Abstrakte Arbeit
Abstrakte Arbeit ist eine ökonomische und philosophische Kategorie, die Karl Marx (1818–1883) in seiner Kritik der politischen Ökonomie zur Begründung der Arbeitswerttheorie definiert hat.
Bedeutung
Karl Marx verwendet diese Kategorie in seiner Analyse des Wertbegriffs in warenproduzierenden Gesellschaften, in denen sich monetäre Austauschbeziehungen herausbilden, die dann die Grundlage für das Kapitalverhältnis darstellen. Nach Marx hat die menschliche Arbeit, die in Waren dargestellt ist, einen Doppelcharakter:
- Als konkret-nützliche Arbeit schafft sie Gebrauchswerte, nützliche Dienste oder Gegenstände, die menschliche Bedürfnisse befriedigen. Tischlerarbeit wäre ein Beispiel für diese Seite der Arbeit. Sie ist näher bestimmt durch die konkreten Tätigkeiten im Produktionsprozess, also Holz sägen, hämmern usw., und ist als solche in jeder historischen Produktionsform anzutreffen.
- Zudem erzeugt die Arbeit den Wert der Waren, der auf dem Markt als Tauschwert erscheint. Die wertbildende Arbeit ist begrifflich zu unterscheiden von der konkret-nützlichen Arbeit. Ein z. B. als Ware produzierter Rock hat einen Wert, durch den er gegen andere werttragende Güter austauschbar ist. Der Wert der Ware Rock stellt sich auf dem Markt als Tauschwert dar, das heißt als ein anderer Gebrauchswert, von dem Marx der Einfachheit halber voraussetzt, dass er den gleichen Wert hat, so dass ein Tausch äquivalenter Werte stattfindet.
Abstraktionsprozess der Arbeit auf dem Markt
Der Begriff der abstrakten Arbeit ist relevant, wenn Dinge oder Gegenstände für den Tausch produziert und damit zu Waren werden. Er macht deutlich, dass die Produkte durch den Arbeitsprozess nicht nur einen (höheren) Gebrauchswert, sondern auch einen Wert erhalten, der ihrem Tauschwert zugrunde liegt. In seiner Warenanalyse setzt Marx voraus, dass im Warentausch unterschiedliche Gebrauchswerte nur dann ausgetauscht werden, wenn sie den gleichen Wert haben. Eine weitere Vereinfachung besteht darin, dass gleiche Werte durch die gleiche Menge Arbeit – gemessen an der Arbeitszeit – hervorgebracht werden.[1] Die analytische Unterscheidung von Wert und Gebrauchswert hat Konsequenzen, die vom Standpunkt des Alltagsbewusstseins paradox erscheinen. So wirkt sich eine Verdoppelung der Arbeitsproduktivität zwar verdoppelnd auf die Gebrauchswertmenge aus, aber der insgesamt durch die abstrakte Arbeit neu geschaffene Wert bleibt gleich. Selbst wenn also Arbeit von z. B. zwei Stunden durch allgemein gesteigerte Produktivität die doppelte Menge an Produkten, also an Gebrauchswerten, zustande bringt, vielleicht zehn Hosen, wo die Näherin vor der Produktivitätssteigerung nur fünf hergestellt hat, bleibt der in diesen zwei Stunden geschaffene Wert im Warenaustausch gleich. Eine weitere Konsequenz der Abstraktion von der konkreten Art der Arbeit ist: Der Wert des einzelnen Stück Gebrauchswertes – der Hose in diesem Beispiel – ist proportional gesunken, da sich der neu geschaffene Wert auf eine größere Stückzahl verteilt.
Diese nicht nur gedankliche, sondern in der Realität stattfindende Abstraktion[2] findet immer dann statt, wenn Produkte menschlicher Arbeit auf einem Markt einen Tauschwert erhalten, der ihren Wert ausdrückt. Die auf dem Markt zu erzielenden konkreten Kaufpreise schwanken je nach Angebot und Nachfrage um den Warenwert. Die Existenz der wertbildenden abstrakten Arbeit und des Werts ergibt sich u. a. daraus, dass eine sich ständig wiederholende einseitige Abweichung von einem Tausch etwa wertgleicher Waren (Äquivalententausch) zum Ruin eines der beiden Handelspartner führt. Diese These kann nicht einfach dadurch widerlegt werden, dass es unterschiedliche Arbeitsintensitäten, unterschiedliche Qualifikationen und Produktivitäten gibt. Bezogen auf „einfache Durchschnittsarbeit“,[3] erzeugt die kompliziertere Arbeit mehr Mert in der gleichen Arbeitszeit; überdurchschnittlich oder unterdurchschnittlich intensive Arbeiten beziehen sich auf den Durchschnitt einer qualitativ bestimmten Arbeit und schlagen sich in einem größeren oder kleineren Wertprodukt im Vergleich zur Duchschnittsarbeit nieder. Dagegen betrifft die Produktivität die Menge der insgesamt erzeugten Güter, nicht aber den während der Arbeitszeit insgesamt erzeugten Wert. Allerdings verringert sich der Wert einer einzelnen Ware, wenn die Produktivität steigt, da sich der insgesamt erzeugte Wert auf eine größere Menge an Produkten verteilt. Die Abstraktion von der tatsächlich geleisteten konkreten Arbeit ist überall dort möglich, wo voneinander unabhängige Privatarbeiter für den Markt produzieren.
