Die Baugrube
Die Baugrube ist ein Roman von Andrei Platonow (1899–1951), der 1930 in der Sowjetunion beendet wurde, aber wegen der Zensur dort erst 1987 erscheinen konnte.
Inhalt
Der wegen seiner Nachdenklichkeit zu langsam arbeitende Industriearbeiter Woschtschew wird an seinem 30. Geburtstag entlassen. Er schließt sich einer Gruppe Bauarbeiter an, die am Rand einer namenlosen Stadt eine Baugrube für ein großes „gemeinproletarisches Haus“ ausheben. Die Arbeiten ziehen sich bis zum Ende des Sommers hin, als in der Gruppe zur Steigerung der Arbeitsmotivation die Anschaffung eines Radios oder eines Waisenmädchens diskutiert wird, das die zukünftigen Bewohner und ganz allgemein die Zukunft personifizieren könnte. Da blitzt im Vorarbeiter Tschiklin die Erinnerung an eine schwärmerische Jugendliebe auf, er läuft in die Stadt und findet in einem Fabrikkeller seine sterbende frühere Angebetete, deren kindliche Tochter er in die Baracke der Bauarbeiter rettet. Die Arbeiten gehen weiter langsam voran bis zum Herbst, als sie ein geheimes Sarglager der Bauern eines nahen Dorfes offenlegen. Diese Särge bringen die Protagonisten den Dörflern zurück und werden Zeugen und Mitwirkende der Kollektivierung der größeren Einzelbauern (Kulaken). Diese werden im inzwischen beginnenden Winter auf ein Floß getrieben und stromab dem sicheren Tod überlassen. Nastja, das gerettete Waisenmädchen, erkältet sich beim Freudenfest des Dorfes über die Liquidierung der Bauern, stirbt daran und wird am Boden der Baugrube in einem Felsengrab bestattet. In den letzten Zeilen wendet sich der Erzählerautor an seine Leser, denen er erläutert, im Tod des kleinen Mädchens seine Sorge vor dem „Untergang der sozialistischen Generation“ dargestellt zu haben.
Erzählweise
Der lähmende Zweifel an den von der Partei vorgegebenen Prioritäten und Maßnahmen zieht sich als einer der roten Fäden vom Anfang bis zum abschließenden Autorenkommentar durch den Roman. Die Motive von Gewalt, Enttäuschung und Vergeblichkeit bilden die Textur des Lebens in Stadt und Land in den etwa 20 dialogischen Szenen des Romans. Der allwissende Er-Erzähler typisiert mit meist wenigen Strichen sein Dutzend der Protagonisten, von denen die wenigsten vom Aufbau des Sozialismus in der Sowjetunion überzeugt sind. Fast allen mangelt es an Bildung und Überzeugung, und die Angst davor, der Parteilinie hinterher oder voraus zu sein, ist ihr ständiger Begleiter. Wie der Wandel der Jahreszeiten ist der Sozialismus nichts selbst Gewolltes oder Geschaffenes, sondern ein Schicksal, das die Erwachsenen kaum ertragen oder nicht zu überleben erwarten.
Die Natur spiegelt die vergeblichen Hoffnungen der Protagonisten auf ein erfülltes Leben, wenn z. B. „in der Ferne, schwebend und ohne Rettung, (…) ein undeutlicher Stern (leuchtete), und näher wird er niemals kommen.“ Diese häufigen Epiphanien der Enttäuschung resümieren die vergeblichen Forderungen nach Wahrheit in der Erforschung der eigenen Lage, nach individuellem Lebenssinn und persönlichem Glück, die dem unmittelbaren Nutzen für die sozialistische Bewegung und dem angeordneten Enthusiasmus geopfert werden. Auch die Baugrube bleibt am Ende leer und der Wechsel der Jahreszeiten sowie die Schicksale des Sterbens, beiläufigen Tötens und systematischen Mordens der Kulaken sind noch die deutlichsten Entwicklungen. In einer symbolischen Geschichtsschreibung der Ereignisse sammelt einer von ihnen immer wieder die Schleifspuren des sozialistischen Aufbaus in einem viel zu kleinen Sack, in den er die „hinfälligen Dinge“, die Erinnerungen an die Opfer der neuen Gesellschaft für einen späteren Zweck hinein stopft.
