Grundsatz der Waffengleichheit
Der Grundsatz der Waffengleichheit (auch: Gebot der Waffengleichheit) ist ein verfahrensrechtlicher Grundsatz und gehört zum prozeduralen Mindeststandard in rechtsstaatlichen Demokratien.
Deutschland
Im deutschen Recht ist der Grundsatz der Waffengleichheit Ausdruck des Anspruchs auf rechtliches Gehör vor Gericht (Art. 103 Abs. 1 GG) und das mit ihm im Zusammenhang stehende Recht auf Gewährleistung eines wirkungsvollen Rechtsschutzes.[1] Er gilt im Zivilverfahren ebenso wie im Strafprozess,[2] Verwaltungsprozess und im Verwaltungsverfahren. Der Grundsatz der Waffengleichheit wird unter anderem verwirklicht durch die Gerichtliche Hinweispflicht (Deutschland).
Zivilprozess
Im Zivilprozess stellt die Waffengleichheit die formelle Gleichheit der prozessualen Rechtspositionen der Parteien und ihre durch den Richter zu verwirklichende materielle Gleichwertigkeit im Sinne einer prozessualen Chancengleichheit sicher.[3] Diese kommt insbesondere in dem Anspruch auf rechtliches Gehör zum Ausdruck, der schon im römischen Recht bekannt war (audiatur et altera pars). Die Beteiligten einer bürgerlichen Rechtsstreitigkeit müssen die Möglichkeit haben, sich im Prozess mit tatsächlichen und rechtlichen Argumenten zu behaupten.[4] Deshalb darf das Gericht beispielsweise die Richtigkeit bestrittener Tatsachen nicht ohne hinreichende Prüfung bejahen.[5] Ohne eine solche Prüfung fehlt es an einer dem Rechtsstaatsprinzip genügenden Entscheidungsgrundlage.
In asymmetrischen Prozesslagen sowie bei einem strukturellen Informationsgefälle besteht keine Waffengleichheit. Die grundgesetzlichen Gewährleistungen aus dem Rechtsstaatsprinzip, Justizgrundrechten, Justizgewährleistungsanspruch sowie Eigentum[6] verlangen vom Gesetzgeber eine zumindest teilweise noch anstehende Novellierung der Zivilprozessordnung (ZPO). Dazu gehört auch ein effektiver kollektiver Rechtsschutz,[7] der Kaufleuten, Verbrauchern und anderen Personen gleichermaßen eine effektive Rechtsverfolgung ermöglicht. Eine Justizentlastung erfordert eine Verfahrensausgestaltung, die wie in den USA einen Vergleichsschluss schon in der ersten Instanz als sachgerecht erscheinen lässt.[8] Dazu lassen sich zum Beispiel – anders als Feststellungsklagen – Leistungsklagen nach typisierenden Betrachtungen miteinander verbinden.[9] Die Beschlüsse des 72. Deutsche Juristentag in Leipzig 2018 (DJT) sind daher im Wesentlichen für Gruppenzahlungsklagen (auch Gruppenklagen oder Sammelklagen) und gegen die Musterfeststellungsklage aus §§ 606 ff. ZPO.[10]
Zu der erforderlichen fairen Balance zwischen den Parteien[11] gehört auch die gleichmäßige Verteilung des Risikos am Verfahrensausgang und der Kostenbelastung,[12] die Pflicht des Gerichts zur Gleichbehandlung der Parteien[13] und die Pflicht zur ausgleichenden Verhandlungsführung.[14] Das Gericht darf nicht mit zweierlei Maß messen.[15] Bestehende strukturelle Ungleichgewichte sind nach Möglichkeit auszugleichen.[16]
Bei typischen beweismäßigen Ungleichgewichten können Substantiierungs- und Beweiserleichterungen bis hin zur Beweislastumkehr für die benachteiligte Partei geboten sein.[17] Bei einseitiger Zeugenbenennung wird der Grundsatz der Waffengleichheit verwirklicht durch Anhörung der beweislosen anderen Partei gem. § 141 ZPO, soweit nicht eine Parteivernehmung gem. § 448 ZPO in Frage kommt.[18] Die Erstreckung auf Fälle der Beweisnot ohne Ungleichgewicht ist keine Frage der Waffengleichheit (str.).[19]
Die Situation von Bemittelten und Unbemittelten ist bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes weitgehend anzugleichen.[20] Eine Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, erhält deshalb auf Antrag Prozesskostenhilfe (§ 114 ZPO).
