Der letzte Tag eines Verurteilten (Gemälde)
Der letzte Tag eines Verurteilten ist der Titel eines Genrebildes von Mihály von Munkácsy. Das Gemälde entstand in den Jahren 1869/1870 in Düsseldorf. Es zeigt einen zum Tode Verurteilten beim Besuch seiner Familie. Mit ihm errang der Künstler auf dem Salon de Paris des Jahres 1870 eine Goldmedaille und feierte damit seinen künstlerischen Durchbruch.
Der letzte Tag eines Verurteilten |
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Mihály von Munkácsy, 1870 |
Öl auf Leinwand |
139 × 193,5 cm |
Ungarische Nationalgalerie |
Beschreibung und Bedeutung
In einem Kerker sitzt an einem weiß gedeckten Tisch mit Kruzifix und Kerzen ein zum Tode verurteilter Mann mittleren Alters und erhält gerade Besuch von Familienangehörigen. Ein solcher Besuch war im ungarischen Gewohnheitsrecht verankert. Die Kleidung der Angehörigen lässt darauf schließen, dass der Verurteilte und seine Familie aus dem Milieu des einfachen ungarischen Volks stammen. Unterhalb eines vergitterten Schachtes, aus dem ein wenig Tageslicht in den dunklen Kellerraum fällt, lehnt sich regungslos ein bewaffneter Wachsoldat an einen Pfeiler. Er repräsentiert die damals in Ungarn herrschende österreichische Staatsgewalt. Mit seiner Rechten hält er den Lauf des Gewehrs mit dem langen Dorn des Bajonetts nach oben.
Der Verurteilte blickt auf den Boden und scheint schweren Gedanken anzuhängen, etwa Gedanken an seine bevorstehende Hinrichtung. Als hadere er mit seinem Schicksal, liegt seine rechte Hand zu einer Faust geballt auf dem Tisch. An seinen Stiefeln ist eine schwere Fußkette befestigt. Im Dunkeln, der Fantasie des Betrachters überlassen, bleibt die ihm zur Last gelegte Tat. Einen möglichen historischen Zusammenhang bildet das ungarische Bandenwesen, das von Überfällen auf Reisende lebte. Ein berühmter Räuber dieses Typs war Sándor Rózsa.
Die Darstellung der Angehörigen reicht über alle Altersstufen, vom Säugling bis zur Greisin. Darin zeigt der Maler ein psychologisierendes Spektrum unterschiedlicher Körperhaltungen und Gesichtsausdrücke. Eine ältere Frau, wohl die Mutter des Verurteilten, steht, rücklings zum Betrachter, in der dunklen Ecke neben dem Verurteilten. Sie wendet ihr weinendes Gesicht verzweifelt und schamhaft ab, während die Kinder, die nahe dem Tisch und dem dort Sitzenden stehen, die Situation eher neugierig bestaunen. Ein kleines Mädchen hält nachdenklich inne und scheint kindliche Anteilnahme und Rührung zu zeigen. Die Reaktion der Erwachsenen deutet auf unterschiedliche Regungen hin, auf Gefühle von Mitleid und Trauer, aber auch auf den Ausdruck sozialer Distanzierung und moralischer Ablehnung.
Auf dem schmutzigen Boden steht die verschmähte Henkersmahlzeit. Achtlos fortgeworfen liegt dort auch eine geöffnete Bibel, aus der sich beschädigte Blätter lösen. Im Interesse dramatischer Steigerung bringt der Maler damit Groll und innere Verzweiflung des Verurteilten sowie dessen gebrochenes Verhältnis zum Glauben an ein Leben im Jenseits zum Ausdruck.
Die Gesamtszene ist wie ein Bühnenbild arrangiert und von scharfen Hell-Dunkel-Kontrasten geprägt.
Entstehung
Durch Erfahrungen in der eigenen Kindheit lernte Munkácsy das Motiv des Kerkers und der Verurteilung bereits kennen: Als Teilnehmer der Ungarischen Revolution wurde sein Vater mit Gefängnishaft bestraft. Dies hatte für den Vierjährigen zur Folge, dass seine erwerbslose Mutter, er und seine Brüder bei seinem Onkel leben mussten.
Durch einen Besuch der Pariser Weltausstellung 1867 kam Munkácsy mit dem französischen Realismus in Berührung, insbesondere mit der Malerei von Gustave Courbet.
