Zwangsarbeiterlager Graz-Liebenau
Das Zwangsarbeiterlager Graz-Liebenau (kurz: Lager Liebenau, Lager V (= römisch 5)) war ein Lager für ausländische Zwangsarbeiter im Stadtteil Liebenau in Graz während der Zeit der NS-Herrschaft.[1]
Beschreibung
Am Areal südlich der Linie Merkur Arena, ehemalige Kirchner-Kaserne und Seifenfabrik, zwischen der Kasernstraße und dem linken Murufer, wurde 1940 das Lager errichtet und diente ursprünglich als Lager V zur Unterkunft umgesiedelter Volksdeutscher aus der Bukowina, aber bald schon waren ausländische Arbeitskräfte und später auch Kriegsgefangene untergebracht, die zumeist in der Rüstungsindustrie tätig waren.[2] Mit bis zu 5000 untergebrachten Personen war das Lager das größte Zwangsarbeiterlager in Graz.
Ungarische Juden auf ihrem Todesmarsch
Im April 1945 waren hier kurze Zeit ungarische Juden untergebracht, die zuvor zum Bau des Südostwalls herangezogen wurden und sich auf einem Todesmarsch ins KZ Mauthausen befanden. Man schätzt ihre Zahl auf etwa 400, von denen viele mit Flecktyphus infiziert waren, denen aber medizinische Hilfe verwehrt wurde. 35 bis 40 ungarische Juden wurden in Auftrag des Lagerleiters Nikolaus Pichler („Für diese Schweine haben wir keine Medikamente“) durch Gestapobeamte erschossen. Hierfür mussten sich die Juden mit dem Gesicht nach unten in eine längs zur Mur ausgehobene Grube legen, woraufhin auch die Gestapobeamten in die Grube stiegen und jedem Juden ins Genick schossen. Die Leichen wurden nur leicht mit Erde bedeckt, aber noch nicht zugeschüttet, um am nächsten Tag weitere Erschießungen durchzuführen. Rund 120 Erschießungen wurden von ungarischen Pfeilkreuzlern und vom Lagerführer Alois Frühwirt durchgeführt. 53 Leichen, von denen 34 Leichen Schusswunden aufwiesen, wurden nach dem Krieg exhumiert und 46 davon am Jüdischen Friedhof Graz beigesetzt.[3] Bereits damals war klar, dass es sich hierbei nur um einen Teil der insgesamt 150 vermuteten Leichen handelt. In den Liebenauer Prozessen im September 1947 vor einem britischen Militärgericht wurden gegen vier Lageraufseher zwei Todesurteile, eine Haftstrafe und ein Freispruch ausgesprochen. Die beiden Todesurteile gegen Frühwirt und Pichler wurden am 15. Oktober 1947 vollstreckt.
An den Überlebenden wurden auf ihrem Marsch nach Mauthausen weitere Massaker verübt, etwa am Präbichl, wo über 200 Juden durch Mitglieder des Eisenerzer Volkssturms erschossen wurden.[4][5]
Nachnutzung
Unmittelbar nach dem Krieg befand sich auf dem Gelände das Flüchtlingslager Am Grünanger, wobei die desolaten Baracken durch Holzbauten ersetzt wurden. Mit der Zeit wurde das Areal weitgehend verbaut, nur kleine Teile blieben ungenutzt oder wurden neben der Mur zum Augebiet. Im Zuge der Bauarbeiten zum Kraftwerk Graz-Puntigam stieß man immer wieder auf Reste des Lagers, die archäologisch beforscht werden.[6]
Am Gelände des ehemaligen Lagers wurden einfache eingeschoßige (Doppel-)Holzwohnbauten mit etwas Garten, ein Kindergarten, ein Jugendzentrum, ein Skaterpark, ein Kinderspielplatz und ein Sport-Hartplatz errichtet. Ein Teil der Fläche ist Wiese durchzogen von Radgehwegen.
Eine Platzbenennung erfolgte 2020 oder früher nach der Widerstandskämpferin Maria Cäsar (1920–2017)
Ausstellung GrazMuseum 2018/2019
Vom 15. November 2018 bis 8. April 2019 zeigte das GrazMuseum in der Sackstraße eine Ausstellung zum Lager Liebenau.[7]
Denkmale ab 2020
Stele
Im Herbst 2020 wurde eine informative, leuchtende Stele nahe dem das linke Murufer begleitenden Geh- und Radweg im Maria-Cäsar-Park errichtet. Vorder- und Rückseite zeigen innerhalb eines schmalen Metallrahmens hinterleuchtet durch Glas je etwa 2 m hohe und 1 m breite Grafikdisplays. Auf der dem Fluss zugewandten Seite wird ein Bauplan des Lagers mit einem Luftbild etea aus der Zeit des Kriegsendes verglichen und entwickelt das Thema anhand einer Wiederholung des Buchstabens „V“. Die andere – Ostseite zeigt Fotografien und Texte. Ein QR-Code macht eine Self-Guided-Tour zugänglich, ihre etwa 6 Stationen in der heutigen Siedlung öffnen Infos via Near Field Communication (NFC).
