Ethnomathematik
Ethnomathematik bezeichnet eine jüngere Fachrichtung der Mathematikgeschichte und Mathematikpädagogik, die interdisziplinär mit anderen Fächern wie Ethnologie (Völkerkunde) und Anthropologie (Menschenkunde) mathematische oder protomathematische Konzepte und Operationen in ihrem kulturellen Kontext erforscht. Die Ethnomathematik untersucht Arten der Symbolisierung von Zahlen, Mengen und Verhältnissen, des Zählens und des Rechnens, der Perspektivierung, Gliederung und Messung von Zeit und Raum und mögliche andere auf mathematische Konzepte rückführbare kognitive oder physische Operationen anhand von Praktiken wie beispielsweise Spiel, Tanz, Musik und rituellen Handlungen, in der Ordnung von Verwandtschafts- und Sozialbeziehungen, in Wirtschaft und Landwirtschaft, Handwerk, Kunst und Architektur.
Ein Beispiel sind die Sona-Diagramme, die von afrikanischen Völkern in Sambia, Angola und im Kongo zum Beispiel für die Unterstützung von Erzählungen verwendet wurden und werden und auch als Steinbilder erhalten sind. Die geometrischen Algorithmen zu ihrer Erzeugung wurden von Paulus Gerdes erforscht. Ein weiteres Beispiel sind die Kolam genannten Bodenzeichnungen in Indien oder Fadenspiele.
Konzept und Verhältnis zur Geschichte der Mathematik
Der herkömmlichen Geschichte der Mathematik liegt in der Regel ein universalistisches und teleologisches Konzept zugrunde, das ältere und außereuropäische Kulturen unter dem Gesichtspunkt ihrer Ausbildung universeller mathematischer Fähigkeiten betrachtet, die für alle Menschen gleich, aber nicht in allen Kulturen gleich hoch entwickelt sind, und in der europäischen, durch die indische und arabische Tradition geprägten Entwicklung ihren höchsten Entwicklungsstand erreicht haben sollen.
Die Ethnomathematik setzt dagegen einen relativistischen oder multikulturalistischen Ansatz, der in einer gegebenen Kultur, Ethnie oder sozial definierten Gruppe deren je eigene Ausprägung mathematischer Fähigkeiten unter dem Gesichtspunkt ihrer spezifischen kulturellen, sozialen und institutionellen Prägung und ihrer für diese Kultur (Ethnie, Gruppe) relevanten Entwicklung betrachtet. Leitend ist dabei die Absicht, einem eurozentrischen Konzept von Mathematik entgegenzuwirken, die Kenntnis und das Verständnis vermeintlich primitiver Formen von Mathematik zu verbessern und auch didaktisch und pädagogisch verwertbare Einsichten über die Aneignung und Vermittlung mathematischer Fähigkeiten zu gewinnen.
Geschichte
Die Ethnomathematik hat Vorläufer in der Mathematikgeschichte und Ethnologie (z. B. Ewald Fettweis), wurde jedoch als Begriff und eigene Fachrichtung seit den 1970er Jahren maßgeblich von dem brasilianischen Mathematiker Ubiratàn D’Ambrósio eingeführt. Ein weiterer Pionier für den afrikanischen Bereich war Paulus Gerdes. Die Ethnomathematik ist heute vor allem an US- und lateinamerikanischen Universitäten, aber auch im afrikanischen und europäischen Lehr- und Forschungsbetrieb vertreten.
Siehe auch
- Wasan (traditionelle japanische Form der Mathematik)
Literatur
- Marcia Ascher: Ethnomathematics – A Multicultural View of Mathematical Ideas. Brooks/Cole Publishing, Pacific Grove Kalifornien 1991, ISBN 0-534-14880-8.
- Paulus Gerdes: Ethnomathematik – dargestellt am Beispiel der Sona-Geometrie. Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft, Heidelberg 1997, ISBN 3-8274-0201-8.
- Paulus Gerdes: Ethnogeometrie – Kulturanthropologische Beiträge zur Genese und Didaktik der Geometrie. Franzbecker Verlag, Bad Salzdetfurth 1990, ISBN 3-88120-189-0.
- Klaus-Dieter Linsmeier u. a. (Hrsg.): Ethnomathematik – Flechtwerke der Kelten, Astronomie der Chinesen, Knotenschnüre der Inka, Kalender der Maya. Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft, Heidelberg 2006, ISBN 3-938639-41-5 (Spektrum der Wissenschaft Spezial 2, 2006).
- Arthur B. Powell, Marilyn Frankenstein (Hrsg.): Ethnomathematics. Challenging Eurocentrism in Mathematics Education. State University of New York, Albany NY 1997, ISBN 0-7914-3352-8 (SUNY series, reform in mathematics education).
- Claudia Zaslavsky: Africa counts – Number and Pattern in African Cultures. 3. Auflage, Lawrence Hill Books, Chicago Ill. 1999, ISBN 1-55652-350-5.
Weblinks
- David Mora: Zur Entwicklung eines realitätsorientierten Mathematikunterrichts basierend auf dem Konzept der Ethnomathematik. Doktorarbeit Uni Hamburg 1997, abgerufen am 17. Mai 2018.
- Andrea Westhoff: Herausforderungen der Ethnomathematik: Magische Quadrate und Knotenmuster. Deutschlandfunkkultur.de, 29. Oktober 2015, abgerufen am 17. Mai 2018.
- Paulus Gerdes: Ethnomathematics as a new research field, illustrated by studies of mathematical ideas in African history. Etnomatematica.org, 2001 (PDF-Datei; 1,6 MB, 25 Seiten), abgerufen am 17. Mai 2018.
- Homepage: International Study Group on Ethnomathematics (ISGEm).
- Dossier: Ethnomathematics in Australia. Australian Institute of Aboriginal and Torres Strait Islander Studies (AIATSIS).