Helvetier-Einöde
Der Begriff Helvetier-Einöde (auch Helvetiereinöde) ist ein Erklärungsansatz für das weitgehende Fehlen von Funden der Spätlatènezeit im rechtsrheinischen Südwestdeutschland bei der Ankunft der Römer um die Mitte des 1. Jahrhunderts v. Chr. Grundlage ist neben einer allgemeinen Fundleere die Erwähnung von Gebieten, die von den Helvetiern verlassen wurden, durch den antiken Geographen Claudius Ptolemäus.[1]
Quellen
Römische Schriftsteller, besonders Gaius Iulius Caesar, berichten, dass vor der Ankunft der Römer im Verlauf des Gallischen Kriegs der Rhein die Grenze zwischen den keltischen Helvetiern und Germanen bildete und dass sie vielfach mit den Germanen in Kämpfe verwickelt seien.[2] Caesar befürchtete, dass nach dem Abzug der Helvetier das von ihnen verlassene Gebiet von Germanen besiedelt werden könnte.[3]
Spätestens mit dem Gallischen Krieg bildete der Rhein aber keine eindeutige Grenze mehr zwischen Germanen und Kelten, beginnend mit dem Rheinübergang Ariovists. Bedeutende keltische Siedlungen (oppida) gab es zuvor schon rechts des Rheins, bekannte Beispiele sind der Dünsberg oder der Glauberg. Die Römer siedelten ihrerseits germanische Stämme links des Rheins an, darunter 38 v. Chr. unter Agrippa die Ubier, deren durch Schriftquellen belegte germanische Herkunft neuerdings durch die Quinare vom Typ Tanzendes Männlein zweifelhaft ist.
Die Ansiedlung der vermutlich aus rechtsrheinischen Gebieten stammenden Triboker, Nemeter und Vangionen im Reichsgebiet fand vermutlich erst zur Regierungszeit des Augustus statt. Hinweise bei Caesar selbst[4] gehören zu den „geographischen Exkursen“, die wohl frühestens in augusteischer Zeit in das Werk eingefügt wurden.[5] Wahrscheinlicher ist neben einer indirekten Erwähnung des Geographen Strabon[6] die eigene Bekundung Caesars, nach der Niederlage des Ariovist seien alle Sueben über den Rhein geflohen.[7]
Für die Gebiete rechts des Rheins ist die Quellenlage bedeutend schlechter. Tacitus erwähnt, dass einst zwischen hercynischem Wald, Rhein und Main die Helvetier gesiedelt hätten.[8] Später erwähnt er, der Besitz dieser Agri decumates sei umstritten.[9] Claudius Ptolemäus nennt das Gebiet „Helvetier-Einöde“.[1] Diese Erwähnungen deuten an, dass ein großer Teil Südwestdeutschlands zuvor von den Helvetiern besiedelt wurde. Unklar bleibt, wann und warum diese Gebiete aufgegeben wurden, da das Stammesgebiet der Helvetier zur Zeit Caesars auf die Region des Schweizer Mittellands zwischen Hochrhein und Genfer See beschränkt war.
In Betracht kommen neben dem Gallischen Krieg die Kimbernkriege im 2. Jahrhundert v. Chr. Die Kimbern erhielten bei ihrem Durchmarsch durch das Gebiet der Helvetier Zuzug von diesen. Poseidonios hielt die Helvetier für einen vierten Gau der Teutonen.[10] In diesem Zusammenhang wurde versucht, den Toutonenstein,[11] einen römischen Grenzstein bei Miltenberg am Main, als Hinweis auf einen in der Heimat verbliebenen Rest dieses Stammes zu deuten.[12]
Archäologische Hinweise
Archäologische Funde können das unklare Bild, das die Schriftquellen bieten, nur teilweise erhellen. Die Zahl der Funde und Fundstellen nimmt in Südwestdeutschland ab dem 3. Jahrhundert v. Chr. deutlich ab. Dies scheint die schriftlichen Quellen auf den ersten Blick zu bestätigen. Das wenig einheitliche Bild, das sich aus den Bodenfunden ergibt, hat vornehmlich dazu geführt, die Quellenbasis kritisch zu hinterfragen.
