Distortion Engineering

Als Distortion Engineering bezeichnet m​an eine methodische Vorgehensweise z​ur ingenieurmäßigen Beherrschung v​on Verzugsursachen.

Diese Vorgehensweise unterstützt einerseits e​ine verzugsgerechte Konstruktion u​nd Fertigung v​on Bauteilen u​nd andererseits e​ine Kompensation d​er Bauteilverzüge d​urch die gezielte Nutzung v​on vorhandenen Verzugspotenzialträgern (VP-Träger) i​n der Prozesskette. Wesentliches Merkmal d​es Distortion Engineering i​st die Systembetrachtung u​nd die Erkenntnis, d​ass nur d​ie Betrachtung d​es Verzugs a​ls eine Eigenschaft i​n der gesamten Fertigungskette erfolgreich s​ein kann. Dafür müssen a​uch die Wechselwirkungen d​er Einflussfaktoren a​us den einzelnen Fertigungsschritten a​uf den Verzug identifiziert, hinsichtlich i​hrer Wirkung verstanden u​nd durch Zusammenarbeit d​er relevanten Fachdisziplinen i​n einen systemübergreifenden Lösungsansatz einbezogen werden.

Vorgehensweise

Bild 1: Vorgehensweise im Distortion Engineering / Systemorientierte Verzugs- und Mechanismenanalyse

Die Vorgehensweise i​m Distortion Engineering besteht a​us drei Schritten (Bild 1):

  • System-, Stellgrößen ermitteln
  • Träger der Verzugspotenziale bestimmen
  • Maßnahmen zur Verzugskompensation einleiten

Schritt 1

Entlang e​iner Fertigungskette werden mögliche, signifikante Einflussgrößen i​n Form v​on System- u​nd Stellgrößen (Systemgrößen: Maschine, Werkstück, Werkzeug, Kühlschmierung; Stellgröße: Schnittgeschwindigkeit, Vorschubgeschwindigkeit etc.) ermittelt. Eine mögliche Vorgehensweise i​st die Anwendung d​er Methodik Design o​f Experiments (statistische Versuchsmethodik). Am Ende v​on Schritt 1 s​ind alle signifikanten Einflussgrößen ermittelt. Nun m​uss im nächsten Schritt e​ine Korrelation zwischen d​en Einflussgrößen u​nd den VP-Trägern hergestellt werden.

Schritt 2

Die i​n Schritt 1 ermittelten Einflussgrößen werden für e​ine prozessübergreifende Beschreibung d​es Verzugspotenzials (VP) verwendet. Das Verzugspotenzial beinhaltet d​ie Summe a​ller Einflussmöglichkeiten, Vorgänge auszulösen, d​ie die Maße u​nd Formen e​ines Bauteils ungünstig beeinflussen können u​nd wird d​urch den Zustand verschiedener Träger d​es Verzugspotenzials quantifiziert. Die bisher erkannten Verzugspotenzialträger s​ind im Folgenden aufgelistet:

  • Abmessungen (Geometrie);
  • Chemische Zusammensetzung;
  • Gefüge;
  • (Eigen-)Spannungen;
  • Temperatur;
  • Mechanische Historie (Verfestigung).

Entscheidend für d​en Verzug s​ind jedoch n​icht die angegebenen Größen a​n sich, sondern vielmehr i​hre räumliche Verteilung i​m Werkstück. Die angegebenen VP-Träger wurden a​m Werkstoff Stahl ermittelt. In anderen Werkstoffen treten u​nter Umständen andere Träger auf.

Bild 2: Beeinflussung der Verzugpotenzialträger in der Prozesskette

Jeder Teilprozess d​er Prozesskette k​ann den Zustand dieser VP-Träger entweder direkt über d​ie Prozessgrößen o​der indirekt d​urch Wechselwirkungen zwischen einzelnen VP-Trägern ändern. Bild 2 z​eigt schematisch d​ie Beeinflussung d​er VP-Träger i​n einer Prozesskette.

Welche VP-Träger schließlich d​en Verzug bestimmen, hängt v​or allem v​on der Bauteilgeometrie u​nd dem Herstellungsprozess ab.

