sich die unmerkliche Wahrnehmungsanpassung der Chronisten an ebendiese Klimabedingungen darin spiegeln würde. Doch wenn mittel- und langfristige Klimaänderungen als Folge von Verschiebungen der Frequenz gleichgerichteter Witterungsanomalien in längeren Zeitabschnitten wahrgenommen werden, verlieren die Unsicherheiten, z. B. durch die besagte Adaption der Wahrnehmung an Bedeutung. Unter dieser Annahme genügen drei Bewertungsklassen, um in saisonaler Auflösung langfristige Schwankungen zu beschreiben. Ermittelt man, welchem durchschnittlichen Temperaturunterschied ein Indexschritt entspricht und filtert die extremen Abweichungen heraus, so ist die Rekonstruktion von langfristigen Temperaturentwicklungen möglich. Auch ein Modell zur Regionalisierung wurde entwickelt, so dass sich auch die Klimazonen in den Verläufen widerspiegeln. Die Ergebnisse werden durch dendrochronologische Untersuchungen bestätigt. Damit verliert die Suche nach durchgängigen Zeitreihen hin zur Bestimmung glaubhafter Aussagen zu einzelnen Jahreszeiten ihre Bedeutung, denn scharfe Abweichungen reduzieren sich zu einem unspezifischen Rauschen.
Seit den 1990er Jahren hat sich der Fokus der Historischen Klimatologie von der Ermittlung und Darbietung von Mittelwerten auf Naturkatastrophen (also Extreme) erweitert. Lange Zeit als kurzfristige Ereignisse von schnell vergessener Wirkung vernachlässigt, zeigten Forschungen, dass gesellschaftliche Faktoren in großem Maße die Wahrnehmung, die Verarbeitung und den Verlauf von solchen Ereignissen prägen. Anthony Oliver-Smiths Untersuchung von 1999 über das katastrophale Erdbeben vom 31. Mai 1970 in Peru, das über 70.000 Menschen zu Tode brachte, behauptete, das Kolonialsystem habe Strukturen geschaffen, die die Gesellschaft viel anfälliger (bzw. schlechter in der Lage sich zu helfen) gegenüber einer solchen Katastrophe machten.[8] Weitere Studien zeigten, dass die Reaktionen der Gesellschaften auf Naturkatastrophen auch kulturell und historisch gedeutet werden können (nicht nur naturwissenschaftlich). Besonders die städtische Fragilität gegenüber Extremereignissen trat dabei hervor. Auch sind die gesellschaftlichen Gruppen in unterschiedlichem Ausmaß von Erdbeben betroffen: vermögende Gruppen können sich oftmals stabilere Bauwerke leisten und wohnen an sichereren Stellen. Städte wurden immer wieder von Erdbeben, Überschwemmungen, Stürmen und Feuern zeitweise paralysiert oder im Extremfall völlig zerstört. Der Zusammenhang zwischen Stadtgeschichte bzw. Katastrophenresilienz – etwa der Entwicklung von Feuerschutz oder Erdbebensicherheit, von leicht wiederherstellbaren Strukturen – und Naturgefahr ist in Einzelstudien untersucht worden; eine Gesamtschau gibt es (Stand 200x) noch nicht.
Erinnerung an Naturkatastrophen
Die Erinnerung an Naturkatastrophen zeigt sich vielfach in Opfergedenktafeln, in Hochwassermarken, in Publikationen zu bestimmten Jahrestagen eines Ereignisses oder in sozialen Praktiken. In Japan kommen zum Beispiel seit dem Kanto-Erdbeben vom 1. September 1923 jedes Jahr Millionen Menschen zusammen. Eine Mediengesellschaft geht anders mit Katastrophen um; sie sind auch Objekt der Berichterstattung und wirtschaftlichen Handelns: Über das Erdbeben in San Francisco 1906 wurden mehrere Hundert Bücher publiziert sowie Fotografien und dergleichen verkauft.
Literatur
- Sam White, Christian Pfister und Franz Mauelshagen (Hrsg.): The Palgrave Handbook of Climate History. Palgrave Macmillan 2018.
- Pierre Alexandre: Le climat au moyen Âge en Belgique et dans les régions voisines (Rhénanie, Nord de la France). Recherches critiques d'après les sources narratives et essai d'interprétation. Löwen 1976.
- Alfred W. Crosby: Ecological Imperialism: The Biological Expansion of Europe, 900–1900, Cambridge 1986, 2. Auflage, Cambridge 2004 (deutsche Ausgabe unter dem Titel: Die Früchte des weißen Mannes. Ökologischer Imperialismus 900 - 1900. Frankfurt/New York 1991).
