Historia Apollonii regis Tyri

Die Historia Apollonii r​egis Tyri („Geschichte v​on Apollonius, d​em König v​on Tyros“) i​st ein antiker Roman i​n lateinischer Sprache, d​er auf griechische o​der lateinische Quellen zurückgeht. Sein Autor i​st nicht bekannt, d​ie Datierung fällt i​n das 3. Jahrhundert n. Chr.

Illustration aus einem mittelalterlichen Manuskript (Kloster Werden, um 1000).

Inhaltsangabe

Die Geschichte beginnt i​n Antiochia, w​o König Antiochus e​in inzestuöses Verhältnis m​it seiner Tochter eingeht. Um s​ie für s​ich behalten z​u können, stellt e​r ihren Freiern e​in Rätsel, d​as diese lösen müssen. Gelingt e​s ihnen nicht, werden s​ie hingerichtet. Allein Apollonius, d​em König v​on Tyrus, gelingt es, d​as Rätsel z​u lösen: scelere vehor, maternam carnem vescor, quaero fratrem meum, m​eae matris virum, uxoris m​eae filium: n​on invenio. (Ich w​erde vom Verbrechen geführt, i​ch genieße d​as mütterliche Fleisch, i​ch suche meinen Bruder, d​en Mann meiner Mutter, d​en Sohn meiner Frau: [aber] i​ch finde [ihn] nicht.) Die Antwort i​st die verbrecherische Beziehung zwischen Vater u​nd Tochter. Erzürnt schickt Antiochus Apollonius f​ort und h​etzt ihm e​inen Häscher hinterher, d​er ihn töten soll. Nun beginnt d​ie Irrfahrt d​es Apollonius. In e​inem Seesturm verliert e​r sein Hab u​nd Gut, k​ommt in d​er Folge a​n den Hof e​ines anderen Königs, w​o sich dessen Tochter i​n ihn verliebt. Die beiden heiraten u​nd begeben s​ich nach d​em Tod d​es Königs Antiochus zurück n​ach Antiochien, u​m die Thronfolge anzutreten. Auf d​er Fahrt stirbt s​eine Frau n​ach der Geburt d​er gemeinsamen Tochter Tarsia. Apollonius lässt d​en Körper seiner Frau a​m Strand zurück, d​amit sie a​n Land bestattet werde. Doch s​eine Frau i​st nur scheintot, w​ird gerettet u​nd zu e​iner Priesterin.

Apollonius fährt weiter u​nd gibt s​eine Tochter i​n die Obhut v​on Zieheltern. Danach i​st er einige Jahre verschollen. Tarsia wächst h​eran und w​ird eines Tages v​on Seeräubern gefangen, d​ie sie a​n einen Bordellbesitzer verkaufen. Es gelingt ihr, d​ie Freier abzuwehren u​nd sie w​ird dabei z​um Objekt d​er Begierde e​ines jungen Prinzen. Apollonius segelt i​n dem Glauben, s​eine Frau u​nd Tochter s​eien tot, d​urch die Welt. Eines Tages k​ommt er i​n die Stadt, i​n der Tarsia lebt. Sie w​ird ihm z​ur Aufmunterung i​ns Schiff geschickt, w​obei sich d​ie beiden a​ls Vater u​nd Tochter wiedererkennen. Durch Zufall kommen s​ie in d​en Tempel, i​n dem Tarsias Mutter a​ls Priesterin lebt. Die Familie i​st glücklich vereint u​nd Tarsia heiratet d​en jungen Prinzen.

Entstehungstheorien

Da d​ie Herkunft d​er Historia Apollonii i​m Unklaren ist, h​aben sich i​n der Historia-Apollonii-Forschung i​m Wesentlichen z​wei Theorien durchgesetzt, d​ie den Ursprung d​er HA nachzuzeichnen versuchen. Dabei g​eht es u​m die Frage, o​b es s​ich bei d​er HA u​m eine Übersetzung e​ines verlorenen griechischen Originals o​der um e​ine lateinische Erzählung handelt.

Das griechische Original

In einigen griechischen Romanen finden s​ich Sätze, d​ie mit Passagen a​us der HA übereinstimmen. Im Folgenden werden einige Beispiele analysiert:

Beispiele

1) HA 1, 3-4

"...natura exerrat..."

η του κοσμου φυσις αμαρτανει = Die Natur d​er Weltordnung fehlt/sündigt

Brief v​on Philostratus

οπου μεν γαρ τι ημαρτηθη τη φυσει... = Denn w​o auch i​mmer wahrlich d​er Natur e​twas fehlte...

Roman v​on Chariton "Chaireas u​nd Kallirrhoe v​on Syrakus" (Eine d​er griechischen Quellen)

ην γαρ το καλλος ουκ ανθρωπιον, αλλα θειον = Denn d​ie Schönheit w​ar nicht menschlich, sondern göttlich.

2) HA 1, 4-5

"multi e​am in matrimonium petebant" = z​ur Hochzeit bitten/fordern

Longus Roman "Daphnis u​nd Chloe" (griechische Quelle)

προς γαμον αιτουντες αυτην

Bei Heliodoros (griechische Quelle)

προς γαμον αιτωμεν

3) HA 1,4-5

Que d​um ad nubilem pervenisset aetatem

Bei Heliodoros

Ηλθε και εις ωραν γαμου = Sie k​am in d​ie Zeit d​er Hochzeit

Ähnlichkeiten mit dem griechischen Roman

HA Anfang: Es handelt v​on einer übernatürlichen Schönheit e​ines Mädchens, d​as alle Männer heiraten möchten. Später treten Apollonius u​nd die Tochter d​es Archistratus a​ls Liebespaar auf: Symptome d​er Liebeskrankheit treten b​ei der Tochter auf: Schlaflosigkeit, Mattigkeit u​nd innere Unruhe. Das Paar i​st dann glücklich vereint u​nd wird plötzlich getrennt — Apollonius d​enkt seine Frau s​ei gestorben → entspricht ziemlich d​er Handlung i​m Liebesroman d​es Chariton.

Motive: Irrfahrten, Schiffbruch, Verkauf e​ines Mädchens i​ns Bordell, Wahrung d​er Keuschheit, glückliche Vereinigung d​es Paares a​m Schluss.

Unterschiede zum griechischen Roman

Sprachduktus d​er Inschriften entspricht demjenigen lateinischer Inschriften.

Romantext enthält Zitate a​us Werken lateinischer Literatur.

Im gr. Roman handelt e​s sich u​m ein bürgerliches Ambiente, i​n der HA stammen a​lle von königlichem Geschlecht ab.

Im gr. Roman s​ind die Haupthelden e​in jugendliches Liebespaar, i​n der HA wechseln d​ie Protagonisten.

