Wenn die Stunde ist, zu sprechen
Wenn die Stunde ist, zu sprechen ist eine unvollendete Erzählung von Brigitte Reimann, die um 1956 entstand[1] und 2003 postum in Berlin erschien.
Eva Hennig und Klaus Hoffmann, zwei überzeugte FDJ-Funktionäre aus der Klasse 12a einer DDR-Oberschule, lernen sich kennen und lieben.
Die Elterngeneration
Eva: Der Vater wurde im KZ Buchenwald ermordet. Die Mutter hat als Bürgermeisterin kaum mal eine Minute Zeit für ihre Tochter.
Klaus: Die Mutter starb im Hungerjahr 1946, während der Vater in Kriegsgefangenschaft war. Nach seiner Heimkehr beteiligte er sich am Wiederaufbau einer ruinierten Maschinenfabrik. Dabei zeigte er einen Elan, als ob er den eigenen Betrieb aufbaute. Klaus lebt mit seinem Vater, einem Meister im Maschinenbau, zusammen. Der Vater lässt den Sohn allein und trinkt. Klaus verdient sich Geld mit Nachhilfestunden und Ferienarbeit im Walzwerk.
Da ist dann noch Dr. Rinck, Direktor der Oberschule. Das ehemalige SPD-Mitglied war vor 1933 Direktor eines Berliner Gymnasiums gewesen. Während des Krieges hatte ihn die Gestapo wegen eines politischen Witzes in Moabit festgehalten. Ein Mithäftling war Evas Vater gewesen. Der hatte sich lieber von den Schergen das Gesicht bis zur Unkenntlichkeit verstümmeln lassen, als jemanden zu verraten. Dr. Rinck war freigekommen und hatte bis zum 5. Mai 1945 stillgehalten. Am 6. Mai war er einer Panzerspitze der Roten Armee entgegengefahren und hatte die kleine Stadt übergeben. Nun, als SED-Mitglied, leitet er die Oberschule.
Inhalt
Eva wurde am 3. Oktober 1935 in Paris geboren. Als ihre Mutter, eine Genossin, im Parteiauftrag Bürgermeisterin am Ort der Handlung wird, kommt Eva in die Klasse 12a und setzt sich neben Klaus, den 18-jährigen ersten Sekretär der FDJ an der Schule. Bald wird das 17-jährige[2] Mädchen[A 1] zum Direktor gerufen. Dr. Rinck möchte, Eva soll die Arbeit in der FDJ-Schulgruppe ankurbeln. Sie ist für so etwas prädestiniert. Eva trägt das „Abzeichen für gutes Wissen“ in Gold. Sie fängt mit dem Wandschmuck im Schulflur an. Ein Stalinbild hängt bereits. Die aus der Klasse 12b – angehende Naturwissenschaftler – führen sich wie eine Horde Affen auf. Die Jungen imitieren im Klassenzimmer Jazzmusiker. Eva redet den außer Rand und Band Geratenen ins Gewissen. Klaus staunt. Während über seine Parolen gelacht wird, hören die aus der 12b auf die Argumente der Bürgermeisterstochter. Als Eva mit Klaus aus der Sichtweite der 12b ist, schüttet sie sich zwar aus vor Lachen über die Phrasendrescherei ihres neuen Kampfgefährten, doch sie hebt anschließend den Zeigefinger. Mit seinem Geschwafel könne er als erster Sekretär nicht ernst genommen werden.
Eva erweist sich als blendende Lateinerin. Klaus baut in dem Fach Vieren. Er möchte, dass sie ihm bei der mündlichen Leistungskontrolle vorsagt. Eva weigert sich, will aber künftig die Latein-Hausaufgaben gemeinsam mit Klaus machen.
Als im FDJ-Raum über die FDJ-Arbeit geredet wird, reißt Eva die Führung an sich, versinkt aber schließlich auch im „Treibsand der Phrasen“. Widerspruch – die Freiwilligkeit der FDJ-Arbeit betreffend – regt sich. Die Schüler fühlen sich von Dr. Rinck erpresst. Eine alte Geschichte wird ausgegraben. Im Herbst 1948 waren der Schüler Kurt Hansen und auch seine Eltern von der Bildfläche verschwunden. Kurt war aus der Schule heraus abgeführt worden. Der Direktor hatte den Zwischenfall mit Geschick zum Anlass genommen, die Schüler in die FDJ zu pressen.
Als es in der 12b um das Eintreiben der FDJ-Mitgliedsbeiträge geht, kann Eva für den verbissenen Widerstand der Schulkameraden kein Verständnis aufbringen. Als einzige Tochter der Bürgermeisterin kennt sie keine Geldsorgen.
Es bleibt nicht bei dem gemeinsamen Erledigen der Latein-Hausaufgaben. Eva, die Klaus gesteht, dass sie sich jedes Mal auf sein Kommen freut, lässt sich von ihrem neuen Freund in die Kakadu-Bar ausführen. Beide trinken mehrere Nikolaschkas[A 2]. Das verwünschte Alleinsein führt Eva und Klaus endlich zusammen.
Form
Das Fragment bricht nach dem 6. Kapitel ab. Zwar wird die Liebesgeschichte nacherlebbar erzählt, doch manches Angesprochene bleibt – wie könnte es bei einem Fragment anders sein – gleichsam in der Luft hängen. Zum Beispiel als Direktor Dr. Rinck die oben erwähnte Audienz beendet, gibt er Eva einen Zettel mit. Darauf steht „1. Korintherbrief, 13,1.“[A 3]
Rezeption
Literatur
- Verwendete Textausgabe
- Wenn die Stunde ist, zu sprechen... Erzählung. S. 135–208 in: „Brigitte Reimann: Das Mädchen auf der Lotosblume. Zwei unvollendete Romane.“ (enthält noch: Joe und das Mädchen auf der Lotosblume, Nachwort von Withold Bonner, Dokumente zur Publikationsgeschichte und eine editorische Notiz) Aufbau-Verlag, Berlin 2005 (Erstdruck 2003). ISBN 3-7466-2139-9
Anmerkungen
- Die Erzählung handelt demnach im Jahr 1952.
- Nikolaschka. Wirklich genüssliches Trinken des ostpreußischen Cocktails erfordert eine gewisse Zungenfertigkeit: 1. Eine Zitronenscheibe, mit klarem Zucker und Pulver aus frisch gemahlenen Kaffeebohnen bestreut, in den Mund nehmen. 2. Ein Glas Weinbrand ganz langsam durchseihend trinken.
- „Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönend Erz oder eine klingende Schelle.“ (Die Luther-Bibel, Ausgabe anno 1912: 1. Korinther - Kapitel 13, Das Hohelied der Liebe 1)
Einzelnachweise
- Editorische Notiz in der verwendeten Ausgabe, S. 236, 10. Z.v.o.
- Verwendete Ausgabe, S. 195, 11. Z.v.u.
- Bonner im Nachwort der verwendeten Ausgabe, S. 217, 6. Z.v.u.
- Bonner im Nachwort der verwendeten Ausgabe, S. 218, 7. Z.v.o.