Gracia Nasi
Gracia Nasi (geboren 1510 in Portugal als Beatrice de Luna Miques; gestorben 1569 bei Konstantinopel) war eine sephardische Frau der Renaissance. Sie war Kauffrau, leitete die Bank der Casa Mendes-Benveniste (so die Familiennamen ihrer Mutter und ihres Onkels, ihres späteren Ehemanns) und betätigte sich zudem als Diplomatin und Philanthropin, und als solche gilt sie auch als eine Retterin ihres Volkes.
Biografie
Gracia Nasi wurde als Tochter wohlhabender marranischer Eltern im Schatten der Inquisition geboren. Die Familie ihres Vaters, Agostino Álvaro Miques de Luna (sein hebräischer Name lautete Schmuel Nasi), und die ihrer Mutter, Philipa Mendes Benveniste, stammten aus dem Königreich Aragón und waren bei der Vertreibung der Juden aus Spanien 1492 nach Portugal emigriert. Gracias Taufname lautete Beatrice de Luna Miques; ihr jüdischer Vorname war Hanna Gracia. Ihre Familie war so einflussreich, dass Gracias Bruder, Augustine Miques, sogar zum Leibarzt des portugiesischen Königs aufstieg.[1]
1528 heiratete Gracia in der Kathedrale von Lissabon Francisco Mendes (jüdischer Name Semah Bemvisto oder Benveniste). Die Familie Mendes-Benveniste besaß ein großes Bankhaus mit Verbindungen bis nach Frankreich und Flandern. Nach der christlichen Hochzeit heiratete das Paar auch nach jüdischem Ritus, inklusive Ketubba. Aus der Ehe ging 1532 eine Tochter hervor, Ana, die sich im Erwachsenenalter Reyna Nasi nannte.[1][2]
Mitte des Jahres 1536 starb Francisco Mendes. Es ist ungeklärt, ob die im Mai 1536 über Lissabon verhängte Inquisition die Ursache seines Todes war.[1] Die 27-jährige Witwe veräußerte den Besitz ihres Mannes und zog mit mehreren Familienangehörigen nach Antwerpen zu ihrem Schwager Diogo Mendes (Meir Benviste), der sie als Mitarbeiterin in seiner Bank aufnahm und Gracias Schwester Ana heiratete. Neben der Geschäftstätigkeit kümmerten sich Diogo und Gracia um die verdeckte Ausreise jüdischer Glaubensgenossen aus Lissabon in andere Städte Europas, indem sie fingierte Handelsaufträge vergaben. Dennoch starben im Autodafé von Lissabon im Jahr 1540 mehr als tausend Juden.
Nach dem Tod ihres Schwagers Diogo (1542) erbte Gracia das Vermögen der Familie und erwies sich fortan als selbstständige, mutige Geschäftsfrau. 1544 verließ sie auf politischen Druck hin Antwerpen und reiste mit ihrer Tochter Ana, ihrer Schwester Brianda und weiteren Angehörigen durch Europa. Die Familie lebte ab 1544 aufgrund eines Freibriefes (salvacondotto) des Rates der Zehn in Venedig. Dort konnte sie ihre Bank weiterführen, bis Vermögensstreitigkeiten und Gerichtshändel mit ihrer Schwester Brianda und der Republik Venedig dies unmöglich machten. 1550 erhielt Gracia einen Freibrief vom Herzog von Ferrara, wohin sie heimlich übersiedelte, um dort offen die jüdische Religion zu praktizieren. In dieser Zeit legte sie den Namen Beatrice de Luna ab und nannte sich nur noch Gracia Nasi. Sie war als Mäzenin tätig und gab die erste Übersetzung der hebräischen Bibel ins Spanische in Auftrag, die so genannte Bibel von Ferrara, die 1553 von Abraham Usque gedruckt wurde. Von der Übersetzung wurden zwei Ausgaben hergestellt: eine für christliche Leser, die andere für jüdische.
1553 ließen sich Gracia Nasi und ihr Neffe Joseph Nasi im Osmanischen Reich nieder. Unter den Sultanen Bayezid II., Selim I. und Süleyman I. wurde jüdischen Immigranten nicht nur Asyl geboten, sondern auch weitgehende religiöse Freiheiten und ökonomische Entwicklungsmöglichkeiten eingeräumt. Gracia Nasi konnte mit Handelsschiffen, die in ihrem Auftrag gebaut wurden, den Handel der Familie mit der Republik Venedig und anderen Staaten Italiens weiterführen. Angesichts der durch Paul IV. 1555 verschärften Inquisition bemühte sich Gracia erneut um die Rettung von bedrängten Juden, diesmal aus der Stadt Ancona.[1] 1558 oder 1559, als Joseph als Lohn für seine tatkräftige Unterstützung Süleymans I. bei dessen Kampf um die Thronfolge die Herrschaft über ein Gebiet am See Genezareth übertragen wurde, erwarb Gracia ein Anwesen in der Stadt Tiberias und gründete dort eine jüdische Ansiedlung mit einem Lehrhaus (Jeschiwa), die jedoch nur kurze Zeit bestanden.