Der Autor lässt den Leser das unbehauste Leben seiner Figuren vor allem durch die Dialoge miterleben. Der Kosmos ihrer Sprache ist aus den Fugen wie die Welt der sich weiter schleppenden Figuren, denen der Leser stockend folgt. In der neuen Übersetzung von Gabriele Leupold verballhornen die Protagonisten ungewollt Fremdworte und Losungen der Partei, verbiegen die Logik, sprechen in Rätseln und Metonymien ihrer bis zum Sinnverlust verkürzten Befehlssätze. Die in der vorliegenden Ausgabe reichhaltigen Anmerkungen belegen die Verwendung häufiger Zitate aus der sozialistischen Presse, die im Munde der Figuren und des Erzählers zu Parodien werden. Der Autor ergänzt das vorgefundene und veränderte Material mit ironischen Bemerkungen, seinen Neologismen und poetischen Bildern, die den Roman zu einem herausfordernden Sprachexperiment machen.
So armselig und abweisend wie die äußere Natur und die Handlungsorte, so grob, gereizt und gewalttätig reden und handeln die Protagonisten meist miteinander. Die sich als „Saukerl“, „Drecksstück“ oder „Parasit“ ansprechenden Figuren werden von ihrem sozialistischen Schicksal überwältigt und überwältigen sprachlich immer wieder die anderen Einzelnen durch Beschimpfungen, durch Kategorienfehler, durch Verschiebung in einen falschen Plural oder Abstrakta: Woschtschew „räumte jetzt die Möglichkeit ein, dass die Kindheit heranwachsen (könne) in diesem beständigen Haus.“ Aber er weiß „noch immer nicht, ob es etwas Besonderes gibt in der allgemeinen Existenz“, ob es also im Sozialismus erlaubt sein würde, ein Individuum zu bleiben. Doch der Autor deutet seine Antwort an, indem er das kleine Mädchen unter dem sozialistischen Aufbau begraben lässt.
Interpretation
Platonow war ein Revolutionär der ersten Stunde und kurzzeitig sogar Mitglied des Zentralkomitees des Sowjets für Land- und Forstwirtschaft. Als Agraringenieur waren ihm die Verhältnisse vertraut, die er in seinen Bildern verdichtet. Die Umstände und die paraphrasierende Verwendung von Stalinzitaten lassen die Entstehung auf die Jahre 1929/1930 eingrenzen. Platonow kritisiert radikal den sich entfaltenden Stalinismus, der „die Bevölkerung schon in ganzen Transporten in den Sozialismus“ befördern will. Er sieht statt des „neuen Menschen“ prophetisch eine neue Vertierung der Menschen, denen bei einzelnen Figuren schon ein Bärenfell wächst, weil sie nach der Pfeife ihrer jeweiligen neuen Dompteure tanzen. Da für Platonow Wahrheit, Lebenssinn und individuelles Glück nicht nur ferne Wirkung des Sozialismus, sondern auch im Heute einzulösende Voraussetzungen sind, konnte er das Scheitern des sozialistischen Projekts an seinen „irrsinnigen Umständen“ schon sehr früh prognostizieren.
Übersetzungen
Der Suhrkamp-Verlag setzte 1971 eine Übersetzung (durch Aggy Jais) der russischen Originalausgabe „Котлован“ unter der Nummer 282 in seine Reihe Bibliothek Suhrkamp. Der Verlag Volk und Welt gab 1989 die erste DDR-Übersetzung von Werner Kaempfe heraus[1].