Ab 1868 studierte er bei Ludwig Knaus und Benjamin Vautier die Düsseldorfer Genremalerei. Deren psychologisierende Darstellung von Typen unterschiedlichen Alters und Charakters, die in der Tradition der Malerei von Johann Peter Hasenclever steht und etwa in Vautiers Gemälde Dorfkirche mit Andächtigen zum Ausdruck kommt, übernahm er in seiner Gefängnisszene. Das Motiv, an dem er gegen den ausdrücklichen Rat und die anfängliche Skepsis von Knaus arbeitete, wurde in Studien sorgfältig entwickelt. Um die Figuren möglichst originalgetreu darzustellen, ließ er sich Volkstrachten aus der Gegend der ungarischen Stadt Békéscsaba kommen. Zur Erarbeitung der Komposition und des Ausdrucks der Figuren kam auch das Mittel der Fotografie von Aktmodellen, die in lebenden Bildern abgelichtet wurden, zum Einsatz.[1]
Provenienz und Rezeption
Das Gemälde wurde auf dem Salon de Paris des Jahres 1870 ausgestellt und dort mit einer Goldmedaille ausgezeichnet, wodurch Munkácsy auf einen Schlag berühmt wurde. Das Pariser Kunstpublikum soll sich vor dem Bild gedrängt haben. Durch den Bildtitel wurde es an den bekannten gleichnamigen Roman von Victor Hugo erinnert.[2] Vielfach wurde das Motiv als exotische Schilderung ungarischen Volkslebens rezipiert und der Verurteilte als Repräsentant eines ungarischen Nationalcharakters. Théophile Gautier und Jules-Antoine Castagnary, führende Kritiker der Zeit, waren von dem Gemälde besonders begeistert, weil sie darin das Engagement des Malers für einen der Öffentlichkeit unbekannten Menschen sahen.
Munkácsy verkaufte das Bild – noch vor der Ausstellung im Salon – an den US-amerikanischen Geschäftsmann und Kunstsammler William P. Wilstach (≈1816–1870) aus Philadelphia, der dabei seinerseits der Empfehlung eines Künstlers aus Baltimore folgte, welcher auf Munkácsys Talent aufmerksam geworden war.[3][4] Zur öffentlichen Ausstellung gelangte es im Philadelphia Museum of Art, wo es 1946 noch hing.[5] Der Kunsthändler Charles Sedelmeyer ließ davon durch Paul Jonnard (1840–1902) einen Holzstich fertigen.[6] Als bedeutendes Werk der ungarischen Genremalerei des 19. Jahrhunderts wurde das Gemälde 1965 von der Ungarischen Nationalgalerie erworben. Seither ist es dort permanent ausgestellt.
Von dem Werk existieren zahlreiche Vorarbeiten und Varianten, eine davon in der Sammlung des Von der Heydt-Museums Wuppertal. Um 1872 malte Munkácsy das Bild in einer überarbeiteten Komposition mit nur zwei Figuren, dem Verurteilten und seinem Bewacher.[7] 1883 schuf Ludwig Lanckow eine Kopie der 1. Fassung.[8]
Literatur
- Lajos Végvári: Munkácsy Mihály élete és művei (Das Leben und Werk von Michály Munkácsy). Budapest 1958.
- Uta Laxner-Gerlach: Von-der-Heydt-Museum Wuppertal. Katalog der Gemälde des 19. Jahrhunderts. Wuppertal 1974, Nr. 125.
- Der letzte Tag eines zum Tode Verurteilten. In: Wend von Kalnein: Die Düsseldorfer Malerschule. Verlag Philipp von Zabern, Mainz 1979, ISBN 3-8053-0409-9, S. 411 f., Katalog-Nr. 175.
Weblinks
- The Condemned Cell I, Datenblatt im Portal en.mng.hu
- The Condemned Cell I., Bildbeschreibung im Portal hu.museum-digital.org
Einzelnachweise
- András Székely: Mihály Munkácsy. Berlin 1977, 9
- Alida Graveraet Ratcliffe: Schools and Masters of Paintings. D. Appleton and Company, New York 1895, S. 434 (Google Books)
- Martin Gammon: Deaccessioning and Its Discontents. A Critical History. The MIT Press, Cambridge/Massachusetts 2018, ISBN 978-0-2620-3758-7, S. 161, 389 f., Fußnoten 15, 16, 18, 20, 21 (Google Books)
- Alfred Trumble (Hrsg.): Art Collector, 4, Nr. 17 (1893), S. 262
- Art: Old Favorites. In: Time, Ausgabe vom 8. Juli 1946
- A man condemned to death visited by his family in his prison cell on the day of his execution. Wood engraving by P. Jonnard after M. Munkácsy. Datenblatt im Portal wellcomecollection.org, abgerufen am 23. August 2021
- Munkázcsy Mihály: Sizalomház, Webseite im Portal mek.oszk.hu, abgerufen am 23. August 2021
- Der letzte Tag des Verurteilten, Datenblatt im Portal akg-images.co.uk, abgerufen am 22. August 2021