Ethnien in Afghanistan
Afghanistan ist ein Vielvölkerstaat mit zahlreichen Ethnien.[1] Es gibt immer wieder gewaltige Konflikte zwischen den Ethnien.
Ethnien
Iranische Völker
Über 85 % der Menschen sprechen eine iranische Sprache als Muttersprache und gehören somit einem iranischen Volk an.
- Die größte und einflussreichste Ethnie in Afghanistan sind die Paschtunen, nach denen Afghanistan auch benannt ist (von persisch افغان Afghān). Seit der Abspaltung Afghanistans vom Iran im 18. Jahrhundert prägen die Paschtunen das Land. Historisch waren sie Nomaden, heute sind jedoch die meisten Paschtunen sesshaft, sind aber in viele Stämmen eingeteilt, die bekanntesten sind die Durrani (Abdali) und die Ghilzai, die vor allem im Osten des Landes leben. Auch ein Großteil der Taliban-Bewegung war bzw. ist paschtunisch, weshalb sie in der Region ein schlechtes Bild haben. Deren Sprache, das Paschtu, ist jedoch nicht die häufigste Muttersprache, da mehrere Völker Persisch sprechen, dazu gehören Tadschiken, Hazara, Aimaken und Perser. Auch einige Paschtunen sprechen Persisch als Muttersprache. Menschen, die in Afghanistan Persisch sprechen, werden häufig als "Parsivan" bzw. "Farsivan" ("Persischsprecher") bezeichnet.
- Tadschiken und Perser machen mit etwa 27 %[2] die zweitgrößte ethnische Gruppe aus, sprechen Persisch und sind genau wie die Paschtunen in der Regel sunnitisch, was sie von den Hazara und den iranischen Persern unterscheidet, es gibt jedoch im Norden und Westen einige schiitische Tadschiken.[1] Der Begriff "Tadschike" ist in Afghanistan nicht genau definiert, häufig werden alle Sunniten, die Persisch sprechen, als Tadschiken bezeichnet. Die Tadschiken machen die Mehrheit der Stadtbevölkerung aus und beherrschen die Basare. Sie teilen sich in viele Stämmen auf, einige Tadschiken bezeichnen sich selbst als Farsi (Perser) oder Farsivan (Persischsprachige).[1]
- Die Hazara sprechen den persischen Dialekt Hazaragi und sind schiitisch. Sie haben eine mongolische Abstammung, man geht davon aus, dass sich mongolische Soldaten nach der Expansion im 13 Jh. in der Region niedergelassen haben und mit der schiitischen, persischen Bevölkerung vermischt haben. Diese mongolische Abstammung ist noch an einigen turko-mongolischen Lehnwörtern im Hazaragi-Dialekt sowie an dem mongolidem Aussehen der Hazara zu erkennen. Aufgrund der ethnischen Herkunft, Sprache und des schiitischen Glaubens sind sie immer wieder Opfer von Diskriminierung und Gewalt. Im Bürgerkrieg wurden einige Hazara gezielt von sunnitischen Islamisten getötet.[3] Viele Hazara sind ins Ausland geflüchtet, vor allem in den Iran, nach Pakistan und Europa. In den Zielländern werden sie ebenfalls häufig diskriminiert.[4]
- Die Aimaken stellen ebenfalls eine bedeutende persischsprachige Minderheit dar, sind sunnitisch und bezeichnen sich häufig auch als Tadschiken oder Perser. Sie sind ebenfalls in zahlreiche Stämmen aufgeteilt, die im Westen und Zentrum des Landes leben.
- Die Belutschen leben im Süden des Landes, sprechen Belutschisch und sind sunnitisch. Viele sehnen sich nach einem belutschischen Nationalstaat mit den Belutschen in Pakistan[5] und im Iran.
- Weitere iranische Völker in Afghanistan sind die Kurden, die etwa 0,6 % der Bevölkerung ausmachen[6] (Chorasan-Kurden), sowie zahlreiche ostiranische Völker im Pamirgebirge wie die Wakhi, Sanglechi, Shughni, Ishkamini, Munji oder Tangshewi. Pamiri ist eine Sammelbezeichnung dieser Völker. Deren Zahlen sind rückläufig, da zu wenig getan wird, um die Sprachen und Kulturen dieser Völker zu erhalten. Einige Sprachen sind gefährdet, da die Menschen Persisch oder Paschtu annehmen und an ihre Nachkommen weitergeben. Mit dem Aussterben der Sprache ist in der Regel auch die Grundlage der ethnischen Kultur dieser Völker in großer Gefahr.[7]
Turkvölker
- Die Usbeken sind mit rund 9 % die größte turksprachige Ethnie Afghanistans und leben vor allem im Norden nahe Usbekistan.[1] Afghanistan hat die größte usbekische Bevölkerung nach Usbekistan. Sie sind sunnitisch und in Konflikten mit den Tadschiken verbündet.