Anfang Juni 2021 wurde eine grobe Beschädigung der westlichen Platte aus Verbundsicherheitsglas entdeckt. Die Spur in Schulterhöhe deutet auf einen Schlag mit einem harten, spitzen Gegenstand hin. Zahlreiche Sprünge durchziehen die Glasfläche, die Grafik blieb dabei im Wesentlichen lesbar. Kulturstadtrat Günter Riegler (ÖVP) verurteilte erschüttert die Schandtat, den Vandalismus – "wir dürfen niemals aufhören zu erinnern und zu mahnen." Historikerin Barbara Stelzl-Marx sieht die Zerstörung dieses Symbols des Gedenkens als einen Beleg für die Notwendkeit eines offenen, nachhaltigen Diskurses über dieses finstere Kapitel.[8]
Stolperschwelle und Puchstege
Die Verlegung der ersten Stolperschwelle Österreichs (720 × 96 × 96 Millimeter groß) am Uferweg beim Lager erfolgte live durch Mitarbeiter der Holding Graz am 22. Oktober 2020. Der Verlegeort ist genau am linken Brückenkopf des ehemaligen Puch-Stegs, über den die Zwangsarbeiter gingen, um ins Puchwerk am – rechten – Westufer der Mur zu gelangen. Der Steg war um 1940 genau dafür errichtet worden und ist im Zuge des Baus des Murkraftwerks Graz wegen Anheben des Wasserspiegels 2019 abgebrochen und verschrottet worden. Walter Bradler hat die Tafeln an und beim Steg, die nicht erhalten wurden, fotografisch dokumentiert.
Als Ersatz wurde der Puchsteg Neu etwa 150 Meter weiter nördlich 2020 eröffnet. Der neue Steg ist überdacht, beleuchtet, weist wieder eine Geländerverkleidung aus Holz auf und wurde dank einer Forderung von Radlobby Argus 3,5 m breit errichtet, statt wie ursprünglich geplant nur 2,5 m. Baubeginn des Stegs war am 3. Juni 2019, er lag fertiggestellt monatelang brach und wurde erst am 10. Juli 2020 geöffnet, nachdem die Stadt Graz mit dem Nachbarn, Familie Kovac, Eigner des Veranstaltungszentrums Seifenfabrik einen 5 Jahre dauernden Vertrag schließen konnte.[9][10]
Grabungen
Im Zuge des Baus des Murkraftwerks bis 2020 erfolgten Grabungen und Beforschung.
Im Jänner 2021 wurde berichtet, dass eine Sondierungsgrabung vor der Errichtung von Wohnbauten menschliche Knochenteile neben tierischen Schlachtabfällen in der Verfüllung eines Bombentrichters ergab.[11] Im Juli 2021 wurde über ein Fundobjekt berichtet: Menschliche Schädeldecke, fachmännisch – vermutlich im Zuge einer Obduktion – durch Sägen abgetrennt. Mehrere Jahrzehnte alt. Loch mit 7 mm Durchmesser, wohl durch einen Einschuss. Vermutlich Opfer eines Kriegsverbrechens.[12]
Literatur
- Barbara Stelzl-Marx: Das Lager Graz-Liebenau in der NS-Zeit, Leykam, Graz 2012, ISBN 978-3-7011-0254-9.
- Heimo Halbrainer: Das Lager in Graz Liebenau. PDF
Einzelnachweise
- Christian Dürr: Das ehemalige Zwangsarbeitslager in Graz Liebenau – Über den Umgang mit einem lange verdrängten zeitgeschichtlichen Thema. In: www.mauthausen-memorial.org. KZ-Gedenkstätte Mauthausen, 14. September 2017, abgerufen am 11. Oktober 2017.
- Ursula Heukenkamp: Schuld und Sühne? Kriegserlebnis und Kriegsdeutung in deutschen Medien der Nachkriegszeit 1945–1961, Amsterdam 2001, S. 583.
- Ein vergessener Ort des Verbrechens auf science.orf.at, abgerufen am 8. August 2017.
- Mahnmal für den Todesmarsch am Präbichl, auf no-racism.net
- Die letzten Tage des NS-Terrors. In: derStandard.at. 7. November 2015, abgerufen am 5. Oktober 2018.
- NS-Lager Liebenau: Stadt Graz plant Mahnmal orf.at, 11. August 2017, abgerufen am 11. Oktober 2017.
- GrazMuseum macht „Lager V“ wieder sichtbar orf.at, 13. November 2018, abgerufen 14. November 2018.
- NS-Lager Liebenau: Gedenktafel beschädigt orf.at, 8. Juni 2021, abgerufen 8. Juni 2021.
- Aktuelles > Stolpersteinverlegung für drei ehemalige Ensemblemitglieder der Grazer Oper am 18.9.2020. stolpersteine-graz.at, Verein für Gedenkkultur in Graz, 18. September 2020, abgerufen am 19. September 2020.
- Gerald Winter-Pölsler: Heute erfolgt die Freigabe: Warum der neue Puchsteg nur für fünf Jahre gesichert ist kleinezeitung.at, 10. Juli 2020, abgerufen 8. Juni 2022. Ohne Bezahlabo ist nur ein Teil des Artikels einsehbar.
- Knochenfund bei Grabungen in Graz-Liebenau orf.at, 19. Jänner 2021, abgerufen 19. Jänner 2021.
- Lager Liebenau: Einschussloch bei Knochenfund orf.at, 8. Juli 2021, abgerufen 8. Juli 2021.