Die Mohrin (Tankred Dorst)
Die Mohrin ist ein Schauspiel von Tankred Dorst, das am 25. Juni 1964 unter der Regie von Gerhard Klingenberg an den Städtischen Bühnen Frankfurt am Main uraufgeführt wurde.[1]
Zeit und Ort
Orte der Handlung sind die Provence und Karthago noch vor dem 15. Jahrhundert.[A 1]
Inhalt
Graf Carin von Beaucaire und Graf Bougars von Valence nehmen sich immer einmal ihre Ländereien rechts und links der Rhône weg. Als auf dem Wege des Einheiratens kein Weiterkommen ist, schickt der alte Beaucaire seinen Sohn Aucassin ins Feld und frohlockt, es werde „ein schöner, blutiger Tag“. Der junge Numismatiker Aucassin hält sich mit Mühe und Not auf dem Pferd, besiegt aber den Feind. Bougars von Valence liegt in Ketten.
Aucassin liebt die junge Mohrin Nicolette. Der Pflegevater Vizgraf hatte das Mädchen vor etlichen Jahren als Baby in Nordafrika geraubt.[A 2] Der alte Graf Beaucaire ist gegen die Verbindung, hatte Nicolette wegschleppen lassen, jedoch seinem Sohn versprochen, er dürfe das schöne Kind einmal küssen, falls er aus der Schlacht als Sieger heimgeritten käme. Nun fordert Aucassin die versprochene Belohnung. Der Graf, „dieser verdammte alte Lügenvater“, sträubt sich. Aucassin wird sogar in den Turm gesperrt, weil er den Grafen von Valence generös hat laufenlassen. Nachdem Nicolette zu dem Turm vorgedrungen ist und sich das Paar seine Liebe gestanden hat, setzt ihr der alte Graf zwei Mörder auf die Fährte, denn „die Hexe muß weg“[2]. Nicolette kann in die dicht bewaldete Umgebung von Beaucaire entweichen. Sie schickt den Köhler Ignaz nach Aucassin aus. Der Geliebte folgt dem Ruf. Das Paar liebt sich in einer Laubhütte, die Nicolette eigenhändig errichtet hat.
Das Liebespaar verlässt den Wald und kommt an der Stadt Torelore vorbei. Aucassin betritt diese Stadt in der Nähe des Mittelmeeres und wird Nachfolger des dort gerade gestorbenen Königs. Nicolette hat er am Wege stehen lassen. Die Verlassene schifft sich ein und erreicht Karthago. Dort wartet bereits der alte Karthago auf Nicolette. Der Alte ist der König von Karthago. Er erkennt seine leibliche Tochter nach sechzehn Jahren Abwesenheit an einem Muttermal am Haaransatz überm Nacken links. Nicolette hält es in Afrika nicht aus und fliegt nach Beaucaire. Aucassin ist nach dem Tode seines Vaters Graf von Beaucaire geworden. Sechs Jahre schon sind seit der Trennung des Paares verflossen. Tankred Dorst bietet dem Zuschauer ein märchenhaftes Happy End mit einer waschechten Königstochter und einem richtigen Grafen.
Form
Alternde Frauen dürfen nicht lachen, sonst wird das Gesicht rissig, heißt es in diesem scherzhaften Märchen. Es wird auch noch phantasievoll Neuzeit auf die mittelalterlich ausstaffierte Bühne geholt. Aucassin wirft einen Blick in die fernere Zukunft, prognostiziert „die Liebe zu dritt“ und „die Telegraphie“[3]. Oder Nicolette verspricht dem Gärtner eine Prämie. An etlichen Stellen hat Tankred Dorst kleine, kurzweilige Überraschungen parat. So stellt zum Beispiel der Schuster Pierre – das ist einer der beiden vom alten Grafen gedungenen Mörder – den Terminus Metamorphose als alltäglich in seinem Vokabular hin. Und dann gibt es noch ungewöhnliche Bilder. Zum Beispiel bietet der Kräuterjakob – das ist einer der Beaucairois[A 3], denen Nicolette im Wald über den Weg läuft – dem Mädchen seinen Bart als Taschentuch an. Überhaupt ist die Sprache der Waldbewohner um Beaucaire ungezwungen. Als eine Tänzerin den „schönen schwarzen Mann“ – gemeint ist der Köhler Ignaz – bei Hofe zum Tanz bittet, lehnt Ignaz wegen seiner aktuellen Erektion dankend ab: „Ich hab den Stecken.“[4] Nicolette lässt an die Adresse Aucassins über Ignaz ausrichten, er solle den gräflichen Hof schleunigst verlassen und im Walde seine Hirschkuh aufsuchen. Das ist eine Sprache, die der Köhler versteht und gern aufgreift. Er sagt zum jungen Grafensohn: „Sie [Nicolette] ist brunftig. Uahh!“[5] Sprache, Sprachspiel und Sprachbeherrschung sind in dem Stück das A und O. So singen die Delphine während Nicolettes Meerfahrt auf Lateinisch.