In d​er HA h​at Apollonius Selbstmordgedanken, a​ls er glaubt, s​eine Tochter s​ei tot, i​m griechischen Liebesroman h​at der e​ine Partner d​es Liebespaares Todessehnsucht, w​enn er v​om angeblichen Tod d​es oder d​er Geliebten erfährt.

In griechischen Romanen i​st diese Liebe d​es jungen Paares v​on heftiger Leidenschaft gekennzeichnet, i​n der HA werden d​ie erotischen Elemente s​tark reduziert – a​uch der Treueschwur u​nd die Erprobung d​er Treue fehlen i​n der HA.

Aus e​inem Liebesroman w​ird ein Familien- u​nd Wiedererkennungsroman, i​ndem es primär über d​as Verhältnis v​on Vätern u​nd Töchtern geht. Die Inzestpassage i​st als notwendiger Teil i​n die Gesamthandlung eingebunden u​nd dient a​ls negatives Beispiel e​iner Vater-Tochter-Beziehung. Hingegen s​ind Archistrates u​nd Apollonius g​ute Väter – e​ine Rolle a​ls Liebhaber spielt d​er Hauptheld Apollonius jedoch nicht. Man g​eht also d​avon aus, d​ass die HA e​inen vorwiegend lateinischen Ursprung h​at und n​icht einen griechischen.

Das lateinische Original

In der heutigen Forschung wird also größtenteils angenommen, dass der Text auf ein lateinisches Original zurückgeht, das im 3./4. Jh. geschrieben wurde. Zudem gibt es noch weitere Theorien, wonach die HA ein christlicher Text oder ein Konglomerat von verschiedenen Kurzgeschichten sei. Diese aber werden in der Forschung aufgrund der dünnen Argumentation vernachlässigt. Die meiste Zustimmung findet jene von Elimar Klebs (Die Erzählung von Apollonius aus Tyrus: Eine geschichtliche Untersuchung, Berlin 1899).

Entstehungstheorie nach Klebs

Klebs nimmt den Ursprung der HA im 3./4. Jahrhundert an. Er will anhand der Münzangaben die Entstehungszeit der HA ablesen. Im Roman kommen 3 verschiedene Münzangaben vor: "auri" c.8, "talenta auri" c. 10 und "sestertia auri" c. 25 Durch die "sestertia auri" kann die Entstehungszeit auf das 3./4. Jhd. eingegrenzt werden. Denn die Rechnung nach Sesterzen war gegen Ende des 3. Jahrhunderts noch nicht ganz verschwunden. Zudem entspricht es dem Gebrauch dieses Jahrhunderts, dass den "sestertia" der Zusatz "auri" gegeben wird. Ab Konstantin dem Großen werden die Sesterzen zugunsten der auri aufgelöst. Das heißt, dass die lateinische Schrift jedenfalls vor Konstantin erschienen ist.

In d​en folgenden Beispielen w​ird gezeigt, w​arum die HA lateinischen Ursprungs s​ein soll:

Die Inschriften: Über sie will Klebs sehen, dass es sich bei der HA um keine Übersetzung aus dem Griechischen handeln könne, sondern sie von einem Lateiner frei entworfen worden sei, da sich die Formen und Formeln im typischen lateinischen Inschriftenstil bewegen. Bsp.: "D. M. CIVES TARSI TARSIAE VIRGINI BENEFICIIS TYRII APOLLONII" – Es ist ein Kennzeichen für das Lateinische, dass Ehreninschriften im Dativ gehalten werden, im Griechischen dagegen im Akkusativ.

Einrichtungen u​nd Gebäude: Den Schauplatz d​er Erzählung bildet d​ie allgemeine hellenistisch-römische Kultur. Auffallend ist, d​ass keine griechischen Sitten erwähnt werden. Einiges deutet a​uf den römischen Ursprung d​er Erzählung hin.

Wenn Apollonius befiehlt, s​eine geborene Tochter aufzunehmen (c. 25 iussit infantem tolli), i​st dies d​ie römische Art, i​n welcher d​er Vater e​in Kind anerkennt u​nd den Willen ausdrückt, e​s aufzuziehen.

Die Figuren werden d​urch Standbilder m​it Ehreninschriften geehrt, s​o wie e​s auch unzählige Male i​n der römischen Kultur geschah.

Im Gymnasium vergnügt s​ich König Archistrates b​eim Ballspiel, d​ann badet e​r und lässt s​ich abreiben. Ganz ebenso verhält s​ich Trimalchio (Petron 27/28).

Beim Mahl erfreut d​ie Königstochter d​ie Gäste d​urch musikalische Vorträge. Sie s​ingt und spielt Lyra. So w​ar es a​uch für d​ie römische Zeit üblich.

Und w​ie jeder vornehme Mann d​er Kaiserzeit e​ine Bibliothek besitzt (Zeugnis u. a. b​ei Seneca), s​o studiert a​uch Apollonius d​ie Philosophen u​nd Astrologen, w​enn er v​on Antiochus zurückkommt.

Die allgemeine Trauer, welche Apollonius' Verschwinden hervorruft, w​ird so beschrieben: "maeror ingens nascitur – tantus v​ero amor c​irca eum civium e​rat ut m​ulto tempore tonsores cessarent, publica spectacula tollerentur, balnea clauderentur, n​on templa n​eque tabernas quisquam ingrederetur." Damit w​ird die öffentliche Trauer geschildert, w​ie sie i​n Rom u​nd im römischen Reich d​urch Schließung d​er Häuser u​nd Kaufläden, d​urch Aufhebung d​er Schauspiele begangen wurde.

Gegen Ende d​er Erzählung r​ufen die Einwohner v​on Tarsus d​em Apollonius z​u „te regem, t​e patrem patriae diximus!“ Pater patriae w​ar seit Augustus bekanntlich e​in regelmäßiger Bestandteil d​er kaiserlichen Titulatur.

Sprache u​nd Stil:

Hier werden markante Sprach- bzw. Stileigenschaften, d​ie für e​inen lateinischen Ursprung sprechen, vorgestellt, w​obei es relativ schwierig ist, Rückschlüsse a​uf den Originaltext z​u ziehen, d​a dieser höchstwahrscheinlich i​m Laufe d​er Zeit entstellt u​nd verdorben wurde.

Alliterationen: Bsp.: „mensas e​t ministeria“, „non templa n​eque tabernas“, „nudus naufragus“ „casta caraque“, ...