Strafprozess
Als eine der Unterausprägungen des Grundrechtes auf ein faires Verfahren ist das Gebot prozessualer Waffengleichheit auch im Strafprozess anerkannt. Es ist gekennzeichnet durch das Verlangen nach verfahrensrechtlicher Waffengleichheit von Ankläger und Beschuldigtem.[21] Hierzu gehört beispielsweise die Wissensgleichheit als Unterfall der Waffengleichheit. So ist dem Beschuldigten bei seiner ersten Vernehmung nicht nur zu eröffnen, welche Tat ihm zur Last gelegt wird und welche Strafvorschriften in Betracht kommen, sondern er ist auch über seine prozessualen Rechte zu belehren (§ 136 StPO). Gem. § 140 StPO wird ein Pflichtverteidiger bestellt. Jedem Verteidiger steht das Recht zur Akteneinsicht zu (§ 147 StPO).
Der Eigenart des Strafverfahrens sind verfahrensspezifische Unterschiede in der Rollenverteilung der staatlichen Strafverfolgungsorgane und Verteidigung jedoch immanent. Zumindest aber muss „die Subjektstellung des Beschuldigten und sein Recht auf Verteidigung in einem verfahrensrechtlichen Aktionsrahmen von Wechselseitigkeit und Partizipation“ gehalten werden.[22]
Diese Grundsätze sind auch auf das Verhältnis der Beschuldigtenrechte zu den Rechten des Verletzten im Strafverfahren zu erstrecken, insbesondere wenn dem Beschuldigten neben der Staatsanwaltschaft auch ein Nebenkläger gegenübersteht. Im Adhäsionsverfahren tritt noch die Erwiderung auf zivilrechtliche Schadenersatzansprüche hinzu. Einer möglichen Asymmetrie kann beispielsweise durch einen weiteren Verteidiger oder längere Schriftsatzfristen für den Verteidiger begegnet werden.[23][24]
Verwaltungsprozess
Gegen Akte der öffentlichen Gewalt gewährt Art. 19 Abs. 4 GG effektiven Rechtsschutz.
Verfahrensgleichheit und Fairness kann das Verwaltungsgericht durch die Gerichtliche Hinweispflicht (Deutschland) gem. § 86 Abs. 3 VwGO herstellen, so dass auch in erstinstanzlichen Verfahren ohne Anwaltszwang der vor Gericht unerfahrene Beteiligte seine Position ungehindert und effektiv vortragen kann.[25]
Verwaltungsverfahren
Ausdruck der Waffengleichheit im Sinne einer Wissensgleichheit von Verwaltung und Bürger ist im Verwaltungsverfahren insbesondere das Recht zur Akteneinsicht (§ 29 VwVfG). In manchen Bundesländern gibt es jedoch nicht unwesentliche Vollzugsdefizite seitens der Behörden,[26] so dass das Einsichtsrecht beim Verwaltungsgericht eingeklagt werden muss.[27]
Auch die anwaltliche Vertretung dient dem Ausgleich eines Kompetenzgefälles zwischen sachkundiger Verwaltung und dem in der Regel rechtsunkundigen Bürger. Die Gebühren und Auslagen eines Rechtsanwalts oder eines sonstigen Bevollmächtigten sind jedoch gem. § 80 Abs. 1, Abs. 2 VwVfG im Ausgangsverfahren überhaupt nicht und im Vorverfahren nur dann erstattungsfähig, soweit der Widerspruch erfolgreich und die Zuziehung eines Bevollmächtigten nach Ansicht der Behörde im Einzelfall notwendig war. Eine restriktive Kostenerstattungspraxis erschwert dabei die Verwirklichung der Waffengleichheit.[28] War der Widerspruch erfolglos, kann eine Erstattung der Rechtsanwaltskosten nicht beansprucht werden, es sei denn, das einschlägige Fachrecht enthält vom allgemeinen Verfahrensrecht abweichende Regelungen, wie es z. B. im Enteignungsverfahren der Fall ist (§ 121 Abs. 1 und 2 BauGB).[29]
Österreich
Seit Inkrafttreten der Europäischen Menschenrechtskonvention in Österreich am 3. September 1958 sind die Rechte aus Art. 6 EMRK dort unmittelbar geltende Grundrechte. Über die Vereinbarkeit des einfachen Rechts mit der EMRK entscheiden der Österreichische Verfassungsgerichtshofs[30][31] und der der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte.[32] Die Waffengleichheit im Strafprozess wird auch in der rechtswissenschaftlichen Literatur thematisiert.[33]
Schweiz
Nach Art. 29 und Art. 30 der Schweizerischen Bundesverfassung[34] zählen zu den Verfahrensgarantien auch der Anspruch auf ein faires Verfahren und die Waffengleichheit.[35] Das Schweizer Bundesgericht legt Inhalt und Umfang dieser Rechte im Einzelfall aus.[36][37]
Europa
In den Mitgliedsstaaten des Europarats folgt der Grundsatz der Waffengleichheit aus Art. 6 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), dem Recht auf ein faires Verfahren.[38] Nationales Recht ist hierbei im Lichte der EMRK auszulegen, so dass die EMRK de facto Vorrang vor dem nationalen Recht genießt.