- Die neue Suhrkamp-Ausgabe von 2016
Seit dem Ende der Sowjetunion wurde Andrei Platonow für die von der Zensur befreite Literaturwissenschaft ein Forschungsthema, das zu einer großen Zahl von Veröffentlichungen und in dieser Ausgabe seiner „Baugrube“ zu mehr als 30 sehr nützlichen Anmerkungsseiten führte. Die Übersetzerin, Gabriele Leupold, und die Büchner-Preisträgerin Sibylle Lewitscharoff haben darüber hinaus in zwei Nachworten den Roman und ihre Leseeindrücke kommentiert. Mit diesen Ergänzungen zu Platonows Text ist eine lesenswerte Ausgabe entstanden, die allerdings mit keinem Wort die im eigenen Haus erschienene Erstübersetzung, geschweige denn die übrigen Veröffentlichungen erwähnt. Dies erfolgt in der 2019 als Suhrkamp Taschenbuch Nummer 4978 erschienenen Ausgabe im Abschnitt „Editorische Notiz und Dank“. Neben den genannten Übersetzungen wird eine weitere genannt, die von Kay Borowsky in der 1992 im Oberbaum-Verlag erschienenen Platonow-Ausgabe.[2]
Resonanz
Bei Erscheinen der neuen Ausgabe im Suhrkamp-Verlag besprachen alle überregionalen Zeitungen Deutschlands und die Neue Zürcher Zeitung sowie eine Reihe von Radioprogrammen den Roman. Auf der Webseite des Verlages werden sie in Stichworten zitiert.[3] Das Kulturmagazin Perlentaucher bringt Auszüge aus mehreren Rezensionen.[4]
Die neue Übersetzung stand sowohl auf der ORF-Bestenliste als auch auf der SWR-Bestenliste[3] und war 2017 für den Preis der Leipziger Buchmesse in der Sparte Übersetzungen nominiert.[5]
Ausgaben
- Andrej Platonow: Die Baugrube. Roman, aus dem Russischen übersetzt, mit Kommentaren und einem Nachwort versehen von Gabriele Leupold. Mit einem Essay von Sibylle Lewitscharoff, Suhrkamp, Berlin 2016, 240 S., ISBN 978-3-518-42561-9
- Andrej Platonow: Das Volk Dshan. Der Takyr. Die Baugrube. Erzählungen, Briefe, Fotos, Dokumente. Übersetzt von Kay Borowsky. Herausgegeben von Siegfried Heinrichs. Oberbaum-Verlag, Berlin 1992, ISBN 3-926409-79-7
Weblinks
- Andrzej Stasiuk: Andrej Platonows „Baugrube“: Das klügste Buch über Totalitarismus. Aus dem Polnischen von Olaf Kühl, FAZ.net 5. Februar 2017.
- Im Gespräch: Gabriele Leupold Graben für eine glorreiche Zukunft. Gesprächspartner: Heinrich Jakunin. Leipziger Buchmesse, Rotes Sofa. 24. März 2017, Mephisto 97.6, Text und Audiodatei 9 min.
Einzelnachweise
- Andrej Platonow: Die Baugrube, Das Juvenilmeer, Dshan, Romane. Aus dem Russischen von Alfred Frank und Werner Kaempfe. Herausgegeben von Lola Debüser. Mit einem Nachwort der Herausgeberin. Berlin, Volk und Welt, 1989, 459 S. ISBN 3-353-00511-0.
- Andrej Platonow: Die Baugrube. Aus dem Russischen übersetzt, mit Kommentaren und einem Nachwort versehen von Gabriele Leupold. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019, ISBN 978-3-518-46978-1, S. 178
- Webseite des Suhrkamp-Verlages, Abruf am 18. September 2020
- Webseite von Perlentaucher, Abruf am 18. September 2020
- Bericht bei Suhrkamp vom 16. Februar 2017, Abruf am 18. September 2020