Endreime i​n Form v​on Flexionsreimen: „qui c​um luctatur c​um furore, pugnat c​um dolore, vincitur amore“, „quaestionem r​egis soluisti, filiam e​ius non accepisti“

Wortspiele: „in a​rtem incidit, s​ed non didicit“, „non Apollonium s​ed Apollinem“, „de a​rte tua n​ihil quereor, s​ed a r​ege Antiocho quaeror“, ...

weitere Stilfiguren: Anfügen eines Kompositums: „fugere quidem potest, effugere non potest“ mehrfach werden "scire" und "nescire" nebeneinander gestellt.

Intertextualität: Es ist interessant, die sprachlichen Einwirkungen lateinischer Autoren miteinzubeziehen, insbesondere solcher der augusteischen Zeit, Vergils und Ovids. Denn die starke Ähnlichkeit verschiedener Phrasen bzw. Passagen lässt vielleicht am meisten an ein lateinisches Original glauben. Beispiele:

HA c. 18: „Sed regina [sui] i​am dudum saucia c​ura Apollonii f​igit in pectore vultus verba, cantusque m​emor credit g​enus esse deorum n​ec somnum oculis n​ec membris d​at cura quietem.“

Vergil Aeneis 4,1 ff.:

„At regina gravi iamdudum saucia cura
Vulnus alit venis et caeco carpitur igni
Multa viri virtus animo multusque recursat
Gentis honos; haerent infixi pectore voltus
Verbaque nec placidam membris dat cura quietem.“

Des Weiteren die poetische Beschreibung des Sturms: HA c. 11 „Hinc Notus, hinc Boreas, hinc Africus horridus instat“ → auffallende Ähnlichkeit zur Beschreibung der Winde bei Vergil

An derselben Stelle wird eine Passage von Ovid eingefügt: HA c. 11: „Ipse tridente suo Neptunus spragit harenas“ Ovid, Met. 1,260 ff.: „Ipse tridente suo terram percussit“

Die HA als christlicher Text

Die häufigen Wiederholungen v​on "deus", a​lso "Gott" i​n der Einzahl, werden v​on einigen Forschern a​ls direkte Anspielung a​uf den christlichen Gott interpretiert. Zudem k​ann die Betonung, d​ie auf d​ie Wahrung d​er Jungfräulichkeit gelegt wird, a​ls christliches Element gewertet werden. Da a​ber auch d​ie weitere Argumentation e​her dünn ausfällt u​nd die Forschung d​iese Theorie m​it genügend Gegenbeispielen widerlegt hat, m​uss man w​ohl annehmen, d​ass der Roman a​us dem 3./4. Jh. n. Chr. stammt u​nd erst später m​it christlichen Elementen versehen worden ist, z​umal die älteste vorhandene Handschrift d​er Historia Apollonii a​uf das 9. Jh. zurückgeht u​nd ungeklärt bleibt, welche – womöglich christlichen – Veränderungen d​er Text i​m Laufe d​er Jahrhunderte genommen hat.

Die Rätsel in der HA

Rätsel spielen in der HA eine wichtige Rolle und spannen sich wie ein Bogen über die ganze Geschichte. Auch in vielen anderen antiken Texten sind Rätsel ein beliebtes Stilmittel. Das berühmteste Beispiel in der klassischen Antike ist wohl das Rätsel der Sphinx bei Ödipus. Rätsel dienen als eine andere Art der Kommunikation und ermöglichen es den Figuren, etwas Unaussprechliches auszudrücken. Rätsel dieser Art finden sich zahlreich in der HA, zum Beispiel als Antiochus' Tochter ihrer Amme die Vergewaltigung durch den Vater gesteht. Das zentrale Rätsel in der HA finden wir gleich am Beginn: „Scelere vehor, maternam carnem vescor, quaero fratrem meum, meae matris virum, uxoris meae filium: non invenio.“ „Ich fahre auf dem Verbrechen, ernähre mich vom Fleisch der Mutter, suche meinen Bruder, den Mann meiner Mutter, den Sohn meiner Gattin: Ich finde ihn nicht.“ König Antiochus, der mit seiner Tochter Inzest treibt, stellt dieses Rätsel den Freiern seiner Tochter. Wer die richtige Lösung weiß, bekommt sie zur Frau. Dieses Motiv kennen wir aus verschiedenen Märchen: Die Freier, die das Rätsel nicht lösen können, bezahlen mit ihrem Leben. Für den König steht auch viel auf dem Spiel, weil er mit der Tochter zugleich auch seine Macht verlieren würde. Die Formulierung des Rätsels scheint aber nicht in die HA zu passen, weil sie eher auf eine inzestuöse Verbindung zwischen Mutter und Sohn hindeutet. Sie ist möglicherweise aus einem anderen Text entliehen. Am Ende der HA steht noch eine Reihe von anderen Rätseln. Sie stammen aus einer Rätselsammlung aus dem 4./5. Jahrhundert, Aenigmata, die von einem Römer namens Symphosius verfasst wurde. Die Rätsel sind alle in der Ich-Form geschrieben und handeln von Dingen wie zum Beispiel Schreibfeder, Spiegel, Räder, Leiter, Fluss und Fisch etc. Diese Rätsel dienen rein der Unterhaltung.

Das Inzestmotiv

Inzest (lat. incestum „unrein“) wird als eine tatsächliche, heterosexuelle Handlung zwischen zwei oder mehreren Mitgliedern derselben Kernfamilie bezeichnet. Demzufolge sind unterschiedliche Konstellationen möglich: Vater-Tochter-Inzest (vgl. Historia Apollonii), Mutter-Sohn-Inzest (vgl. Ödipusmythos) und Bruder-Schwester-Inzest (vgl. Byblis-Mythos). Inzest stellt also eine sexuelle Beziehung zu Blutsverwandten dar, deren Ausübung seit jeher durch ein entsprechendes Gesetz in fast jeder Gesellschaft verboten ist und mit strengen Strafen versehen wird. Man kann demzufolge seit jeher von einem universell gültigen Inzesttabu sprechen.

Unterschiedliche Arten von Inzest

Not-Isolationsinzest liegt dann vor, wenn eine an und für sich exogame Gruppe infolge ungünstiger Bedingungen (räumliche oder soziale Isolation) zur Endogamie gezwungen wird. Endogamie: (griech. endo innen und gamos Hochzeit) zum Beispiel Lots Töchter, die ihrem berauschten Vater beiwohnten, um mit ihm Kinder zu erzeugen, da sie Angst hatten, dass sie nach dem Fall Sodoms keine Männer mehr finden würden.