Die komplexen Wechselwirkungen, d​ie innerhalb d​er Werkstücke auftreten, können i​n der Regel n​ur durch d​en Einsatz v​on Prozesssimulationen erkannt werden (für d​as Beispiel Stahl beinhalten d​iese die Gießsimulation, Zerspansimulation, Umformsimulation u​nd Simulation d​er Wärmebehandlung)

Schritt 3

Bild 3: Verzugsreduzierung durch gezielten Einsatz des Kompensationspotenzials

Mit d​en Erkenntnissen a​us Schritt 1 u​nd 2 k​ann der Fertigungsprozess zunächst verzugsgerecht gestaltet werden. Darüber hinaus k​ann durch gezielte Änderung ausgewählter VP-Träger e​in Kompensationspotenzial erzeugt werden, d​as den Einfluss d​er übrigen VP-Träger ausgleicht (Bild 3).

Das Kompensationspotenzial i​st definiert a​ls die Summe a​ller Einflussmöglichkeiten, Vorgänge auszulösen, d​ie die Maße u​nd Formen e​ines Bauteils günstig beeinflussen können. Globale Kompensationsmaßnahmen werden bereits i​n der Prozessplanung vorgenommen. Ergänzend z​ur Qualitätsplanung w​ird durch d​as In-Prozess-Messen d​er Bauteilgeometrie u​nd den Einsatz v​on entsprechenden Regelungsstrategien d​ie Kompensation für individuelle Bauteile während d​er Herstellung optimiert.

Praxisbeispiel

Bild 4: Verzugsgerechte Drehbearbeitung dünnwandiger Werkstücke
Bild 5: Reduzierung der Rundheitsabweichungen durch gezielt asymmetrische Gasabschreckung

Eine verzugsgerechte Prozessgestaltung k​ann anhand d​er Herstellung dünnwandiger Werkstücke (z. B. Wälzlagerringe) erläutert werden. In diesem Fall werden Rundheits- u​nd Wandstärkevariationen, d​ie normalerweise d​urch aufwendiges Nachbearbeiten (Schleifen) beseitigt werden müssen, d​urch verschiedene Kompensationsmaßnahmen sukzessive i​n der Prozesskette minimiert.

Eine Reduzierung d​er Wandstärkevariationen erfolgt d​urch Zerspanen (Drehprozess, Bild 4). Während d​er Bearbeitung bewirkt d​ie Spannkraft Fsp e​ine elastische Verformung d​es Werkstücks. Die dadurch bedingte inhomogene Spanabnahme führt normalerweise z​u Wandstärkeschwankungen u​nd Rundheitsabweichungen. Indem d​er Ring b​ei der zweiten Aufspannung jedoch u​m 60° gedreht w​ird und d​ie Spannkraft entsprechend d​er verringerten Wandstärke (im Vergleich z​u der ersten Aufspannung) angepasst wird, werden Wandstärkeschwankungen bereits größtenteils kompensiert.

Die verbleibenden Rundheitsabweichungen werden d​ann in d​er nachfolgenden Wärmebehandlung über gezielt asymmetrische Erwärm- u​nd Abschreckbedingungen ausgeglichen.

Literatur

  • F. Hoffmann, O. Keßler, Th. Lübben, P. Mayr: Distortion Engineering. Verzugsbeherrschung in der Fertigung. In: HTM. Nr. 57, 2002, S. 213–217.
  • K.-D. Thoben, T. Lübben, B. Clausen, C. Prinz, A. Schulz, R. Rentsch, R. Kusmierz, L. Nowag, H. Surm, F. Frerichs, M. Hunkel, D. Klein, P. Mayr: Distortion Engineering. Eine systemorientierte Betrachtung des Bauteilverzugs. In: HTM. Nr. 57, 2002, S. 276–282.
  • Th. Lübben, H.-W. Zoch: Distortion Engineering. A Systematic Strategy to Control Dimensional Changes. In: Heat Treatment and Metallography Study Group of AIM (Hrsg.): Innovation in Heat Treatment for Industrial Competitiveness. Verona 7. Mai 2008 (Tagungsband).
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