- Die Turkmenen leben entlang der turkmenischen Grenze im Norden des Landes und machen zwischen 3 und 5 % der Bevölkerung aus. Sie sind sunnitisch. Einige Turkmenen, Usbeken, Kirgisen und Tadschiken sind in den 1920er Jahren wegen der stalinistischen Politik und der daraus folgenden Hungersnöte wegen der Zwangskollektivierung nach Afghanistan geflohen.[8] Viele leben direkt an der Grenze zu Turkmenistan und wünschen sich einen Anschluss an Turkmenistan.[8]
- Im Distrikt Wakhan leben einige kirgisische Nomaden, die faktisch von der Außenwelt isoliert sind.[9] Sie sind teilweise ebenfalls Flüchtlinge des Kommunismus nach der russischen Revolution.[9]
- Es gibt zahlreiche weitere kleine turksprachige Gruppen wie die Qizilbasch, Kasachen, Türken oder Afscharen, die nur eine geringe Zahl ausmachen. Sie leben teilweise nomadisch.[1]
Andere Volksgruppen
- Sadat werden in Afghanistan als ethnische Gruppe anerkannt und nehmen einen Ehrenplatz ein. Die mehrheitlich in Balch und Kundus im Norden und in Nangarhar im Osten lebenden Sayyiden sind sunnitische Muslime, aber es gibt auch einige, darunter in der Provinz Bamiyan, die dem schiitischen Islam angehören. Diese werden oft als Sadat bezeichnet, ein Wort, das traditionell „im nördlichen Hedschas-Gebiet und in Britisch-Indien gleichermaßen auf die Nachfahren von Hasan und Hussein, (den ersten schiitischen Märtyrern) Söhnen von Ali und Enkeln von Mohammed, angewendet wurde“.[10]
- Die dravidischen Brahui machen 0,8 % der Bevölkerung aus und leben vor allem im Süden mit den Belutschen zusammen.[1]
- Die Nuristani leben nordwestlich von Kabul.[1] Deren Sprachen (Kati, Ashkun u. a.) sind zwar indoiranisch, aber weder iranisch noch indoarisch. Es wird behauptet sie seien die direkten Nachfahren der Griechen, die sich während des Indienfeldzugs Alexander des Großen in Nuristan niedergelassen haben. Diese These wird jedoch von verschiedenen Experten abgelehnt.[11][12][13][14][15] Da sie lange Zeit nicht muslimisch waren, wurden sie früher als Kafiren (persisch für ungläubig) bezeichnet.
- Es existieren zahlreiche kleine indoarische Völker, die zusammen etwa 1,5 % ausmachen. Die Paschai sind die größte Ethnie, weitere sind u. a. Punjabi, Sindhi, Kohistani, Gujjar und Roma.[16] Die Indoarier, die nicht in den letzten Jahrhunderten eingewandert sind, sprechen dardische Sprachen. Die meisten Indoarier in Afghanistan sind sunnitisch, wobei es auch einige Sikhs und Hindus gibt. Urdu gilt als Lingua Franca der indischen Völker in Afghanistan.
2017 waren 0,4 % der afghanischen Bevölkerung im Ausland geboren.[17][18]
Tabelle
Die folgenden Zahlen aus dem Jahr 2017 sind die geschätzten Zahlen der Ethnien in Afghanistan von der Université Québec.[6] Aufgrund der fehlenden Bürokratie in Afghanistan sind die Zahlen nicht zu 100 % genau, auch weil sich viele nicht klar zu einer dieser Ethnien zuordnen. Manche Aimaken bezeichnen sich beispielsweise als Tadschiken, manche Tadschiken als Perser.