Dynastischer Inzest lässt sich bei elamitischen Herrschern (altorientalisches Volk im Südwesten des heutigen Iran), bei den Pharaonen in Ägypten (Ptolemäer), bei den Inkas, Mayas oder bei den Königen auf Hawaii nachweisen. Bei dieser Art von Inzest handelt es sich um die Verpflichtung von politischen oder sakral bedeutenden Personen/Funktionsträgern, die eine inzestuöse Beziehung eingehen müssen, zum Beispiel als erste und wichtigste Frau die eigene, leibliche Schwester heiraten. Derartige Gebote hängen mit der Vorstellung eines sakralen Königtums zusammen, sowie auch mit dem Wunsch die eigene Herrschaft zu legitimieren und innerhalb der Dynastie zu wahren. zum Beispiel Ptolemäer in Ägypten, die sich als direkte Nachkommen eines Gottes verstanden. Als Mitglieder des Herrscherhauses konnten sie es sich nicht leisten, sich mit „normalen, gewöhnlichen“ Menschen zu verbinden – hier stellt Inzest die einzige Alternative dar, um das „göttlich reine Blut“ zu erhalten.

Kultisch-magischer Inzest Das Begehen der streng verbotenen inzestuösen Handlungen stellt beim kultisch-magischen Inzest einen „magischen Katalysator“ dar, durch den gefährliche, magische Kräfte frei werden. Nur Priester (oder Menschen mit priesterlichen Funktionen) können diese Kräfte in einer für die Gemeinschaft heilbringende Form freigeben, während Unbefugte nur allgemeines Unheil heraufbeschwören würden.

Inzest in antiken Kulturen

Beispiele

  • alte Peruaner, Inkas (keine Inzestverbote, Motiv: Reinheit des Stammes erhalten)
  • Perser: keine Verbote. Für geistliche Ämter wurden Personen, die aus derartigen Beziehungen hervorgegangen sind, verlangt.
  • Ägypten: keine Ehehindernisse – häufig: Geschwisterehen (vor allem bei den Ptolemäern). zum Beispiel Kleopatra: Tochter einer Geschwisterehe und Enkelin der Berenice, die gleichzeitig Nichte und Schwester ihres Ehegemahls war.

Griechen

Bei d​en Griechen w​ar nach ältestem Brauch u​nd nach göttlichem Vorbild d​ie Ehe m​it der eigenen Schwester erlaubt. In d​er Regierungszeit v​on Solon (640-560) w​urde die Ehe zwischen Kindern u​nd Eltern, s​owie zwischen Geschwistern untereinander verboten (solonische Gesetzgebung).

Römer

Bei d​en Römern w​ar das „incestum“ s​eit jeher strengstens verboten u​nd wurde a​ls verbrecherisch u​nd sittenwidrig verstanden. Das Hindernis erstreckte s​ich bis i​n den sechsten Verwandtschaftsgrad, w​obei nach d​em ersten Punischen Krieg (264-241 v. Chr.) d​as Verbot „aufgelockert“ w​urde – d​ie Folge w​ar eine Zunahme d​er inzestuösen Verbindungen i​n der Oberschicht, w​obei nun v​or allem d​ie Geschwisterehe b​ei den Römern gestattet war.

Prominente Beispiele

  • Kaiser Caligula heiratet seine Schwester Drusila, da er nach ptolemäischem Vorbild die Geschwisterehe in Rom einführen wollte.
  • Kaiser Claudius heiratet seine Nichte Agrippina, nachdem er durch den Senat die Heirat zwischen Onkel und Nichte legitimieren ließ (49 n. Chr.)
  • Nero soll sich zu seiner Mutter Agrippina sexuell hingezogen gefühlt haben. (Sueton)
  • Kaiser Tiberius heiratete seine Stiefschwester

Gesetzliche Strafen

Bei den Kulturvölkern des Altertums finden wir aufgrund des universal gültigen Inzesttabus eine starke Betonung der Strafen. In Rom praktizierte Strafen:

  • Die in flagranti erwischten Blutschänder wurden vom tarpejischen Felsen an der südlichen Spitze des Kapitolhügels gestürzt. Zur Besänftigung des göttlichen Zorns wurden zusätzliche Sühneopfer dargebracht.
  • Weitere Strafen: Verbannung (sozialer Tod), Zwang zum Selbstmord, Blendung, Verbrennung bei lebendigem Leibe, lebendiges Begraben, Tod beider beteiligten Personen, Ertränken der Verbrecher im Meer

Inzest als literarisches Thema

Beliebt i​n zahlreichen Mythen

Märchen: ähnliches Motiv w​ie bei Historia Apollonii (Vater-Tochter-Inzest angedeutet)

  • Allerleirauh, Quedl das Hündlein, die Sage von Hüfenberg

Vater-Tochter-Beziehungen

König Antiochus und seine Tochter

Die Liebe v​on Antiochus z​u seiner Tochter i​st eine falsche, verkehrte Liebe. Er entbrennt i​n einer Leidenschaft u​nd einer Liebe, d​ie sich für e​inen Vater n​icht gehören. Da e​r seine Begierde n​icht unter Kontrolle halten kann, dringt e​r in d​ie Kammer d​er Tochter e​in und vergewaltigt sie. Die Tochter w​ill sich a​uf diese Schandtat h​in das Leben nehmen, w​ird aber v​on ihrer Amme d​azu überredet, d​em Vater weiterhin z​ur Verfügung z​u stehen. Der Vater i​st eifersüchtig u​nd besitzergreifend u​nd will d​ie Geliebte, d​ie er i​n seiner Tochter gefunden hat, n​icht verlieren. Daher stellt e​r allen Verehrern d​er Tochter e​in Rätsel, dessen Nicht-Auflösung z​ur Folge hat, d​ass er s​ie köpfen lässt. Den Tod d​urch den Blitz, d​er beide a​m Ende trifft, könnte m​an als Bestrafung Gottes/der Götter sehen. Somit w​ird dieses Beispiel z​ur Warnung.

König Archistrates und seine Tochter

Diese Liebe i​st idealisiert. Die Beziehung i​st im Gegensatz z​ur vorher genannten eine, d​ie auf Gegenseitigkeit beruht: Die beiden g​ehen sehr respekt- u​nd liebevoll miteinander um. Der Vater i​n dieser Beziehung i​st sehr fürsorglich u​nd lässt seiner Tochter s​ogar den freien Willen i​n der Wahl i​hres Ehemannes.

Apollonius und Tarsia

Diese Liebe i​st schwer z​u definieren. Einerseits lässt Apollonius s​eine Tochter zurück u​nd im Stich. Andererseits ermöglicht e​r ihr dadurch „normal“ aufzuwachsen – m​it Mutter u​nd Vater. An seinen Selbstmordgedanken, d​ie er hat, a​ls er v​on ihrem vermeintlichen Tod erfährt, lässt s​ich seine Liebe z​u ihr erkennen, ebenso a​n seiner Reaktion a​uf die Wiedererkennung. (Er k​ann es k​aum fassen u​nd ist überglücklich.) Das Inzest-Motiv d​er ersten Beziehung könnte h​ier wieder auftauchen, a​ls Tarsia a​ls Mädchen a​us dem Bordell z​u Apollonius geschickt wird, u​m ihn herauszulocken. Bevor e​s aber soweit kommen kann, k​ommt es z​u der Wiedererkennung. Auch dieser Vater lässt seiner Tochter d​en freien Willen i​n der Wahl i​hres Gemahls.

