Aggressionshemmung
Die Aggressionshemmung ist eine friedliche Reaktion eines Tieres oder eines Menschen auf Verhaltenssignale oder Merkmale eines anderen wie beispielsweise das Kindchenschema. Dass durch äußere Merkmale oder Verhaltenssignale eine Aggressionshemmung bewirkt werden kann, bedeutet nicht, dass diese Schutzmechanismen in jedem Falle wirksam sind. Sie sind ein Teil der intraspezifischen und interspezifischen Kommunikation, dienen der Erhaltung der seelischen und körperlichen Unversehrtheit des Individuums durch Verhinderung eines Angriffs oder auch Beendigung eines Kampfes und somit letztlich auch der Arterhaltung. Wenn ein Individuum bereits angegriffen wurde und daraufhin Signale aussendet, die beim Angreifer eine Aggressionshemmung auslösen, handelt es sich um eine Feedback-Hemmung im Verhalten. Es gibt aber auch Signale, die eine aggressive Stimmung vorsorglich verhindern.
Bedeutung bei den Interaktionspartnern
Bei den Beschwichtigungssignalen unterscheidet man zwischen den Signalen eines Unterlegenen, die die Aggression eines überlegenen Artgenossen dämpfen sollen einerseits, und den von einem überlegenen Artgenossen ausgehenden Signalen, die einem unterlegenen friedliche Absichten vermitteln und ihn beruhigen sollen andererseits.[1][2][3]
Merkmale und Verhaltensweisen
Die Beschwichtigungssignale können akustische und mimische Signale sein, Ausdrucksbewegungen oder auch Duftsignale. Beim Ausdrucksverhalten handelt es sich oft um ritualisiertes Verhalten. Beschwichtigungsgebärden entstammen häufig dem Funktionskreis des kindlichen Verhaltens (siehe auch Kindchenschema), der Körperpflege oder des sexuellen Verhaltens. Schimpansen leiten eine Versöhnung ein, indem sie dem anderen die geöffnete Hand hinstrecken. Anschließend umarmen sich die Kontrahenten, um einander zu beruhigen.[4] Darauf folgt oft eine gegenseitige Fellpflege,[5] eine „soziale Putzhandlung“,[6] die ebenfalls der Beruhigung dient. Bei vielen Affenarten und Menschenaffen ist zu beobachten, dass rangniedrigere Tiere einem ranghöheren das Fell pflegen und dadurch in dessen Nähe geduldet werden. Desmond Morris beschreibt außerdem bei Schimpansen das Präsentieren des Hinterteils als ritualisierte Einladung zur Paarung, und zwar bei beiden Geschlechtern als aggressionshemmende Gebärde, die allerdings nichts mit Paarungsbereitschaft zu tun hat, sondern dem möglichen Angreifer Ergebenheit demonstriert, ihn in seiner Position in der Rangordnung bestätigt und damit beschwichtigt. Das Weibchen setzt seinen sexuellen Reiz ein, um das Männchen umzustimmen. Auch Menschen setzen manchmal künstliche Signale ein, indem sie sich für das andere Geschlecht attraktiv machen, "sexy" wirken, um eine abwehrende Haltung bei anderen Angehörigen der sozialen Gruppe abzuschwächen.[7]
Neben der sozialen Körperpflege haben auch manche Übersprunghandlungen, wie beispielsweise sich putzen oder das scheinbare Futterpicken bei Vögeln, aggressionshemmende Wirkung, die beim Balzverhalten ebenfalls eingesetzt werden.
Zu den aggressionshemmenden Signalen beim Menschen zählen auch Gesten der Verlegenheit, wie Erröten, den Blick senken, den Kopf neigen oder abwenden,[8] aber auch Weinen, Zittern, Lächeln, das Senken der Augenlider[9] und die Verbeugung als Demutsgebärde,[10] die in Japan zum Höflichkeitsverhalten gehört. Auch der Rückzug aus dem Territorium eines Gegners kann bei diesem eine Aggressionshemmung bewirken.
Wirksamkeit
Da nach dem Höchstwertdurchlassmodell verschiedene, auch gegensätzliche Verhaltensimpulse miteinander verrechnet werden und erst aus der Resultierenden das Verhalten bestimmt wird, ist die Wirksamkeit aggressionshemmender Signale noch von weiteren Faktoren abhängig.
Auftreten im Verhalten von Tieren und Menschen
Beschwichtigungssignale spielen eine Rolle beim Balzverhalten, wenn es darum geht, die Individualdistanz zu unterschreiten, beim Territorialverhalten, also auch bei der Vermeidung oder Beendigung von Kommentkämpfen. Beim Brutpflegeverhalten gibt es Beschwichtigungssignale des Jungtiers bzw. des Kindes und auch Beschwichtigungssignale der Eltern, mit denen sie das Vertrauen des Jungtieres bzw. des Kindes erhalten.