Ethnie | Sprache | Anzahl (2017) | Anteil in % (2017) | Sprachfamilie |
Paschtunen | Paschtu | 13 536 000 | 39,6 % | Iranisch |
Tadschiken | Dari (Persisch) | 8 655 000 | 25,3 % | Iranisch |
Usbeken | Usbekisch | 3 116 000 | 9,1 % | Turksprachen |
Hazara | Hazaragi (Persisch) | 2 945 000 | 8,6 % | Iranisch |
Turkmenen | Turkmenisch | 1 703 000 | 4,9 % | Turksprachen |
Aïmaken | Aimaq (Persisch) | 1 415 000 | 4,1 % | Iranisch |
Perser | Persisch | 588 000 | 1,7 % | Iranisch |
Pashai | Pashai | 466 000 | 1,3 % | Indoarisch |
Belutschen | Belutschisch | 415 000 | 1,2 % | Iranisch |
Brahui | Brahui | 286 000 | 0,8 % | Dravidisch |
Nuristani Narisati (Kati) | Kati | 245 000 | 0,7 % | Nuristani |
Kurden | Kurdisch | 239 000 | 0,6 % | Iranisch |
Nuristani Ashkuni | Ashkun | 43 000 | 0,1 % | Nuristani |
Kohistani | Kohistani | 41 000 | 0,1 % | Indoarisch |
Shughni | Shughni | 40 000 | 0,1 % | Iranisch |
Punjabi | Panjabi und Urdu | 39 000 | 0,1 % | Indoarisch |
Sindhi | Sindhi | 21 000 | 0,0 % | Indoarisch |
Nuristani (Kamviri) | Kamviri | 19 000 | 0,0 % | Nuristani |
Wakhi | Wakhi | 18 000 | 0,0 % | Iranisch |
Tadschikische Araber | Tadschikisches Arabisch | 16 000 | 0,0 % | Semitisch |
Roma | Romani oder Domari | 24 900 | 0,0 % | Indoarisch |
Gawar-Bati | Gawar-Bati | 14 000 | 0,0 % | Indoarisch |
Aserbaidschaner | Aserbaidschanisch | 13 000 | 0,0 % | Turksprachen |
US-Amerikaner | Englisch (Mehrheit) | 12 000 | 0,0 % | Germanisch |
Nuristani Waigeli
(Rote Kalasha) |
Waigali | 12 000 | 0,0 % | Nuristani |
Nuristani (Grangali) | Grangali | 10 000 | 0,0 % | Nuristani |
Türken | Türkisch | 9 500 | 0,0 % | Turksprachen |
Kho | Khowar | 8 900 | 0,0 % | Indoarisch |
Nuristani (Prasuni) | Prasuni | 8 600 | 0,0 % | Nuristani |
Parachi | Parachi | 7 200 | 0,0 % | Iranisch |
Warduji | Warduji (Sanglechi) | 7 200 | 0,0 % | Iranisch |
Munji | Munji | 6 200 | 0,0 % | Iranisch |
Mujajir | Urdu | 5 700 | 0,0 % | Indoarisch |
Andere | Diverse | 186 800 | 0,5 % | Diverse |
Total 2017 | Diverse | 34 169 400 | 100,0 % | Diverse |
Problematik
Durch die teilweise verfeindeten Ethnien und Stämme existiert in weiten Teilen der afghanischen Bevölkerung kein Nationalgefühl. Viele Bewohner Afghanistans fühlen sich unterdrückt und möchten nicht als „Afghanen“ (persisch für „Paschtunen“) bezeichnet werden.[19][20][21] Eskaliert ist die Situation, als es elektrische Personalausweise mit dem Eintrag „Nationalität: Afghane“ geben sollte.[19][20] Ethnische Konflikte spielen eine wichtige Rolle im Bürgerkrieg. Durch die Spaltung des Landes und Sprachprobleme ist eine politische Entwicklung kaum möglich. Daher ist auch ein gemeinsamer Kampf gegen die Taliban schwer möglich.