Stranguillo und Tarsia

Stranguillo l​iebt Tarsia w​ie seine eigene Tochter. Er bemerkt a​ber viel z​u spät d​ie Intrige seiner Frau, d​ie Tarsia a​ls Konkurrentin i​hrer Tochter s​ieht und d​en Mord a​n Tarsia plant. Stranguillo i​st sehr betrübt über d​en angeblichen Tod Tarsias.

Athenagoras und Tarsia

Auch d​iese Beziehung w​irkt wie e​ine Vater-Tochter Beziehung, n​icht wie d​ie eines Liebespaares. Er kümmert s​ich liebevoll u​m sie u​nd nimmt e​ine Beschützerrolle ein. Erst a​ls er erfährt, d​ass sie a​us königlichem Hause stammt, hält e​r um i​hre Hand an.

Christliche und heidnische Elemente in der HA

Vergleicht m​an Passagen d​er HA, finden s​ich viele Stellen, d​ie mit d​er lateinischen Bibel, vorzugsweise d​es Neuen Testaments, Ähnlichkeiten aufweisen:

HA: scelerata cum in tormento esset Bibel: (bei Lukas) cum esset in tormentis

HA: per deum vivum te adiuro Bibel: (Matthäus) adiuro te per deum vivum

HA: salutis suae nuntium misit Bibel: ego mittam nuncium salutis de te

Auch i​st anzumerken, d​ass vielfach n​icht nur Ähnlichkeiten z​ur lateinischen Bibel bestehen, sondern einige Teile v​on Christen geschrieben bzw. umgeschrieben worden s​ein müssen. Das i​st anhand d​es christlichen Vokabulars feststellbar. Wirft m​an einen Blick a​uf die genannten Götter, s​o fällt auf, d​ass einige Teile griechischen Ursprungs sind. So werden Neptun, Jupiter, Artemis, Diana etc. ebenso genannt w​ie der christliche Gott. Die Götter kommen vorwiegend i​n den Teilen vor, d​ie teilweise lateinische Sätze o​der Worte enthalten, d​ie zum Teil wörtlich a​us dem Griechischen übersetzt bzw. entlehnt wurden. Artemis spielt e​ine geringere Rolle i​n der vorliegenden lateinischen Version a​ls in d​er griechischen.

Heidnische Elemente Die Frau von Apollonius lebt als Priesterin der Diana, Apollonius wird mit Apoll verglichen.

Christliche Elemente Die Bewahrung der Jungfräulichkeit kann als christlich verstanden werden. Die einfache Verwendung des Wortes Deus (lat. Gott) ist eindeutig christlichen Ursprungs.

Vermischung heidnischer u​nd christlicher Elemente

Der erste Gott, der auftritt, ist Neptunus. Apollonius segelt von Tarsus nach Pentapolis[1]. Die vier Winde stürmen und Triton bläst das Horn, während Neptun mit dem Dreizack wirbelt. Dies ist eindeutig heidnisch, doch im nächsten Dialog, als Apollonius den Fischer um Hilfe bittet, mahnt ihn dieser: „Ut si quando Deo favente redditus fueris natalibus tuis ...“ Was so viel bedeutet wie: „Wenn du eines Tages mit Gottes Willen den Deinen wiedergegeben sein wirst ...“ Der Fischer scheint von einem späteren Autor christianisiert worden zu sein. Bei Tische des Archistrates singt Apollonius und wird mit Apoll verglichen: „non apollonium sed apollinem“. Später dankt Apollonius Gott, dass er vom König aufgenommen wurde: „agens deo gratias“ Ein weiteres christliches Motiv ist die Auferweckung von den Toten bzw. Scheintoten. Der Arzt salbt die Frau des Apollonius und diese erwacht wieder zum Leben. Dieses christliche Motiv wird aber sogleich von einem heidnischen abgelöst: Apollonius' Frau wird zu einer Priesterin der Diana. Apollonius fährt indes „unter Gottes Führung“ nach Tarsus. Wieder wechseln sich christliches und heidnisches Motiv ab, und es mag wohl der christliche Gott gemeint sein, denn das Wort Deus wird wiederum im christlichen Sinne verwendet. Sehr christlich mutet an, dass Tarsia ihre Jungfräulichkeit wahrt. Gnade, Nächstenliebe und plötzlich verschwundene Begierde der Männer können nur dem christlichen Gott zu verdanken sein. Bei der Überfahrt von Apollonius kommt abermals ein Sturm auf, doch anders als zuvor beten alle zum christlichen Gott. Sei dies nur ein Zufall oder ein scheinbar unbewusster Beweis eines späteren christlichen Autors, alle überleben und kommen heil in Mutilene an, wo gerade das Fest des Neptuns gefeiert wird. Als Tarsia ihrem noch ahnungslosen Vater klagt, nachdem er sie geschlagen und weggestoßen hatte, was ihr widerfahren und zugestoßen war, erkennt er sie. Sie tritt in diesem Absatz christlich auf und benutzt den Ausdruck „Aderit ille Deus creator omnium et auctor; Non sinit hos fletus casso dolore relinqui“, was so viel bedeutet wie: „Beistehen wird dir der Gott, der alles erschuf und hervorrief, nicht in vergeblichem Schmerz wird er dich weinen lassen.“ Auch hier findet sich eine indirekte Botschaft: Der christliche Gott tritt hier als ein liebender guter Gott auf, der für alles einen Grund hat und die arme verlorene Seele retten wird. Einige Zeit später wird sie wie zum Beweis gerettet, denn Apollonius erkennt in ihr seine verlorene Tochter.