Verhältnis von konkret-nützlicher und abstrakter Arbeit
Man kann in einer Gesellschaft, in der Menschen unterschiedliche Arbeit leisten, die Arbeit unter zwei Aspekten betrachten. Einerseits handelt es sich um eine konkrete Tätigkeit, durch die der Gebrauchswert der bearbeiteten Dinge erhöht wird. Andererseits wird menschliche Arbeitskraft angewendet und verausgabt. Unter letzterem Aspekt kommt die abstrakte Arbeit als allgemeine Eigenschaft einer jeden nützlichen Tätigkeit in den Blick. Diese „allgemeine Eigenschaft menschlicher Arbeit“ hat zunächst noch nichts mit „Wertproduktion“[4] zu tun, daher auch noch nichts mit der historisch spezifischen Weise, in der die einzelnen nützlichen Tätigkeiten ihre gesellschaftlich allgemein anerkannte Form gemäß der vorherrschenden Produktionsweise erhalten. So besitzen die einzelnen nützlichen Tätigkeiten zum Beispiel in einer vorkapitalistischen Gesellschaft ohne Warenhandel ihre allgemeine, gesellschaftlich anerkannte Form gerade in ihrer Naturalform, die als konkret-nützlich Arbeit ausgeübt wird. Dies liegt daran, dass der gesellschaftliche Zusammenhang der konkret-nützlichen Arbeit vorausgesetzt ist, so dass durch diesen bedingt, die einzelnen nützlichen Tätigkeiten schon vor ihrer praktischen Ausübung gesellschaftlich anerkannt sind. Dies geschieht nach Marx natürlich für die Menschen auf so unbewusste Weise, wie ihnen ihr gesellschaftlicher Zusammenhang unbewusst ist.
Bedeutung im Kapitalismus
Mit der marktwirtschaftlichen Warenzirkulation, wie sie als allgemein vorherrschende abstrakte Sphäre des kapitalistischen Reproduktionsprozesses existiert, ist ein historisch spezifischer gesellschaftlicher Zusammenhang gegeben, der die gesellschaftlichen Produktions- und Austauschbeziehungen auf die Arbeitsprodukte projiziert. Die Produktion erfolgt arbeitsteilig und durch unabhängig voneinander agierende Produzenten, die ihre Produkte auf dem Markt austauschen, um ihre vielseitigen Bedürfnisse und den vielseitigen Bedarf ihrer Produktion zu befriedigen. Die Arbeitsprodukte werden zu Waren. Die Arbeit, die zu ihrer Herstellung erforderlich ist, reflektiert sich im Wert der Waren. Der Wert der Waren bestimmt ihren Tauschwert und damit das Austauschverhältnis. Marx' Analyse der verschiedenen Möglichkeiten, den Wert auf dem Markt auszudrücken – seine Wertformanalyse – hat das Ziel, die Entstehung des Geldes aus dem Warenaustausch heraus zu erklären. Da die Menschen in der kapitalistischen Gesellschaft die Arbeitsprodukte als Waren auf dem Markt austauschen, entscheidet dieser Austausch auch auf einfachste Weise darüber, in welcher Form konkret-nützliche Arbeit ihren gesellschaftlich anerkannten, allgemeinen Charakter erhält. Der Warentausch beruht auf einer gesellschaftlichen Gleichheitsbeziehung, worin die Arbeitsprodukte und die unterschiedlichen, in ihnen vergegenständlichten nützlichen Tätigkeiten in der Hinsicht gleichgesetzt und aufeinander bezogen werden, in der sie die gleiche Menge abstrakter Arbeit verkörpern. Das in den verschiedenen nützlichen Tätigkeiten enthaltene Gleiche, die ihnen gemeinsame „allgemeine Eigenschaft menschlicher Arbeit“[5], erhält durch die Beziehung der Arbeitsprodukte aufeinander beim Warentausch eine gesellschaftliche Bedeutung. Damit wird der Wert und die abstrakte Arbeit zur gesellschaftlich allgemein anerkannten Form für die Bewertung unterschiedlicher Gebrauchswerte und der zugrunde liegenden konkret-nützlichen Arbeit. Unter dem Aspekt der „Wertproduktion“ erhält die Arbeit nach Marx durch die Austauschbeziehung der Arbeitsprodukte die allgemeine Eigenschaft, als abstrakte Arbeit gesellschaftlich Wert bildend zu sein.
