Artikel 139 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland
Artikel 139 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, kurz Art. 139 GG ist eine Vorschrift in den Übergangs- und Schlussbestimmungen des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland.
Sie lautet:
Die zur „Befreiung des deutschen Volkes vom Nationalsozialismus und Militarismus“ erlassenen Rechtsvorschriften werden von den Bestimmungen dieses Grundgesetzes nicht berührt.
In folgenden Landesverfassungen gibt es entsprechende Bestimmungen: Art. 184 BayVerf.,[1] Art. 98 BerlVerf.,[2] Art. 154 BremVerf.,[3] Art. 158 HessVerf.[4] und Art. 140 RhPfVerf.[5]
Bedeutung
Bei Inkrafttreten des Grundgesetzes mit Ablauf des 23. Mai 1949 bestand die Bedeutung des Art. 139 GG vor allem darin, dass die zur „Befreiung des deutschen Volkes vom Nationalsozialismus und Militarismus“ erlassenen Rechtsvorschriften nicht mit den Grundrechten des Grundgesetzes vereinbar zu sein brauchten und daher weitergelten konnten. Zugleich konnten die aufgrund der betreffenden Rechtsvorschriften ergangenen Spruchkammerentscheidungen nicht mit der Verfassungsbeschwerde angefochten werden.[6] Gemeint waren die deutschen, landesrechtlichen Ausführungsgesetze, deren Grundlage die 1946 erlassenen Kontrollratsdirektiven Nr. 24[7] und Nr. 38 waren wie das Befreiungsgesetz des Länderrats des amerikanischen Besatzungsgebietes vom 5. März 1946.[8]
Nach den Entnazifizierungsgesetzen war es beispielsweise möglich, ein bereits abgeschlossenes Spruchkammerverfahren wegen einer Betätigung im „Dritten Reich“ auch zu Ungunsten der betreffenden Person wiederaufzunehmen, obwohl das Grundgesetz in Art. 103 Abs. 3 GG eine Mehrfachbestrafung wegen derselben Tat ausdrücklich verbietet.[9] Nationalsozialistisch Belastete im Sinne der Kontrollratsdirektive Nr. 38 wie Aktivisten, Militaristen und Nutznießer sollten sich aber nicht auf die Grundrechte des Grundgesetzes berufen können.
Seit Abschluss der Entnazifizierung ist umstritten, ob Art. 139 GG überhaupt noch einen Anwendungsbereich hat. Manche meinen, als „Sondervorschrift nach Rechts“ verpflichte sie die streitbare Demokratie zum konsequenten Vorgehen gegen den Neonazismus.[10] Die herrschende Meinung lehnt das allerdings ab, nicht zuletzt aufgrund der GG-Kommentierung von Theodor Maunz und seines Schülers Roman Herzog.[11]
Literatur
- Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes, im Auftrage der Abwicklungsstelle des Parlamentarischen Rates und des Bundesministers des Innern auf Grund der Verhandlungen des Parlamentarischen Rates. JöR Neue Folge Band 1 (1951), S. 897 ff.
- C. Pawlita, F. Steinmeier: Bemerkungen zu Art. 139 GG – Eine antifaschistische Grundsatznorm? DuR 1980, S. 393.
- Gertrude Lübbe-Wolff: Zur Bedeutung des Art. 139 GG für die Auseinandersetzung mit neonazistischen Gruppen. NJW 1988, S. 1289.
Einzelnachweise
- Art. 184 BV
- Verfassung von Berlin – Abschnitt IX: Übergangs- und Schlussbestimmungen Website der Senatskanzlei, abgerufen am 7. November 2019.
- außer Kraft getreten mit dem 31. Dezember 1948, Landesverfassung der Freien Hansestadt Bremen Website der Bremischen Bürgerschaft, abgerufen am 7. November 2019.
- Art. 158 der Verfassung des Landes Hessen vom 1. Dezember 1946
- Verfassung für Rheinland-Pfalz vom 18. Mai 1947
- Vgl. BVerfG, Beschluss vom 27. September 1951 – 1 BvR 70/51.
- Kontrollratsdirektive Nr. 24: Entfernung von Nationalsozialisten und Personen, die den Bestrebungen der Alliierten feindlich gegenüberstehen, aus Ämtern und verantwortlichen Stellungen vom 12. Januar 1946. verfassungen.de, abgerufen am 7. November 2019.
- Gesetz Nr. 104 zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus vom 5. März 1946, verfassungen.de, abgerufen am 7. November 2019.
- Vgl. Entnazifizierung: Das doppelte Urteil, Der Spiegel, 4. September 1957.
- Vgl. Lars Winkler: Wo kein Wille ist, ist auch kein Weg. Über den leichtfertigen Umgang mit Art 139 GG, Website arbeitskreis kritischer jurist*innen an der Humboldt-Universität zu Berlin, abgerufen am 7. November 2019.
- Vgl. Otto Köhler: Stumpf gegen rechts? Roman Herzog und der Artikel 139 des Grundgesetzes, der Freitag, 4. Februar 2005.