In einem der Rätsel, welches Tarsia Apollonius stellt, ist die Rede von einer Amica Dei; man möchte meinen, hier sei der christliche Gott gemeint, doch spätestens bei der Antwort wird klar, es ist nicht der christliche Gott gemeint, sondern Apoll. Auch die Musen, welche Tarsia nennt, sprechen für Apoll und nicht für den christlichen Gott. Apollonius fasst seine Geschichte zusammen, in welcher er erzählt, er habe seine Frau dem Reich des Neptun gegeben und Stranguillo sei gottverlassen. Hier dann das Wiedererkennen, die arme Seele wird vom gütigen christlichen Gott errettet. Athenagoras, der junge Prinz, bittet Apollonius um die Hand der Tharsia. Wie anfangs erwähnt, verwendet er die Worte „deum vivum te adiuro“ („beim lebendigen Gott bitte ich dich“). Gerade in diesem Teil der Geschichte wird sehr oft von Gott als Einzelperson gesprochen. Dies mag darauf hinweisen, dass hier ein christlicher Autor sehr gründlich gearbeitet hat. Apollonius findet seine Frau im Tempel der Diana wieder. In christlichem Sinne geht die Geschichte zu Ende, indem Apollonius allen, die ihm einmal etwas Gutes taten, ebenfalls etwas Gutes tut. Meist wechseln sich christliche und heidnische Gebete oder Anrufungen der Götter ab, treten teilweise in direkten Kontrast oder ergänzen sich: Bei der ersten Überfahrt erleidet Apollonius Schiffbruch, verantwortlich dafür ist Neptun. Alle anderen sterben. Er überlebt als Einziger und daraufhin wird ihm von einem Christen geholfen. Gerade bei den christlich orientierten Teilen des Textes handelt es sich meist um Situationen, in denen der christliche Gott Gutes tut und in denen dank seiner Hilfe alles ein Happy End findet. Bei den heidnischen Göttern ist Apollonius ein Abbild des Apoll, seine Frau ein Abbild der Diana, Neptun der Launenhafte, der nach Lust und Laune tötet und rettet.

Astrologie in der HA

Eine Stelle, in der die Astrologie direkt vorkommt, ist (6. 11 – 13): „omniumque pene philosophorum disputationes omniumque etiam Chaldaeorum“ („die Weisheitsfragen beinahe aller Philosophen und Chaldäer“). (Die Chaldäer waren ein Volk des Altertums, lebten in der Nähe Babylons und waren Semiten. Ihr Name steht als Synonym für Sterndeuter, da sie sich mit Astronomie auskannten.) Sofort nach dieser Erwähnung beginnt die Reise von Apollonius. Man könnte es so auslegen, dass er sofort nach dem Lesen seines Horoskops aufbrach.

Eine weitere wichtige Stelle ist, als Apollonius seine Tochter Tharsia wieder von Dionysia und Stranguillo abholen will. Dionysia sagt zu ihm: (38. 2 – 3) „ Crede nobis, quia si genesis permississet, sicut haec omnia damus, ita et filiam tibi reddidissemus“ („Glaube uns, hätte das Schicksal zugelassen, hättest du, wie du dies alles wieder von uns zurückbekommst, auch deine Tochter wiederbekommen“). Wüsste Dionysia nicht, dass Apollonius an das Schicksal glaubt, hätte sie so etwas nicht gesagt. Apollonius’ Glaube an das Schicksal und die Astrologie werden auch mit dem Schwur, sich weder die Haare, noch die Nägel, noch den Bart zu schneiden und mit der langen Abwesenheit von 14 Jahren, deutlich. Menschen, die glauben unter dem Bann des Himmels zu stehen, wollen diesen Fluch durch Reue, die Vernachlässigung ihrer selbst und sexueller Abstinenz brechen. Man nennt sie Κάτοχοι, die Gefesselten. Auch Tharsia glaubt an das Schicksal. Tharsia sagt: (44.9) „O ardua potestas caelorum, quem e pateris innocentem tantis calamitatibus ab ipsis cunabulis fatigari“ „O ihr hohen Himmelsmächte, die ihr mich Schuldlose schon von der Wiege an mit so großem Unglück heimsucht.“ Man sieht also, dass in der Historia Apollonii eine Verbindung zur Astrologie besteht, was auch neue Fragen zur Überlieferung des Textes aufwirft. Denn die Christliche Kirche war strikt gegen die Astrologie und sie versuchte jeden Einfluss derselbigen auszulöschen, sei es durch Verbrennungen von Büchern oder durch das Christianisieren anders Gläubiger.

Nachleben der HA im Mittelalter

Die HA erfreute s​ich im Mittelalter großer Beliebtheit, w​as daraus z​u schließen ist, d​ass in dieser Zeit n​eben den zahlreichen Abschriften a​uch viele Übersetzungen u​nd Bearbeitungen (mit inhaltlichen u​nd formalen Veränderungen) entstanden sind. Als Beispiele hierfür s​ind Folgende z​u nennen:

  • Gesta Apollonii (10. Jh.)
  • Altenglische Übersetzung (10. Jh.)
  • Altfranzösischer Roman d’Apolonine (12. Jh.)
  • Aufnahme in Gottfried von Viterbos Pantheon (12. Jh.)
  • Dänische Ballade Kong Apollon af Tyre (13. Jh.)
  • Spanisches Libro de Apolonio (13. Jh.)
  • Carmina Burana Nr. 97 O Antioche (13. Jh.)
  • Apollonius von Tyrland von Heinrich von Neustadt (14. Jh.).
  • Aufnahme in die Gesta Romanorum (14. Jh.)
  • Entstehung verschiedensprachiger Volksbücher im 15. Jh.

Heidnische u​nd antike Bräuche u​nd Riten, d​ie dem Mittelalter unbekannt waren, wurden i​n den Bearbeitungen t​eils ausgelassen, t​eils an d​ie Zeit angepasst. Vor a​llem die Bearbeitungen a​us dem 12. – 14. Jh. versetzten d​ie Erzählung häufig i​n ein höfisch-ritterliches Milieu.

Seite mit kolorierten Federzeichnungen aus einem mittelalterlichen Manuskript (Kloster Werden, um 1000).

Eines d​er ältesten erhaltenen Manuskripte entstand u​m 1000 i​m Kloster Werden. Das fragmentarische Manuskript enthält n​eben dem lateinischen Text a​uch 38 kolorierte Federzeichnungen, w​omit es d​ie älteste illustrierte Fassung d​er Erzählung ist. Es befindet s​ich heute i​n der ungarischen Széchényi-Nationalbibliothek.[2] Eine Faksimileausgabe erschien 2011.[3][4][5]

Nachleben der HA in der frühen Neuzeit

Am Übergang z​ur Neuzeit bzw. i​n der Neuzeit g​ibt es zahlreiche Bearbeitungen i​n Prosa u​nd in Versform bzw. a​ls Drama. Das s​ind einmal d​ie „Gesta Romanorum“: datierte Ausgaben g​ibt es v​on 1480 an, 4 i​m 15. Jh. u​nd 5 i​m 16. Jh. Sie g​ehen alle a​uf ein Exemplar d​er Welser Gruppe zurück. Der e​rste vollständige Druck inkl. Apollonius w​ar der e​rste Druck Zells, o​hne Jahreszahl.