Bestattungen
Eine wesentliche Schwierigkeit zur Datierung spätlatènezeitlicher Gräber entsteht durch die Änderung der Bestattungssitten. Nachdem bereits in der frühen Latènezeit Grabhügel zu Gunsten von Flachgräbern aufgegeben wurden, ändert sich die Form im Laufe des 3. Jahrhunderts v. Chr. von der Körper- zur Brandbestattung. Der Leichenbrand wird vorwiegend in Urnen, oft aber auch in Behältnissen aus organischem Material geborgen. In Südwestdeutschland und weiten Teilen der Schweiz endet parallel dazu die Sitte, den Toten Waffen, Trachtbestandteile aus Metall und Schmuck auf den Scheiterhaufen zu geben. Die Gräber werden somit zunehmend schwerer nachzuweisen und zu datieren.[13]
Lange Zeit Gemeingut in der Forschung war der Versuch, Ethnien anhand dieser Bestattungssitten zu identifizieren, wobei man Körpergräber meist als keltisch, Brandbestattungen als germanisch ansah. Der Ansatz geht zurück auf Gustaf Kossinna und wurde erst seit den 1960er Jahren allmählich abgelöst.[14]
Siedlungswesen
Gegen eine Siedlungsleere sprechen neben den Grabfunden besonders die spätkeltischen Oppida, von denen einige sehr große Dimensionen erreichen. Deren Größe und die Konzentrationen von Handwerk und Gewerbe legen wenigstens für kurze Zeiten die Anwesenheit einer zahlreichen Bevölkerung nahe. Weniger bekannt sind kleinere Siedlungen im Flachland, auf deren Vorhandensein oft kleinere Nekropolen hindeuten, während die Gräberfelder der großen oppida ebenfalls meist unbekannt sind.[13]
Obwohl deren Zweck nicht endgültig geklärt ist, weist die große Zahl von Viereckschanzen in Süddeutschland auf eine gewisse Bevölkerungsdichte hin, die diese Anlagen als Gutshof, Heiligtum oder Zentralort nutzten. Nicht wenige dieser Anlagen weisen ausschließlich Funde aus der Spätlatènezeit auf.
Forschungsgeschichte
Die Trennung zwischen keltischen und germanischen Funden nach Kossinna war seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts lange Zeit prägend.[14] Sie verhinderte präzisere Schlüsse zur Besiedlung des Oberrheingebietes und den Vorgängen in der Grenzzone des Römischen Reiches. Rafael von Uslar wollte 1951 keine Funde südlich des Mains als germanisch ansehen.[15] Demgegenüber stand eine zunehmende Zahl neckarsuebischer Funde aus dem Gebiet um Ladenburg (Lopodunum) und weiterer germanischer Funde in Starkenburg. Durch Gräber bei Groß-Gerau (Schindkaute/ Sandschließ) und Nauheim (Seichböhl) konnte eine kleinere Germanengruppe im Vorfeld des römischen Legionsstandortes Mainz (Mogontiacum) identifiziert werden. Grabbeigaben weisen auf Beziehungen ins Niederelbegebiet oder nach Jütland. Römische Gegenstände im Fundmaterial deuten darauf hin, dass diese Gruppe gezielt zum militärischen Schutz der Grenze hier angesiedelt wurde.[16]
In der Frage nach einer keltischen Bevölkerung herrschen seit den frühen 1980er Jahren zwei Ansichten vor. Rainer Christlein und C. Sebastian Sommer gehen von einer weitgehenden Bevölkerungsleere aus.[17] Siegmar von Schnurbein, Hansjörg Küster und Günther Wieland halten einen mangelnden Forschungsstand vor allem im Alpenvorland für ursächlich und versuchen, einen Verbleib von Bevölkerung nachzuweisen.[18]
Literatur
- Gerhard Dobesch: Helvetiereinöde. In: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde (RGA). 2. Auflage. Band 14, Walter de Gruyter, Berlin/New York 1999, ISBN 3-11-016423-X, S. 351–374.
- Franz Fischer: Die Kelten und ihre Geschichte. In: Kurt Bittel, Wolfgang Kimmig, Ewald Schiek (Hrsg.): Die Kelten in Baden-Württemberg. Theiss, Stuttgart 1981, ISBN 3-8062-0211-7, S. 70–75.
- Gertrud Lenz-Bernhard und Helmut Bernhard: Das Oberrheingebiet zwischen Caesars Gallischem Krieg und der flavischen Okkupation (58 v. – 73 n. Chr.). Eine siedlungsgeschichtliche Studie. Verlag des Historischen Vereins der Pfalz, Speyer 1991 (=Mitteilungen des Historischen Vereins der Pfalz 89).
