Chronotopos
Chronotopos (griech. chrónos = Zeit; tópos = Ort) ist ein von dem russischen Literaturwissenschaftler Michail Bachtin eingeführter Begriff der Erzähltheorie und der Dramen-Analyse. Chronotopoi charakterisieren den Zusammenhang zwischen dem Ort und dem Zeitverlauf einer Erzählung.
Definition
Die Strukturierungen von Raum und Zeit in einer Erzählung bilden nach Bachtin einen wechselseitigen und untrennbaren Zusammenhang. Sie durchdringen sich gegenseitig, indem der Raum die chronologische Bewegung der Erzählung gliedert und dimensioniert und umgekehrt die Zeit den Raum mit Sinn erfüllt. Der Chronotopos ist also eine Art „Raumzeit-Gesetzlichkeit“, die die Bedingungen der Möglichkeiten der Erzählung festlegt: er bildet gewissermaßen die „Weltordnung“ einer Erzählung, ihr internes Orientierungssystem in Zeit und Raum und zugleich das Orientierungs- und Wahrnehmungsmuster ihrer Figuren (Deixis).
Die Analyse einer Erzählung nach Chronotopoi fragt also nach dem Wo und Wann und deren symbolischer oder sinnhafter Beziehung. Fragen, die eine solche Untersuchung stellen könnte, sind zum Beispiel:
- Welche Schauplätze werden gewählt? Wie werden sie erzählerisch erschlossen?
- Wie behandelt die Erzählung den Raum – durch Reisen, Kreisbewegungen, Stillstand?
- Wie verhält sich die Charakterisierung der Figuren zu ihrer Bewegung im Raum?
- Wie beziehen sich die Abfolge der Ereignisse, die Beobachtungen der Figuren und ihre Bewegungen im Raum aufeinander?
Die Gestaltung der Schauplätze und der Zeit einer Erzählung ist vor allem ein wichtiges Element der Charakterisierung von handelnden Personen und der Darstellung eines Weltbildes. Räume in einer Erzählung sind nicht zufällig, sondern symbolisch, ebenso Raumbeziehungen wie Blicke, Bewegungen, Architektur, Reisen usw. Der Zusammenhang von Raum und Zeit konstituiert somit den Handlungsverlauf und die Handlungsmöglichkeiten der Figuren.
Der Chronotopos einer Erzählung ist also einerseits eine Art „Landkarte“, andererseits eine Art „Zeitstrahl“, wobei Elemente beider Dimensionen auf eine Weise miteinander verknüpft sind, die für bestimmte literarische Gattungen typisch ist: Chronotopos des barocken Schelmenromans ist die Verkehrte Welt; Abenteuerromane wiederum dehnen oder raffen den Raum, machen ihn zu einer flexiblen Repräsentationsform, während biografische Romane sich eher an zeitlich-räumliche Gegebenheiten in der Welt halten müssen.
In der Erzählforschung werden häufig auch bestimmte symbolhafte Orte, die konventionalisierte Funktionen haben, als Chronotopoi bezeichnet. Das können etwa sein: die Schwelle, das Tor (Begegnung, Abschied), das Gericht (Festlegung, Richtigkeit, Urteil), der Weg (Leben, Reise, Reifung), die Heimat, das Exil, die Landschaft, der Tatort, der Fluss, die Insel, das Schiff, der Leuchtturm, die Stadt, die Festung, das Haus, die Bühne usw. Sie alle kündigen dem Leser durch ihre Konventionalisierung bereits gewisse Oppositionen und Verläufe innerhalb der Handlung an; sie lenken Handlung und Zeit; sie werden zu sinntragenden und sinnstrukturierenden Elementen.
Siehe auch: Heterotopie
Literatur
Primärliteratur
Der 1975 in Moskau erstmals erschienene, grundlegende Text von Michail M. Bachtin liegt in der Übersetzung von Michael Dewey in drei deutschen Ausgaben vor:
- Michail M. Bachtin: Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik, in: Untersuchungen zur Poetik und Theorie des Romans. Hrsg. von Edwald Kowalski und Michael Wegner. Aufbau-Verlag, Berlin und Weimar 1986
- Michail M. Bachtin: Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik. Hrsg. von Edwald Kowalski und Michael Wegner. Fischer, Frankfurt am Main 1989, ISBN 3-596-27418-4
- Michail M. Bachtin: Chronotopos. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2008, ISBN 978-3-518-29479-6
Literatur über Bachtins Konzept
- Nele Bemong u. a.: Bakhtin’s Theory of the Literary Chronotope: Reflections, Applications, Perspectives. Academia Press, Gent 2010, ISBN 9789038215631.
- Michael C. Frank, Kirsten Mahlke: Nachwort zu Michail M. Bachtin: Chronotopos. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2008, ISBN 978-3-518-29479-6, S. 201–242
- Michael Wegner: Die Zeit im Raum. Zur Chronotopostheorie Michail Bachtins. In: Weimarer Beiträge, 35.8 (1989), S. 1357–1367
Anwendung
- Miriam Lay Brander: Raum-Zeiten im Umbruch. Erzählen und Zeigen im Sevilla der Frühen Neuzeit. Transcript, Bielefeld 2011, ISBN 978-3-8376-1759-7
- Werner Brück: Wie erzählt Poussin? Proben zur Anwendbarkeit poetologischer Begriffe aus Literatur- und Theaterwissenschaft auf Werke der bildenden Kunst. Versuch einer Wechselseitigen Erhellung der Künste. Saarbrücken/ Norderstedt, 2014, ISBN 978-3-7357-7877-2.
- Christoph Grube: Chronotopos und intertextuelle Struktur. Zur Zeitgestaltung in Eichendorffs „Aus dem Leben eines Taugenichts“ unter Rekurs auf das Volksbuch „Die schöne Magelona“, in: Markus May, Tanja Rudtke (Hrsg.): Bachtin im Dialog. Festschrift für Jürgen Lehmann. Winter, Heidelberg 2006, ISBN 3-8253-5279-X, S. 315–333
- Timo Müller: Notes Toward an Ecological Conception of Bakhtin’s ‘Chronotope’, in: Ecozon@: European Journal of Literature, Culture and Environment 1.1 (2010) (Volltext)
- Uwe Spörl: Die Chronotopoi des Kriminalromans, in: Markus May, Tanja Rudtke (Hrsg.): Bachtin im Dialog. Festschrift für Jürgen Lehmann. Winter, Heidelberg 2006, ISBN 3-8253-5279-X, S. 335–363 (Volltext)