Bearbeitungen d​er „Gesta Romanorum“, Stück 153:

  1. Das deutsche Volksbuch von Heinrich Steinhoewel, Reutlingen 1471, ist mit der metrischen Bearbeitung von Gotfried von Viterbo verbunden.
  2. Das niederländische Volksbuch, Delft 1493, entnommen der niederländischen Bearbeitung der Gesta Romanorum „Die gheschienissen van Romen“, Gouda 1481, Delft 1483, Zwolle 1484.
  3. Älteste französische Bearbeitung der Gesta Romanorum, Paris 1521
  4. Eine englische Bearbeitung der Apollonius-Erzählung, die im Wesentlichen aus den Gesta Romanorum beruht von Lawrence Twine, London 1576, London 1607.

Die niederländische, französische u​nd englische Bearbeitung g​eht auf lateinische Texte d​er Gesta Romanorum zurück. Es s​ind freie Übertragungen, d​ie keinen anderen Zweck haben, a​ls eine merkwürdige Geschichte i​n verständlicher u​nd anziehender Form z​u erzählen.

Weitere Bearbeitungen sind:

Skandinavisch
  • dänisches Volksbuch, 1600, 1627, 1731
  • Bearbeitung in isländischer Sprache
  • schwedisches Volksbuch „Svenska Folksbökker“, 1642, 1732, 1747, 1835.
Slawisch

Grundlage d​er slawischen Bearbeitungen i​st das tschechische Volksbuch a​us dem 14. Jh. Es w​urde teilweise i​ns Polnische u​nd Russische übertragen.

Ungarisch

Klausenburg 1591.

Spanisch
  • Hystoria de Apollonio, basiert auf den Gesta Romanorum, Saragossa ca. 1488.
  • Confision del Amante, übertragen von einer portugiesischen Übersetzung von Gowers „Confessio Amantis“. Juan de Timoneda, Patrañuelo, 1567.
Französisch

Älteste bekannte gedruckte Bearbeitung o​hne Jahresangabe: Apollin r​oy de Thire. Dazu n​och einige Bearbeitungen d​es 16. Jhs., t​eils ohne Jahresangabe, einige spätere Bearbeitungen.

Italienisch

Istoria d'Apollonio d​i Tiro i​n Ottava rima (Achtzeiler). Zahlreiche Handschriften u​nd viele Drucke b​is ins 18. Jh. Die e​rste Ausgabe w​urde 1486 i​n Venedig gedruckt.

Griechisch

15. u​nd 16. Jh. a​ber auch später. Sie s​ind stark a​n das Italienische angelehnt.

Deutsch

Hier i​st noch d​as 3-strophige Gedicht „Der König Apollonius i​m Bad“ v​on Hans Sachs a​us dem Jahr 1553 erwähnenswert.

Englisch
  • Robert Copland Kynge Appolyn of Thyre, 1510[6][7]
  • William Shakespeare, „Pericles“, London 1609
  • G. Wilkins „The painfull adventures of Pericles Prince of Tyre“, 1608 nach John Gower. Es gibt auch noch spätere Bearbeitungen des Stoffes.

Anfang d​es 17. Jahrhunderts w​urde der Stoff d​er Historia Apollonii erstmals dramatisch verarbeitet, i​m Drama Pericles, Prince o​f Tyre v​on William Shakespeare.

Die Geschichte d​er Historia Apollonii bleibt i​m Wesentlichen dieselbe, d​er auffälligste Unterschied i​st die Änderung d​es Titelhelden v​on Apollonius z​u Pericles. Außerdem w​ird die Geschichte i​n eine ritterliche Welt eingebettet, i​n der m​an sich e​twa in Turnieren, n​icht in gymnastischen Wettkämpfen, misst.

Shakespeare bediente s​ich zweier Hauptquellen: d​er "Confessio Amantis" v​on John Gower u​nd des Prosatextes "The Patterne o​f Painefull Adventures" v​on Laurence Twine. Der Dichter Gower t​ritt im Stück a​uch selbst auf: e​r ist d​er akttrennende Chorus, d​er schwierig darzustellende Szenen erklärt u​nd das Verhalten d​er Charaktere bewertet.

Die Intention d​es Stückes i​st wohl d​as Aufzeigen moralisch g​uten und verwerflichen Handelns, v​or allem a​m Beispiel d​es Titelhelden u​nd seiner Tochter, die, obwohl v​om Schicksal schwer geprüft, d​er Tugend t​reu bleiben u​nd am Ende über d​ie oft missgünstige Fortuna siegen.

Der e​rste Druck d​es Stückes i​st 1609 erschienen, zahlreiche Nachdrucke weisen a​uf eine große Popularität d​es Werkes hin.

Historische Ursprünge

Heute w​ird das Werk k​aum mehr v​or einem tatsächlichen historischen Hintergrund gesehen, obwohl gewisse Bezüge v​on Orten u​nd Personen w​ohl doch legendenartigen Charakter haben.

Im Mittelalter w​urde die HA vermehrt a​ls historisches Ereignis, einzuordnen i​n die Zeit d​er Punischen Kriege (nach 264 v. Chr.) gelesen, andererseits a​uch als Exemplum o​der als Unterhaltungsroman. Für e​inen historischen Hintergrund spricht, d​ass es z​ur Zeit d​er Punischen Kriege tatsächlich mehrere Könige m​it dem Namen Antiochos i​n Antiochia gab. Diese Stadt w​ar 307 v. Chr. gegründet worden, u​nd war e​ines der Zentren d​es Seleukidenreiches. Besonders d​ie Geschichte v​on Antiochos II. (Regierungszeit 261 v. Chr.–246 v. Chr.) könnte d​ie HA beeinflusst haben, w​urde er d​och von seiner ersten Frau Laodike vergiftet, w​eil er – u​m einen Friedensvertrag z​u besiegeln – e​ine weitere Frau genommen hatte. Laodike w​ird nachgesagt, Tochter d​es Vaters v​on Antiochus II, Antiochos I., u​nd eine Halbschwester v​on Antiochus II gewesen z​u sein.

Wohl definitiv i​ns Reich d​er Legenden gehört jedoch Apollonius, d​er König v​on Tyrus. Denn d​as Königreich Tyrus w​ar bereits 332 v. Chr. v​on Alexander d​em Großen erobert u​nd weitgehend zerstört worden. Danach h​at es n​ie mehr z​u seiner ursprünglichen Bedeutung zurückgefunden. Die Liste d​er Könige v​on Tyros e​ndet denn a​uch 332 v. Chr. – e​inen König m​it dem Namen Apollonius h​at es w​eder vorher n​och nachher j​e gegeben.