- Gertrud Lenz-Bernhard: Lopodunum III: Die neckarswebische Siedlung und Villa rustica im Gewann „Ziegelscheuer“: eine Untersuchung zur Besiedlungsgeschichte der Oberrheingermanen. Theiss, Stuttgart 2003, ISBN 3-8062-1567-7 (Forschungen und Berichte zur Vor- und Frühgeschichte in Baden-Württemberg 77), S. 17–24.
Einzelnachweise
- Claudius Ptolemäus: Geographike Hyphegesis 2, 11, 6.
- Gaius Iulius Caesar: De bello Gallico 1, 2,3 und 1, 1,4.
- Caesar: De bello Gallico 1, 28, 4.
- Caesar: De bello Gallico 4, 10 und 6, 25.
- Herbert Nesselhauf: Die Besiedlung der Oberrheinlande in röm. Zeit. In: Badische Fundberichte 19, 1951, S. 71–85; Gertrud Lenz-Bernhard: Lopodunum III: Die neckarswebische Siedlung und Villa rustica im Gewann „Ziegelscheuer“: eine Untersuchung zur Besiedlungsgeschichte der Oberrheingermanen. Stuttgart 2003, S. 21 mit weiteren Quellen.
- Strabon 7, 1, 3.
- Caesar: De bello Gallico 1, 53–54.
- Tacitus: Germania 28.
- Tacitus: Germania 29, 3.
- bei Strabon 7, 2, 2.
- CIL 13, 6610
- Franz Fischer: Die Kelten und ihre Geschichte. In: Kurt Bittel, Wolfgang Kimmig, Ewald Schiek (Hrsg.): Die Kelten in Baden-Württemberg. Theiss, Stuttgart 1981, S. 72.
- Franz Fischer: Die Kelten und ihre Geschichte. In: Kurt Bittel, Wolfgang Kimmig, Ewald Schiek (Hrsg.): Die Kelten in Baden-Württemberg. Theiss, Stuttgart 1981, S. 73.
- Gertrud Lenz-Bernhard: Lopodunum III: Die neckarswebische Siedlung und Villa rustica im Gewann „Ziegelscheuer“: eine Untersuchung zur Besiedlungsgeschichte der Oberrheingermanen. Stuttgart 2003, S. 17.
- Rafael von Uslar: Bemerkungen zu einer Karte germanischer Funde der älteren Kaiserzeit. In: Germania 29, 1951, S. 44–47.
- Thomas Maurer: Der Raum Trebur in römischer Zeit – ein Überblick. In: Britta Ramminger, Alexander Heising, Thomas Maurer: Der Raum Trebur in Vorgeschichte, Römerzeit und Mittelalter. Bestattungen aus dem Mittelneolithikum, der Bronze- und Eisenzeit – Militärlager und zivile Besiedlung in römischer Zeit – die Königspfalz. Wiesbaden 2013, ISBN 978-3-89822-705-6 (Themen der Hessen-Archäologie 5), S. 10–17, hier: S. 10 f.
- Rainer Christlein: Zu den jüngsten keltischen Funden Südbayerns. In: Bayerische Vorgeschichtsblätter 47, 1982, S. 275–292; C. Sebastian Sommer: Die römischen Zivilsiedlungen in Südwestdeutschland. In: Dieter Planck (Hrsg.): Archäologie in Württemberg. Ergebnisse und Perspektiven archäologischer Forschung von der Altsteinzeit bis zur Neuzeit. Theiss, Stuttgart 1988, S. 281–310.
- Siegmar von Schnurbein in: Landesamt für Denkmalpflege (Hrsg.): Die Römer in Schwaben. Jubiläumsausstellung 2000 Jahre Augsburg. Lipp, München 1985 (= Arbeitshefte des bayerischen Landesamtes für Denkmalpflege 27), S. 18 f.; Hansjörg Küster: Werden und Wandel der Kulturlandschaft im Alpenvorland. In: Germania 64, 1986, S. 533–559; Günther Wieland: Die Spätlatènezeit in Württemberg: Forschungen zur jüngeren Latènekultur zwischen Schwarzwald und Nördlinger Ries. Theiss, Stuttgart 1986.