Éva Fahidi
Éva Pusztai-Fahidi (geboren 22. Oktober 1925 in Debrecen) ist eine ungarische Zeitzeugin der Shoa (des Holocaust). Ihre Familie wurde 1944 in das KZ Auschwitz-Birkenau deportiert und dort ermordet. Als einziges Familienmitglied wurde sie zur Zwangsarbeit in einem Außenlager des KZ Buchenwald im heutigen Stadtallendorf in Hessen ausgewählt und überlebte.
Seit 1990 besucht sie Deutschland regelmäßig für Vorträge und Zeugenaussagen in NS-Prozessen. Im Jahr 2004 schrieb sie einen Bericht über das Erlebte.
NS-Zeit
Éva Fahidi wuchs in einer großbürgerlichen ungarischen jüdischen Familie in Debrecen auf. 1936 konvertierte ihre Familie zum Katholizismus.[1]
Am 29. April 1944 nahm die ungarische Gendarmerie, die mit dem Eichmann-Kommando zusammenarbeitete, die damals 18-Jährige mit ihren Eltern Irma und Dezső Fahidi und ihrer zehnjährigen Schwester Gilike fest und sperrte die Familie mit den anderen Juden der Stadt in ein neu errichtetes Ghetto. Am 14. Mai 1944 wurden sie in das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau deportiert. Ihre Mutter und ihre Schwester wurden direkt nach der Ankunft auf der Rampe von dem SS-Arzt Josef Mengele für die Gaskammer selektiert und dort ermordet. Ihr Vater starb an den unmenschlichen Haftbedingungen. Sie selbst wurde nach sechs Wochen in das zum KZ Buchenwald gehörige KZ-Außenlager Münchmühle überstellt, wo sie 12 Stunden täglich für die Sprengstoffwerke Allendorf und Herrenwald Zwangsarbeit leisten musste. Bei Kriegsende 1945 konnte sie bei einem Todesmarsch entkommen.[2]
Nachkriegszeit
Nach einer monatelangen Irrfahrt als displaced Person kehrte Éva Fahidi am 4. November 1945 nach Debrecen zurück. Ihr Elternhaus hatten andere Menschen in Beschlag genommen und verweigerten ihr den Zutritt. Sie war auf sich gestellt.
In der Volksrepublik Ungarn passte sich Fahidi der Erwartung des Regimes an und sprach nicht öffentlich über ihre Erlebnisse in der NS-Zeit. Sie schloss sich den ungarischen Kommunisten an und erhoffte sich eine bessere Gesellschaft. Jedoch ließ das Regime ihr geerbtes Grundeigentum wegen ihrer bürgerlichen Herkunft enteignen. Sie arbeitete als Industrieangestellte und stieg dank ihrer französischen Sprachkenntnisse zur Außenbeauftragten des ungarischen Stahlkombinats auf. Sie heiratete und lebte seither unter dem Familiennamen Pusztai-Fahidi unauffällig in Budapest. Dabei vermied sie Begegnungen mit Deutschen. Sie wollte niemals mehr die Sprache der Täter sprechen, las aber weiterhin Werke deutscher Autoren.[2]
Zeugin der Shoa
1989 veröffentlichte die Verwaltung von Stadtallendorf in ungarischen Zeitungen eine Suchanzeige nach ehemaligen Häftlingen des Außenlagers Münchmühle. Fahidi ließ sich überreden, als Übersetzerin mit nach Deutschland zu fahren. Im Oktober 1990 nahm sie an einer Begegnungswoche in Stadtallendorf teil, bei der Kommunalvertreter die ehemaligen Häftlinge um Verzeihung baten. Seitdem besucht sie den Ort regelmäßig, hält Vorträge, gibt Interviews, befragt andere Zeitzeugen und führt Schulklassen durch die Gedenkstätte. Dort sind unter anderem Kleidungsstücke von ihr und ihrer Schwester aus ihrer Häftlingszeit ausgestellt.[2]
Im Juli 2003, am genauen Jahrestag ihrer Ankunft 1944, besuchte sie auch die Gedenkstätten des Vernichtungslagers Auschwitz. Seitdem spricht sie dort regelmäßig vor Gruppen in der Jugendbegegnungsstätte in Oswiecim. Nach ihrer Aussage wurde das Erzählen der Schrecken, die sie dort erlebte und über die sie bis 2003 geschwiegen hatte, eine Form der Trauma-Verarbeitung: „Für mich ist das wirklich eine Erlösung, dass ich jetzt davon so viel reden kann, wie ich nur will… Sonst würde ich verrückt werden.“[3][4] Seitdem schrieb sie ihre Erinnerungen auf. Das Buch Anima rerum wurde 2004 zunächst in einer deutschen Übersetzung herausgegeben und 2011 erneut aufgelegt.