Intraspezifische und interspezifische Kommunikation
Innerhalb einer Spezies mit derselben Laut- und Körpersprache wirken die aggressionshemmenden Signale entsprechend dem Höchstwertdurchlassmodell. Zwischen Angehörigen zweier verschiedener Spezies mit unterschiedlichem Ausdrucksverhalten kann es zu Missverständnissen kommen. Beispielsweise der Ausdruck panischer Angst im Gesicht eines Menschen ist häufig mit einem Öffnen des Mundes verbunden, wodurch die Zähne sichtbar werden. Auch die Augen werden weit aufgerissen. Der menschliche Ausdruck von Angst wird von Menschen verstanden, aber aus der Sicht eines Hundes ist diese Mimik, das Zeigen der Zähne und Anstarren, ein Schlüsselreiz mit der Bedeutung einer Drohgebärde, die eine instinktive Gegenreaktion auslösen kann. Ähnliches gilt für das Lachen, ein reflexartiges Beschwichtigungssignal des Menschen, bei dem die Zähne gezeigt werden, was von einem Hund als drohendes Zähnefletschen missverstanden werden kann.[11] Das hilfesuchende Anheben der ausgebreiteten Arme, ebenfalls ein für den Menschen aggressionshemmendes Signal, das bei Kindern vorkommt,[12] z. B. wenn sie Angst vor einem Hund haben, ist in der Wahrnehmung des Hundes eine Aufforderung zum Hochspringen bzw. zum Kämpfen. So kann durch unbewusst selbst ausgelöste negative Erfahrungen eine Hundephobie entstehen, die das artspezifisch menschliche Ausdrucksverhalten noch verstärkt und somit das Risiko erhöht, tatsächlich gebissen zu werden (Selbstverstärkereffekt).
Begriffsabgrenzung
Keine Aggressionshemmung im Sinne der Verhaltensbiologie ist der beim Menschen durch kognitive Prozesse (Einsicht) mögliche Verzicht auf aggressives Verhalten, beispielsweise nach verbaler Verständigung mit dem Angegriffenen, Fürsprache durch einen Dritten oder wegen eines Verbots und Strafbarkeit. Die natürliche Aggressionshemmung ist nicht von gedanklichen Vorgängen abhängig, sondern erfolgt instinktiv, gehört also zu den angeborenen Verhaltensprogrammen, deshalb gibt es sie auch bei Tieren. Sie darf nicht mit Empathie[13] verwechselt werden. In der Psychologie wird der Begriff auch im Sinne von Schüchternheit verwendet, hat hier also eine andere Bedeutung. Beim Menschen hat in der verbalen zwischenmenschlichen Kommunikation das aktive Zuhören eine aggressionshemmende Wirkung, denn es kann zur gewaltfreien Kommunikation eingesetzt werden. Es dient der Verminderung von Missverständnissen, der friedlichen Lösung von Konflikten und der Verbesserung zwischenmenschlicher Beziehungen.[14] Das aktive Zuhören gehört jedoch nicht zu den aggressionshemmenden Signalen und Gebärden im Sinne der Verhaltensbiologie.
Unzulänglichkeiten
Die aggressionshemmenden Signale wirken nicht immer zuverlässig. „Beim Gebrauch weitreichender Waffen, deren Wirkung der Aggressor nicht mehr direkt miterleben muss, verlieren sie an Bedeutung“ (Hartmut Solbach 2000). Bei einem Mangel an Empathie und bei manchen Varianten der Psychopathie ist die Wahrnehmung der aggressionshemmenden Signale des anderen Menschen herabgesetzt oder es kommt zu Fehldeutungen durch Projektion. Beim Sadismus erfüllt sie eine gegenteilige Funktion und die artspezifische Reaktion der Hemmung geht ebenfalls verloren.
Siehe auch
Literatur
- Desmond Morris: Der nackte Affe. Droemer Knaur, München 1968, ISBN 3-426-03224-4.
- Irenäus Eibl-Eibesfeldt: Liebe und Hass. Zur Naturgeschichte elementarer Verhaltensweisen. Piper, Munchen/ Zurich 1993, ISBN 978-3-492-10113-4.
- Bernhard Hassenstein: Verhaltensbiologie des Kindes. Monsenstein & Vannerdat, Münster 2007, ISBN 978-3-938568-51-4.
- Joachim Bauer: Warum fühle ich, was Du fühlst. Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneurone. Heyne, München 2006, ISBN 978-3-453-61501-4.
Einzelnachweise
- Desmond Morris: Der nackte Affe. München 1968, S. 145 ff, 151 ff,164, 167, 190.
- Neil A. Campbell, Jane B. Reece: Biologie. Spektrum-Verlag, Heidelberg/ Berlin 2003, ISBN 3-8274-1352-4.
- Hartmut Solbach: Vita nova. Biologie für die Sekundarstufe 2. Buchner, Bamberg 2000, ISBN 3-7661-3323-3.
- H. Solbach: Vita nova. Biologie für die Sekundarstufe 2. Bamberg 2000, S. 282.
- Neil A. Campbell, Jane B. Reece: Biologie. Heidelberg/ Berlin 2003, S. 1359.
- Desmond Morris: Der nackte Affe. München 1968.
- Desmond Morris: Der nackte Affe. München 1968, Seite 82–83.
- H. Solbach: Vita nova. Biologie für die Sekundarstufe 2. Bamberg 2000, S. 289.
- Irenäus Eibl-Eibesfeldt: Liebe und Hass. Zur Naturgeschichte elementarer Verhaltensweisen. Munchen/ Zürich 1993.
- Desmond Morris: Der nackte Affe. München 1968, Seite 82.
- Angelika Bublak: Ausdrucksverhalten von Hunden (Canis familiaris) gegenüber dem Menschen in einem Verhaltenstest und Beschwichtigungssignale in der Hund-Mensch-Kommunikation München 2013
- Bernhard Hassenstein: Verhaltensbiologie des Kindes. 5., überarbeitete und erweiterte Auflage, Spektrum-Verlag, Heidelberg u. a. 2001, ISBN 3-8274-1182-3.
- Joachim Bauer: Warum fühle ich, was Du fühlst. Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneurone. München 2006.
- Thomas Gordon: Familienkonferenz - Die Lösung von Konflikten zwischen Eltern und Kind. Heyne, München 1989, ISBN 3-453-02984-4, S. 61–108.