Doppelcharakter der Arbeit
Im Kapital heißt es: „Alle Arbeit ist einerseits Verausgabung menschlicher Arbeitskraft im physiologischen Sinn, und in dieser Eigenschaft gleicher menschlicher oder abstrakt menschlicher Arbeit bildet sie den Warenwert. Alle Arbeit ist andrerseits Verausgabung menschlicher Arbeitskraft in besonderer zweckbestimmter Form, und in dieser Eigenschaft konkreter nützlicher Arbeit produziert sie Gebrauchswerte.“[6] Das ist Marx' Beschreibung des Doppelcharakters der Arbeit, einerseits Verausgabung von Arbeitskraft „im physiologischen Sinn“, und andererseits nützliche Tätigkeit zu sein, die Gebrauchswerte schafft. In beiden Fällen wird ein- und dasselbe Objekt – die menschliche Arbeit – betrachtet, aber unter verschiedenen Gesichtspunkten. Im Fall der abstrakten Arbeit gerät die physiologische Verausgabung der Arbeitskraft durch den Einsatz von Nerven, Hirn, Muskeln und Hand in den Blick, unter dem Aspekt der konkreten Arbeit wird thematisiert, dass Gebrauchswerte mit „in zweckbestimmter Form“ verausgabter, nützlicher Arbeit hergestellt werden. Unter den Bedingungen der Warenproduktion erfährt die abstrakte Arbeit die Bedeutung, den Arbeitsprodukten die „allgemeine Eigenschaft“[7] zu verleihen, austauschbar zu sein und zwar in dem Maße, wie Arbeit in den Waren vergegenständlicht worden ist.
Mit Hilfe der These vom Doppelcharakter der Arbeit erklärt Marx, wie Werte in einem kapitalistischen Produktionsprozess zustande kommen. Unter physischem Gesichtspunkt betrachtet treten in diesem Prozess Arbeit und Kapital in Wechselwirkung, um Vorprodukte und Rohmaterialien (Arbeitsgegenstände) mit Hilfe von Maschinen und Werkzeuge (Arbeitsmittel) in neue Produkte zu verwandeln. Der Wert der Produkte (Produktenwert) setzt sich aus dem neu geschaffenen Wert (das Wertprodukt) und dem von den Produktionsmitteln (Arbeitsgegenstände und Arbeitsmittel) auf das Produkt übertragenen Wert (das konstante Kapital) zusammen. Das Wertprodukt entsteht durch die lebendige Arbeit, insofern sie als abstrakte Arbeit betrachtet wird; dagegen überträgt die lebendige Arbeit, insofern die als konkrete, nützliche Arbeit betrachtet wird, den Wert der Produktionsmittel auf das Produkt. Ein Teil des Wertprodukts dient dazu, die Lohnsumme zu ersetzen (variables Kapital), der andere Teil ist der Mehrwert. Der Wert des Produktes ist demnach W = v + m + c.
Literatur
Leicht verständlich erklärt im Kapitel 3.3 „Abstrakte Arbeit: Realabstraktion und Geltungsverhältnis“ in
- Michael Heinrich: Kritik der politischen Ökonomie. Eine Einführung, theorie.org, 2004, online.
- Alfred Sohn-Rethel: Warenform und Denkform. Mit zwei Anhängen [incl. Dissertation]. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1978
- Alfred Sohn-Rethel: Geistige und körperliche Arbeit. Zur Epistemologie der abendländischen Geschichte. [1970] Rev. u. erg. Neuaufl. Weinheim: VCH 1989 ISBN 3-05-003970-1.