Internationales Recht
Der Grundsatz der Waffengleichheit ist in Art. 8 der Amerikanischen Menschenrechtskonvention (als Right to a fair Trial)[39] mit Geltung für Mittel- und Südamerika und Art. 14 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte, der von den meisten Staaten der Welt ratifiziert wurde, verankert.[40]
Einzelnachweise
- BVerfG, Beschluss vom 21. Februar 2001 - 2 BvR 140/00
- BVerfGE 52, 131, 156 f.
- Zöller, Kommentar zur ZPO, 28. Auflage 2010, Rdn. 102 der Einleitung, mit weiteren Nachweisen
- vgl. BVerfGE 54, 277 <291>; 55, 1 <5 f.>; 60, 305 <310>; 74, 220 <224>; 74, 228 <233>; 81, 123 <129>; 84, 188 <189 f.>; 85, 337 <345>; 86, 133 <144 ff.>
- BVerfGE 91, 176 <181>
- Das Aktieneigentum kennt hier eine doppelte Gewährleistung von Eigentum und effektivem Rechtsschutz.
- Kollektiver Rechtsschutz. Abgerufen am 17. April 2019.
- Mit weiteren Einzelheiten und zur aktuellen Entwicklung:. Abgerufen am 21. Oktober 2018.
- Für weitere Einzelheiten siehe Martin Weimann: Kollektiver Rechtsschutz: Ein Memorandum der Praxis, De Gruyter, 2018, ISBN 9783110609172.
- Beschlussfassungen des 72. Deutscher Juristentag 2018 in Leipzig (DJT). Abgerufen am 21. Oktober 2018.
- BAGE 87, 40
- BVerfGE 52, 144; 74, 94
- BVerfGE 55, 94; 69, 140
- BVerfGE 52, 156
- BGH NJW 2000, 143 [145]
- BVerfGE 89, 214; 115, 51
- BVerfGE 52, 145 ff; BGHZ 159, 253 f
- BGH MDR 2006, 285
- BAG NJW 2007, 2427; andere Ansicht: Noethen, NJW 2008, 334
- z. B. BVerfGE 81, 356
- BVerfGE 110, 226 (253 f.); 38, 105 (111).
- BVerfGE 63, 45 (67)
- Christoph Safferling: Die Rolle des Opfers im Strafverfahren – Paradigmenwechsel im nationalen und internationalen Recht? Antrittsvorlesung Marburg 24. April 2009.
- Matthias Jahn: Schriftliche Stellungnahme zu den Gesetzentwürfen für ein 2. Opferrechtsreformgesetz, 13. Mai 2009.
- Verfahrensgrundsätze OVG des Landes Nordrhein-Westfalen, 2015
- Johannes Bohl: Der "ewige Kampf" des Rechtsanwalts um die Akteneinsicht (Memento des Originals vom 5. März 2016 im Internet Archive) Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis. NVwZ 2005, 133
- VG Göttingen, Urteil vom 11. Februar 2009 - Az. 1 A 393/06
- Die Erstattungsfähigkeit von Kosten und Gebühren in Verwaltungsverfahren und Verwaltungsstreitverfahren 1997
- BVerwG, Urteil vom 17. Februar 2005 - 7 C 14.04
- Erkenntnis vom 13. Dezember 2012 - G137/11 zu § 52 Abs. 1 StPO
- Erkenntnis vom 10. Mai 2015 - G 180/2014-30 zu § 126 Abs. 4 Satz 3 StPO
- Beschwerde Nr. 8658/79, Urteil vom 6. Mai 1985 (Memento des Originals vom 16. Januar 2013 im Internet Archive) Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis. Bönisch gegen Österreich zum Grundsatz der Waffengleichheit als Bestandteil des fairen Strafverfahrens
- Manuela Bauer: Verwertungsverbote zur Gewährleistung von Waffengleichheit Verlag Österreich, 2015. ISBN 978-3-7046-6715-1
- Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999, Stand: 14. Juni 2015
- Andreas Donatsch: Der amtliche Sachverständige und der Privatgutachter im Zürcher Strafprozess (Memento des Originals vom 4. März 2016 im Internet Archive) Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis. (ohne Jahr)
- Urteil vom 28. Oktober 2009, 8C 216/2009 zu Untersuchungspflicht und Beweiswürdigung durch einen Sozialversicherungsträger
- Urteil vom 26. Februar 2001, 127 I 73 zum Sachverständigenbeweis im Strafverfahren
- EGMR, NJW 1995, 1413, 1414 - Dombo Beheer B. V.
- American Convention on Human Rights
- Rainer Hofmann: Das Recht auf ein faires Verfahren (ohne Jahr)