- Kurt Brunner: Karten als Klimazeugen. In: Mitteilungen der Österreichischen Geographischen Gesellschaft. Nr. 147, 2005, S. 237–264.
- Manfred Vasold: Die Eruptionen des Laki von 1783/84. Ein Beitrag zur deutschen Klimageschichte. In: Naturwissenschaftliche Rundschau. Band 57, Nr. 11, 2004, ISSN 0028-1050, S. 602–608.
- Reinhard Klessen: Einführung in die historische Klimatologie. Ergebnisse eines Projektseminares, Berlin: Geographisches Institut der Humboldt-Universität 2001.
- Dirk Riemann: Methoden zur Klimarekonstruktion aus historischen Quellen am Beispiel Mitteleuropas, Dissertation, Freiburg 2010.
- Christian Pfister: Wetternachhersage: 500 Jahre Klimavariationen und Naturkatastrophen (1496–1995), Bern 1999.
- Wolfgang Behringer: Kulturgeschichte des Klimas: Von der Eiszeit bis zur globalen Erwärmung, München, 2007.
- Rüdiger Glaser: Klimageschichte Mitteleuropas: 1000 Jahre Wetter, Klima, Katastrophen, Darmstadt 2001.
- Rüdiger Glaser: Historische Klimatologie Mitteleuropas, in: Europäische Geschichte Online, hrsg. vom Institut für Europäische Geschichte (Mainz), 2012, Zugriff am: 17. Dezember 2012.
- Tobias Krüger: Die Entdeckung der Eiszeiten: Internationale Rezeption und Konsequenzen für das Verständnis der Klimageschichte, Basel 2008.
- Franz Mauelshagen: Klimageschichte der Neuzeit 1500–1900, Darmstadt 2010.
- Simon Meisch und Stefan Hofer (Hrsg.): Extremwetter. Konstellationen des Klimawandels in der Literatur der frühen Neuzeit, Baden-Baden 2018.
- Christian Pfister: Klimageschichte der Schweiz, 1525–1860: Das Klima der Schweiz von 1525–1860 und seine Bedeutung in der Geschichte von Bevölkerung und Landwirtschaft, 3. durchgesehene Auflage, Bern 1988.
- Ludwig Fischer (Hrsg.): Projektionsfläche Natur. Zum Zusammenhang von Naturbildern und gesellschaftlichen Verhältnissen, Hamburg 2004.
- Rudolf Brázdil, Christian Pfister, Heinz Wanner, Hans von Storch und Jürg Luterbacher: Historical Climatology In Europe – The State Of The Art, in: Climatic Change 70,3 (2005) 363–430.
Weblinks
- climatehistory.net, Website eines Netzwerk von Forschern mit Nachrichten und Ressourcen zum Thema
- Historical Climatology.com, Beiträge von Wissenschaftlern, auch für Laien
- Uwe Luebken: Undiszipliniert: Ein Forschungsbericht zur Umweltgeschichte, in: H-Soz-u-Kult, 14. Juli 2010 (online)
Anmerkungen
- Patrick Masius u. a. (Hrsg.): Umweltgeschichte und Umweltzukunft: Zur gesellschaftlichen Relevanz einer jungen Disziplin, Göttingen 2009.
- Verena Winiwarter, Martin Knoll: Umweltgeschichte: Eine Einführung. Böhler/UTB 2007, ISBN 978-3825225216.
- Christian Pfister: Wetternachhersage: 500 Jahre Klimavariationen und Naturkatastrophen (1496-1995). Haupt, Bern 1999, ISBN 3-258-05696-X.
- Martin Bauch, Institut für Geschichte, TU Darmstadt.
- So etwa Wolfgang Behringer u. a. (Hrsg.): Kulturelle Konsequenzen der ‚Kleinen Eiszeit‘, Göttingen 2005.
- Rolf Peter Sieferle: Der unterirdische Wald: Energiekrise und industrielle Revolution, München 1982.
- Paul J. Crutzen: Geology of Mankind: the Anthropocene, in: Nature 415 (3. Januar 2002), S. 23.
- Anthony Oliver-Smith: Peru’s Five-Hundred-Year Earthquake: Vulnerability in Historical Context, in: Ders. und Susanna M. Hoffman (Hrsg.): The Angry Earth: Disaster in Anthropological Perspective, New York 1999, S. 74–88.