2011 erklärte sich Fahidi bereit, als Zeugin der Nebenklage in den Strafprozessen gegen die ehemaligen KZ-Aufseher Hans Lipschis und Johann Breyer auszusagen. Beide waren 1944 in einem Sturmbann der SS-Totenkopfverbände in Auschwitz-Birkenau an der Ermordung der ungarischen Juden beteiligt, möglicherweise auch bei der Selektion der Familie Fahidi. Dabei ging es ihr nach eigener Aussage nicht um die Bestrafung der Täter, sondern um das öffentliche Bezeugen ihrer Geschichte.[2]
2015 war Fahidi Nebenklägerin beim Prozess gegen Oskar Gröning und nahm am Prozess teil.[5] Seit 2015 tritt sie in einem Tanztheaterstück Sea Lavender über ihr Leben auf.[6]
2019 widmete die Gedenkstätte Deutscher Widerstand Fahidi eine Ausstellung, zu deren Eröffnung sie auftrat. Als eine der letzten Überlebenden der Shoa äußerte sie die Hoffnung, dass das Gedenken daran auch nach ihrem Tod durch Bücher, Dokumente, Erinnerungsorte wirksam wachgehalten werde: „Das darf nicht noch einmal und kann auch nicht noch einmal passieren.“ Der Holocaust sei ein entsetzlicher Schock für die Menschheit gewesen. Das werde vielleicht erst nach dem Ableben der letzten Zeugen voll bewusst. Die Zeit danach könne eine neue Art der Erinnerungskultur einläuten. Sie hoffe, dass dann alle Menschen erkennen, „dass sie sich daran beteiligen müssen“.[3]
Die Stadt Weimar hat am 11. April 2020 Éva Fahidi-Pusztai zur Ehrenbürgerin ernannt.[7]
Schriften
- Anima rerum, meine Münchmühle in Allendorf und meine wahren Geschichten. Stadtallendorf 2004
- Anima rerum: a dolgok lelke. Tudomány Kiadó, Budapest 2005, ISBN 9789638194510
- Die Seele der Dinge. Aus dem Ungarischen übersetzt von Doris Fischer. Hrsg. im Auftrag des Internationalen Auschwitz-Komitees und der Gedenkstätte Deutscher Widerstand. Lukas-Verlag, Berlin 2011, ISBN 978-3-86732-098-6 (Rezension von Günther B. Ginzel, 9. November 2011)
Literatur
- „Das Geheimnis der Versöhnung heißt Erinnerung“. Dokumentation der Internationalen Tage der Begegnung in Stadtallendorf, KZ-Außenlager Münchmühle, Nobel ; vom 21. bis 26. Oktober 1990. Magistrat der Stadt, Stadtallendorf 1991.
- Thomas Gonschior, Christa Spannbauer: Mut zum Leben. Die Botschaft der Überlebenden von Auschwitz. Europa Verlag, Berlin 2014. ISBN 978-3-944305-57-8.
- Éva Fahidi: Lieben und geliebt werden. Mein Leben nach Auschwitz-Birkenau, Verlagshaus Römerweg - S. Marix Verlag 2021, ISBN 978-3-7374-1181-3
Weblinks
- Literatur von und über Éva Fahidi in der bibliografischen Datenbank WorldCat
- Literatur von und über Éva Fahidi im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Günther B. Ginzel; Eine Auschwitzüberlebende blickt zurück, bei Deutschlandradio Kultur, 9. November 2011
- Maicke Mackerodt: Erlebte Geschichten mit Eva Fahidi, wdr.de, 10. Juli 2016
- Éva Fahidi im Gymnasium am Markt in Bünde (9. November 2019)
- Film: The Euphoria of Bein. 3sat, 25. Januar 2021
Einzelnachweise
- Philipp Neumann-Thein: Sea-Lavender oder Die Euphorie des Seins. meinanzeiger.de, 15. März 2019
- Kerstin Krupp: Auschwitz-Prozess: Dem Unsagbaren eine Stimme geben. In: Berliner Zeitung, 19. September 2013
- Holocaust: Wenn es keine Zeitzeugen mehr gibt. Deutsche Welle, 30. Januar 2019
- Ingrid Heinisch: Es war nicht Eichmann allein, Neues Deutschland, 24. Juni 2011
- Eva Fahidi im Gröning-Prozess auf focus.de
- Rebekka Dieckmann: Holocaust-Überlebende tanzt mit 93 in Stadtallendorf: „Ich tanze im Namen von 1.000 Zwangsarbeiterinnen“. hessenschau.de, 7. Mai 2019
- Éva Pusztai und Ivan Ivanji sind nun Weimarer Ehrenbürger Thüringer Allgemeine, 13. April 2020