Viele Volksgruppen, vor allem Hazara und Tadschiken, fühlen sich gegenüber den Paschtunen benachteiligt. Paschtunische Nationalisten versuchen, einen paschtunischen Nationalstaat auf Kosten der Minderheiten aufzubauen (Paschtunisierung). Ethnischer Separatismus ist entstanden. Viele Turkmenen möchten ihre Siedlungsgebiete an Turkmenistan anschließen, Usbeken an Usbekistan. Die Hazara streben nach einem unabhängigen Hazaristan.[22][23]
Viele Völker und Sprachen sind vorm Aussterben bedroht. Beispiele sind Munji, Ormuri, Nuristani-Sprachen (Waigali u. a.), Pashai, Zebaki.[24][25]
Einzelnachweise
- Infographs, Maps and Statistics Collection - Afghanistan, Ethnic Groups (detailed). In: The Gulf/2000 Project. Abgerufen am 20. Dezember 2020 (englisch).
- Kinderweltreise ǀ Afghanistan - Leute. Abgerufen am 19. Dezember 2020.
- Emran Feroz: Afghanistan: Separatismus und Warlordismus. Abgerufen am 19. Dezember 2020.
- The Plight of the Hazaras in Pakistan. Abgerufen am 19. Dezember 2020 (amerikanisches Englisch).
- Fast vergessener Konflikt. In: Göttinger Allgemeine Zeitung. Abgerufen am 19. Dezember 2020.
- L'aménagement linguistique dans le monde - Afghanistan. In: Université Laval Québec. Abgerufen am 19. Dezember 2020 (französisch).
- Dr. Christian Jung: Bedrohte iranische Sprachen bewahren. In: VolkswagenStiftung. 7. August 2007, abgerufen am 19. Dezember 2020.
- Slavomír Horák: Afghanistan aus der Sicht Turkmenistans. Schwieriger Nachbar oder Sicherheitsrisiko? In: Zentralasien-Analysen. Nr. 98, 26. Februar 2016, S. 2–5, doi:10.31205/ZA.098.01 (laender-analysen.de [abgerufen am 19. Dezember 2020]).
- Verrückter Trip: Afghanistan per Esel | STRG_F - YouTube. Abgerufen am 19. Dezember 2020.
- https://nps.edu/web/ccs/ethnic-genealogies
- The Káfirs of the Hindu-Kush, 1896, pp 75, 76, 157, 165, 168, George Scott Robertson, Arthur David McCormick.: The Káfirs of the Hindu-Kush. Hrsg.: George Scott Robertson, Arthur David McCormick. 1896, S. 75, 76, 157, 165, 168.
- Afghanistan: its people, its society, its culture, 1962, p 50, Donald Newton Wilber, Elizabeth E. Bacon.
- Afghanistan, 2002, p 8, Martin Ewans
- Cf: Afghanistan, 1967, p 58, William Kerr Fraser-Tytler, Michael Cavenagh Gillett.
- Country Survey Series, 1956, p 53, Human Relations Area Files, inc.- Human geography.
- Zigeuner. Abgerufen am 19. Dezember 2020 (deutsch).
- 1615 L. St NW, Suite 800Washington, DC 20036USA202-419-4300 | Main202-857-8562 | Fax202-419-4372 | Media Inquiries: Global Migration Map: Origins and Destinations, 1990-2017. In: Pew Research Center's Global Attitudes Project. Abgerufen am 19. Dezember 2020 (amerikanisches Englisch).
- International Migration Report 2017. Vereinte Nationen, abgerufen am 20. Dezember 2020 (englisch).
- Emran Feroz: Debatte Afghanische Staatsbürgerschaft: Im Würgegriff der Ethnien. In: Die Tageszeitung: taz. 16. Mai 2018, ISSN 0931-9085 (taz.de [abgerufen am 4. Juli 2021]).
- Emran Feroz: Wer ist ein Afghane? In: Telepolis. Heise, 27. Februar 2018, abgerufen am 4. Juli 2021.
- Christian Kreutzer: Afghanistan: Einer für alle, jeder gegen jeden. In: FAZ.NET. ISSN 0174-4909 (faz.net [abgerufen am 4. Juli 2021]).
- Changez Hazara: Brief History of the Hazaristan Independence Movement. In: My Site. 22. April 2017, abgerufen am 24. April 2021 (englisch).
- Five Nations that Deserve to be Independent. In: KabulPress. 25. September 2017, abgerufen am 24. April 2021 (englisch).
- Wie fünf Forschende für die Sprachen der Pamir-Region kämpfen. In: Novastan Deutsch. 24. März 2021, abgerufen am 4. Juli 2021 (deutsch).
- Bedrohte iranische Sprachen bewahren. Informationsdienst Wissenschaft, 7. August 2007, abgerufen am 4. Juli 2021.