Manche Ideen Tankred Dorsts hören sich fast poetisch an. In Karthago sehnt sich Nicolette nach Aucassin. Der Wind aus Frankreich dringt in Nicolettes Kammer, figuriert gleichsam als Gesandter und wird endlich durchs Schlüsselloch verabschiedet. Oder Aucassin, außer sich vor Freude über die unverhoffte Wiederkehr der Geliebten, will feiern: „Alle Fenster auf! Licht! Vögel! Himmel! Das ganze Land herein!“ Nicolette dämpft unpoetisch-praktisch: „Pst! Jetzt nicht! Später!“[6]
Zitate
Adaptionen
- 28. März 1967: WDR Fernsehfilm. Regie: Werner Düggelin[11]
- 1969: Oper. Bayerische Staatsoper. Musik: Günter Bialas. Regie: Dietrich Haugk[12]
Literatur
- Tankred Dorst: Die Mohrin. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1964. Collection Theater Texte 17.
Verwendete Ausgabe
- Die Mohrin. S. 268–339 in Tankred Dorst. Frühe Stücke. Werkausgabe 3 (Inhalt: Der Kater oder Wie man das Spiel spielt. Gesellschaft im Herbst. Die Kurve. Große Schmährede an der Stadtmauer. Rameaus Neffe. Die Mohrin. Der Richter von London) Suhrkamp Verlag 1986 (1. Aufl.), ISBN 3-518-03009-4, 404 Seiten.
Sekundärliteratur
- Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): text + kritik Heft 145: Tankred Dorst. Richard Boorberg Verlag, München im Januar 2000, ISBN 3-88377-626-2
- Gero von Wilpert: Lexikon der Weltliteratur. Deutsche Autoren A–Z. Stuttgart 2004, ISBN 3-520-83704-8, S. 126, linke Spalte
Anmerkungen
- In der Provence wird zu Handlungszeiten Altfranzösisch gesprochen (Verwendete Ausgabe, S. 269 Mitte).
- Der ehemalige Haudegen Vizgraf steigt in der Grafschaft Beaucaire gegen Ende des Stücks – beinahe anachronistisch – zum Museumsdirektor auf.
- Beaucairois nennen sich die Bewohner der Gegend um Beaucaire.
Einzelnachweise
- Günther Erken bei Arnold, S. 85, rechte Spalte, vorletzter Eintrag von unten
- Verwendete Ausgabe, S. 287, 13. Z.v.u.
- Verwendete Ausgabe, S. 315, 4. Z.v.o.
- Verwendete Ausgabe, S. 310, 3. Z.v.u.
- Verwendete Ausgabe, S. 311, 12. Z.v.o.
- Verwendete Ausgabe, S. 339, 12. Z.v.u.
- Verwendete Ausgabe, S. 298, 3. Z.v.o.
- Verwendete Ausgabe, S. 303, 2. Z.v.o.
- Verwendete Ausgabe, S. 316, 10. Z.v.o.
- Verwendete Ausgabe, S. 331, 13. Z.v.o.
- Günther Erken bei Arnold, S. 85, rechte Spalte, vorletzter Eintrag von unten
- Verwendete Ausgabe, S. 339 unten