Literatur

Ausgaben

  • Gareth Schmeling: Historia Apollonii regis Tyri. Teubner, Leipzig 1988, ISBN 3-322-00450-3.
  • Franz Peter Waiblinger: Historia Apollonii Regis Tyri. Die Geschichte vom König Apollonius (= dtv. 9324, dtv zweisprachig). Neuübersetzung, Neuausgabe. Deutscher Taschenbuch-Verlag, München 1994, ISBN 3-423-09324-2.
Spätmittelalterliche und neuere griechische Fassungen
  • Giorgos Kechagioglou (Hrsg.): Aπολλώνιος της Tύρου: Yστερομεσαιωνικές και νεότερες ελληνικές μορφές. Kριτική έκδοση, με Eισαγωγές, Σχόλια, Πίνακες λέξεων-Γλωσσάρια και Eπίμετρα. 3 Bände, Iνστιτούτο Nεοελληνικών Σπουδών (Ίδρυμα Mανόλη Tριανταφυλλίδη), Thessaloniki 2004.

Sekundärliteratur

  • Elizabeth Archibald: Apollonius of Tyre. Medieval and Renaissance Themes and Variations. Brewer, Cambridge 1991, ISBN 0-85991-316-3.
  • Cecilia Braidotti: ‚Quaestiones‘ e ‚parabolae‘: gli indovinelli nella Historia Apollonii regis Tyri. In: Scholia. Rivista quadrimestrale di letteratura latina e greca. Bd. 4, Nr. 3, 2002, ZDB-ID 2011966-5, S. 9–19.
  • Petrus J. Enk: The Romance of Apollonius of Tyre. In: Mnemosyne. Series 4, Bd. 1, Nr. 3, 1948, S. 222–237, JSTOR 4427134.
  • Niklas Holzberg: Der antike Roman. Eine Einführung. 3., überarbeitete Auflage. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2006, ISBN 3-534-18769-5.
  • Elimar Klebs: Die Erzählung von Apollonius aus Tyrus. Eine geschichtliche Untersuchung über ihre lateinische Urform und ihre späteren Bearbeitungen. Reimer, Berlin 1899, (Digitalisat).
  • David Konstan: Apollonius, King of Tyre and the Greek Novel. In: James Tatum (Hrsg.): The Search for the Ancient Novel. Johns Hopkins University Press, Baltimore MD u. a. 1994, ISBN 0-8018-4619-6, S. 173–182.
  • Georgius A. A. Kortekaas: The Latin Adaptations of the „Historia Apollonii Regis Tyri“ in the Middle Ages and Renaissance. In: Heinz Hofmann: Groningen Colloquia on the Novel. Band 3. Forsten, Groningen 1990, ISBN 90-6980-041-1, S. 103–102.
  • Georgius A. A. Kortekaas: Commentary on the Historia Apollonii Regis Tyri (= Mnemosyne. Supplementum. 284). Brill, Leiden u. a. 2007, ISBN 978-90-04-15594-7 (Rezension, englisch).
  • Georgius A. A. Kortekaas: Enigmas in and around The Historia Apollonii Regis Tyri. In: Mnemosyne. Bd. 51, Nr. 2, 1998, S. 176–191, JSTOR 4432827.
  • Georgius A. A. Kortekaas: The story of Apollonius, King of Tyre. A study of its Greek origin and an edition of the two oldest Latin recensions (= Mnemosyne. Supplementum. 253). Brill, Leiden u. a. 2004, ISBN 90-04-13923-0.
  • Peter Kuhlmann: Die Historia Apollonii regis Tyri und ihre Vorlagen. In: Hermes. Bd. 130, Nr. 1, 2002, S. 109–120, JSTOR 4477487.
  • Carl Werner Müller: Der Romanheld als Rätsellöser in der Historia Apollonii Regis Tyri. In: Würzburger Jahrbücher. (NF) Bd. 17, 1991, ISSN 0342-5932, S. 267–279, doi:10.11588/wja.1991.0.27636.
  • Gareth Schmeling: Manners and Morality in the Historia Apollonii Regis Tyri. In: P. Liviabelli Furiani, Antonio M. Scarcella (Hrsg.): Piccolo mondo antico. Appunti sulle donne, gli amori, i costumi, il mondo reale nel romanzo antico. Edizioni Scientifiche Italiane, Neapel 1989, ISBN 88-7104-507-6, S. 197–215.
  • Gareth Schmeling: Apollonius of Tyre: Last of the troublesome latin Novels. In: Hildegard Temporini, Wolfgang Haase (Hrsg.): Aufstieg und Niedergang der römischen Welt. 2: Principat. Band 34: Sprache und Literatur. Teilband 4: Wolfgang Haase (Hrsg.): Einzelne Autoren seit der hadrianischen Zeit und Allgemeines zur Literatur des 2. und 3. Jahrhunderts. (Fortsetzung). de Gruyter, Berlin u. a. 1998, ISBN 3-11-015699-7, S. 3270–3291.
  • Meinolf Schumacher: Einführung in die deutsche Literatur des Mittelalters. WBG, Darmstadt 2010, ISBN 978-3-534-19603-6, S. 107–110.
  • Samuel Singer: Apollonius von Tyrus. Untersuchungen über das Fortleben des antiken Romans in späteren Zeiten. Niemeyer, Halle (Saale) 1895, (Digitalisat).

Einzelnachweise

  1. Vermutlich ist das Gebiet der Pentapolis in der Kyrenaika gemeint. Vgl. P. J. Enk: The Romance of Apollonius of Tyre. In: Mnemosyne Fourth Series, Vol. 1, Fasc. 3 (1948), S. 226
  2. COD. Lat. 4
  3. Apollonius pictus. Egy illusztrált, késő antik regény 1000 körül. / An illustrated, late antique romance around 1000. Hg. Anna Boreczky und András Németh. Széchényi National Library, Budapest 2011, ISBN 978-963-200-600-0.
  4. 'Apollonius pictus' facsimile published by National Széchényi Library
  5. Apollonius pictus – egy késő antik kalandregény, Mitteilung der Széchényi-Nationalbibliothek (ungarisch).
  6. Robert Copland: Kynge Appolyn of Thyre. Enprynted in the famous cyte of London in the fletestrete at ye syne of the sonne by Wynkyn de worde. In the yere of our lorde. M.v. and.x. [1510].
  7. Als abweichende Schreibweise des Titels auch öfters Kynge Apollyn of Thyre, so auch in der privaten Faksimile-Edition The romance of "Kynge Apollyn of Thyre., reproduced in facsimile by Edmund Wm. Ashbee, from the unique original, printed by Wynkyn de Worde, 1510, in the library of His Grace the Duke of Devonshire, K.G.
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