Literatur
- Hannah Karminski: Jüdisch-religiöse Frauenkultur, in Emmy Wolff Hg.: Frauengenerationen in Bildern. Herbig, Berlin 1928, S. 163–172 (darin Grazia Nassi (sic) S. 164f., mit einer bekannten zeitgenössischen Medaille (1556), einseitig geprägt, mit Büste Nassis nach S. 164)
- Cecil Roth: Dona Gracia of the House of Nasi. The Jewish Publication Society of America, Philadelphia PA 1948.
- Bea Stadtler: The story of Dona Gracia Mendes. United Synagogue Commission on Jewish Education, New York NY 1969, ISBN 0-8381-0734-6.
- Gad Nassi, Rebecca Touegg: Doña Gracia Nasi. Women's International Zionist Organisation - Education Department, Tel Aviv 1990.
- Riccardo Calimani: Joao Micas, Giovanni Miches, Juan Miguez, Joseph Nasi, duca di Nasso: quattro nomi e molte identità per un stesso uomo. In: Calimani: Storia del ghetto di Venezia. Milano 1995. S. 103–109.
- Andrée Aelion Brooks: The Woman Who Defied Kings. The Life and Time of Doña Gracia Nasi, a Jewish Leader during the Renaissance. Paragon House, St. Paul MI 2002, ISBN 1-557-78805-7, (umfangreiche, neu recherchierte Biographie über Gracia Nasi).
- Renée Levine Melammed: Heretics or Daughters of Israel? The Crypto-Jewish Women of Castile. New edition. Oxford University Press, New York NY u. a. 2002, ISBN 0-19-515167-4.
- Yaron Ben-Naeh: Sultansjuden. In: Dan Diner (Hrsg.): Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur (EJGK). Band 5: Pr–Sy. Metzler, Stuttgart/Weimar 2014, ISBN 978-3-476-02505-0, S. 611–614.
Belletristische Darstellungen
- Catherine Clément: La Señora. Roman. Calmann-Lévy, Paris 1992, ISBN 2-7021-2062-8, (deutsch: Die Senyora. Roman aus dem Europa des 16. Jahrhunderts. Rowohlt-Verlag, Reinbek 1995, ISBN 3-499-13546-9).
- Naomi Ragen: The Ghost of Hannah Mendes. Simon & Schuster, New York u. a. 1998, ISBN 0-684-83393-X, (Roman, verwebt die Geschichte der historischen Heldin mit der Frauen-Familiengeschichte einer sephardischen Familie).
- Marianna D. Birnbaum: The Long Journey of Gracia Mendes. Central European University Press, Budapest u. a. 2003, ISBN 963-924167-9, (Roman, schildert die marranische Kultur in West-Europa und im muslimischen Orient).
- Peter Prange: Die Gottessucherin. Roman. Droemer Knaur, München 2009, ISBN 978-3-426-19751-6; Neuausgabe unter dem Titel Die Götter der Dona Gracia, Fischer Taschenbuch, Frankfurt 2021. ISBN 978-3-59670-024-0.
- Waldtraut Lewin: Die Jüdin von Konstantinopel; Roman, Knaur-Taschenbuch-Verlag, München 2010, ISBN 978-3-426-50430-7.
- Yitzhak Gormezano Goren: Kvartet ha-senyora (hebräisch: Das Quartett der Senhora). Roman, Tl. 1 Ha-sheker ha-kadosh (Die heilige Lüge), Tl. 2 Malkat ha-finansim (Königin der Finanzen), Tl. 3 Kadachat venetzyanit (Venezianisches Fieber). Ha-Kibutz ha-me'uchad, Bne Brak 2010, 2013 bzw. 2015.
Weblinks
- Literatur von und über Gracia Nasi im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Gracia Nasi auf www.hagalil.com
- Doña Gracia (engl.)
- Biographie mit tabellarischer Übersicht der Familie Nasi
- Andree Aelion Brooks, discusses her book The Woman Who Defied Kings: The Life and Times of Dona Gracia Nasi Authors@Google: Andree Aelion Brooks…Part 1 Part 2.
Einzelnachweise
- Gerda Hoffer: Gracia Nasi. In: Zeit der Heldinnen. Lebensbilder außergewöhnlicher jüdischer Frauen. München 1999, ISBN 3-423-30701-3, S. 49–75.
- https://www.vidapraticajudaica.com/single-post/2018/06/19/A-História-de-Dona-Gracia-Mendes-Nasi.