- Alfred Sohn-Rethel: Das Geld, die bare Münze des Apriori. Berlin: Wagenbach 1990 ISBN 3-8031-5127-9
- Dieter Wolf: Abstrakte Arbeit als gesellschaftlich allgemeine Form der konkret nützlichen Arbeiten in: Kritische Theorie und Kritik der Politischen Ökonomie. Teil B, Abschnitt I, Zur Konfusion des Wertbegriffs. Wissenschaftliche Mitteilungen. Heft 3. Argument Verlag, Hamburg, 2004. ISBN 3-88619-651-8 online (PDF; 1,2 MB)
- Redaktion GegenStandpunkt: „Ein bisschen Grundsätzliches über Geld und Gewalt, Kredit und Krise, Währung und Gold“, Antwort auf einen Leserbrief zum Artikel „Der Kampf der Nationen um den Reichtum der Welt“, Grundlagentext zum Wertbegriff des Gegenstandpunkts in GegenStandpunkt 1-01.
- Ingo Elbe, Tobias Reichardt, Dieter Wolf: Gesellschaftliche Praxis und ihre wissenschaftliche Darstellung. Beiträge zur Kapital-Diskussion Wissenschaftliche Mitteilungen. Heft 6. Argument Verlag, Hamburg, 2008. ISBN 978-3-88619-655-5.
- Dieter Wolf: Wert und abstrakt menschliche Arbeit in den „Grundrissen“ und im Kapital, Marx` Verständnis des Werts und der abstrakt menschlichen Arbeit in den „Grundrissen“ auf der Abstraktionsebene der Warenzirkulation „als erster in sich gegliederter Totalität“ online (PDF; 591 kB)
Weblinks
- Abstrakte Arbeit im Marx-Lexikon des marx-forum.de
- Michael Heinrich: Abstrakte Arbeit, in: Wolfgang Fritz Haug (Hrsg.), Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, Bd. 1, Hamburg: Argument Verlag 1994, Sp. 51–64.
- Dieter Wolf: Abstrakte Arbeit als gesellschaftlich allgemeine Form der einzelnen konkret nützlichen Arbeiten (PDF; 94 kB)
- Dieter Wolf: Marx’ Verständnis des Werts und der abstrakt menschlichen Arbeit in den „Grundrissen“ (PDF; 591 kB)
Anmerkungen
- Vorausgesetzt ist, dass den verglichenen Waren einfache Durchschnittsarbeit zugrunde liegt bzw. allgemeiner formuliert: den Waren liegen zwar qualitativ verschiedene Arbeitsprozesse zugrunde, die aber den gleichen Kompliziertheitsgrad haben. Vgl. Georg Quaas: Die ökonomische Theorie von Karl Marx. Marburg 2016, S. 72 ff.
- Was die „Real-Abstraktion“ anbelangt, zeigt sich, dass das reale Gleichsetzen als gleiche „allgemeine Eigenschaft menschlicher Arbeit“ (abstrakte Arbeit) auch die Abstraktion von allen konkret nützlichen Formen bedeutet. Was auf diese Weise in den gesellschaftlichen Beziehungen der Arbeitsprodukte und Menschen zueinander vor sich geht, vollzieht Marx in gedanklichen Abstraktionen nach.
- Auf das mit der gesellschaftlichen Quantität des Werts angesprochene Problem der „einfachen Durchschnittsarbeit“, bei dem es als Resultat eines gesamtgesellschaftlichen, auch die Konkurrenz des Kapitals einschließenden und die Produktivkraftentwicklung beeinflussenden Prozess geht, soll hier nicht eingegangen werden. Nur so viel hier dazu: „einfache Arbeit“ darf nicht mit abstrakter Arbeit verwechselt werden, die als gesellschaftlich allgemeine Form der einzelnen konkret nützlichen Arbeiten niemals – wie die einfache Arbeit – irgendeine Ausprägung konkret-nützlicher Arbeit sein kann. Auszug aus dem Artikel Qualität und Quantität des Werts Makroökonomischer Ausblick auf den Zusammenhang von Warenzirkulation und Produktion (Memento vom 27. September 2007 im Internet Archive) (PDF; 65 kB). Zur abstrakten Arbeit siehe ausführlicher: Reichelts „objektiver aufaddierbarer Wert“. Ein unlösbares makroökonomisches Problem (Memento vom 20. Oktober 2013 im Internet Archive) (PDF; 127 kB).
- Karl Marx: Das Kapital. Band 1, MEW, 23 S. 72
- Karl Marx: Das Kapital. Band 1, MEW 23, S. 72
- Karl Marx: Das Kapital. Band 1, MEW 23, S. 61
- Karl Marx: Das Kapital. Band 1, MEW 23, S. 72