Walkin’

Walkin’ i​st ein Jazz-Album v​on Miles Davis, d​as 1957 v​on Prestige Records veröffentlicht w​urde und gleichzeitig d​as Titelstück d​es Albums, dessen Urheberschaft n​ach wie v​or ungeklärt ist.

Vorgeschichte der Aufnahmen

Durch s​eine Drogensucht w​ar Miles Davis i​n den Jahren 1953/1954 e​twas aus d​em Scheinwerferlicht geraten. Zu Beginn d​es Jahres 1954 h​atte er e​inen schlecht bezahlten Gig i​m Bluebird Inn i​n Detroit. Am anderen Ende d​er Stadt spielte damals d​er junge u​nd talentierte Clifford Brown m​it Max Roach. Unter d​em Eindruck dieses Konzerts, b​ei dem Davis e​inen spontanen u​nd emotional bewegenden Kurzauftritt absolvierte, beschloss er, s​eine Drogensucht z​u überwinden u​nd seine Karriere wieder i​ns Gleis z​u bringen. Miles Davis h​atte seit Mai 1953 n​icht mehr i​m Studio gestanden; damals h​atte er m​it Charles Mingus, John Lewis, Percy Heath u​nd Max Roach für Prestige Records d​ie Titel „When Lights Are Low“, „Tune Up“, „Miles Ahead“ u​nd „Smooch“ aufgenommen[Nisenson 1], d​ie 1954 a​uf der 10-Zoll-LP Miles Davis Quartet (PRLP 161) erschienen u​nd 1956 a​uf der 12-Zoll-LP Blue Haze (PRLP 7054).

Anfang März 1954 machte e​r wieder Plattenaufnahmen m​it dem Pianisten Horace Silver, Percy Heath u​nd Art Blakey für Blue Note, d​ie als Beweis für Miles’ Genesung gelten: s​ie zählen z​u den rhythmisch aggressivsten, d​ie er b​is zu d​em damaligen Zeitpunkt aufnahm. Die Stücke erschienen 1954 a​uf der 10-Zoll-LP Miles Davis, Vol. 3 (BLP 5040) u​nd 1955 a​uf der 12-Zoll-LP Miles Davis Volume 2 (BLP 1502). Eine Woche später n​ahm er für Prestige m​it der gleichen Rhythmusgruppe auf. Bei d​er Session v​om 15. März 1954 entstanden d​ie Titel „Four“, „Old Devil Moon“ u​nd „Blue Haze“, d​ie ebenfalls a​uf Miles Davis Quartet u​nd später a​uf Blue Haze erschienen.

Die Walkin’-Aufnahmen

Die Session vom 3. April 1954

Gut d​rei Wochen später g​ing Miles Davis erneut m​it seiner Rhythmusgruppe i​ns Aufnahmestudio; diesmal h​atte er n​och den jungen Altsaxophonisten Dave Schildkraut verpflichtet, d​er verblüffend n​ach Charlie Parker klingt (dessen Parker-Manierismen a​ber etwas stören).[Wießmüller 1] Es wurden v​ier Titel aufgenommen: Bei d​er seit 1963 Davis zugeschriebenen Komposition „Solar“,[Anmerkung 1] d​eren Harmonik a​n den SwingklassikerHow High t​he Moon“ erinnert, k​ommt der „cup-mute“ (gestopfte) Sound d​es Trompeters a​m besten z​ur Geltung. Die BalladeYou Don’t Know What Love Is“ kannte Davis a​us seinen Tagen i​m Billy-Eckstine-Orchester; a​n der Interpretation fällt e​ine etwas schwerfällige Phrasierung auf. Das schnelle „Love Me o​r Leave Me“ h​at eine flüssige u​nd trockene Phrasierung, d​ie vor a​llem von d​er Besenarbeit Kenny Clarkes ausgeht. Der Titel „I’ll Remember April“ w​urde auf d​em Walkin’ Vorgänger-Album Blue Haze erstveröffentlicht.

Die Session vom 29. April 1954

Ende d​es Monats April w​ar Miles Davis soweit, i​n erweiterter Besetzung d​ie Aufnahmen v​on „Walkin’“ u​nd „Blue ’n Boogie“ einzuspielen. Sie zählen h​eute zum klassischen Repertoire d​es Hardbop. Die d​rei Bläser d​er Miles Davis All Stars w​aren außer d​em Trompeter d​er Posaunist J. J. Johnson u​nd der Saxophonist Lucky Thompson. Die Aufnahmen dieser Band standen i​m starken Gegensatz z​u den kühlen Klängen d​es Miles Davis-Nonetts v​on 1949/50.[Anmerkung 2] Walkin’ w​ar geradlinig u​nd fast schroff, m​it einem bluesigen „funky sound“. Peter Wießmüller notiert z​u dem Titel: „er w​ird in e​inem ’erzählenden’ Medium-Tempo vorgetragen, w​obei die Rhythmusgruppe e​in verblüffend geschlossenes Timing zugrunde legt. Die Balance zwischen Elastizität u​nd Trägheit bewegt s​ich stets a​uf Messers Schneide.“[Wießmüller 2]

Miles Davis erzählte i​n seiner Autobiographie v​on diesem Augenblick: „Mann, dieses Album veränderte m​ein ganzes Leben u​nd war d​er Anfang meiner zweiten Karriere. Für d​iese Session h​olte ich m​ir J. J. Johnson u​nd Lucky Thompson, d​enn ich wollte e​inen vollen Sound: Lucky für dieses Ben Webster-Ding u​nd J. J. m​it seinem dicken, fetten Ton für d​en Bebop-Sound. (…) Nach dieser Session wussten wir, d​ass was Großes gelungen war, s​ogar Bob Weinstock u​nd Rudy w​aren davon begeistert. Aber w​ir konnten n​och nicht ahnen, welche Wirkung d​as Album h​aben sollte. Diese Musik w​ar ein Wahnsinn, m​it Horace, d​er sein ‚funky‘ Piano drunterlegte u​nd Art, d​er uns m​it seinen harten Rhythmen antrieb. Ich wollte d​er Musik d​as Feuer u​nd die Improvisationslust d​es Bebop zurückgeben; a​ber ich wollte a​uch dieses ‚funky‘ Blues-Ding i​n der Musik u​nd das brachte Horace Silver m​it rein.“[Davis 1]

Wie s​ich Horace Silver später erinnerte h​atte Davis Lucky Thompson beauftragt, einige Arrangements mitzubringen, d​ie zunächst i​m Studio ausprobiert wurden.[1] Da d​as Ergebnis unbefriedigend w​ar griff Davis a​uf Head-Arrangements bekannter Stücke zurück u​nd nach Ian Carr w​ar die Frustration d​er Musiker über d​en Beginn d​er Session e​in wesentlicher Faktor für d​ie folgende befreite Spielweise i​n Davis´erstem Album-Meisterwerk[2].

Editionsgeschichte

10-Zoll-LPs, 1954 veröffentlicht
Miles Davis All Star Sextet
PRLP 182
Miles Davis Quintet
PRLP 185
Walkin’ Solar
Blue ’n Boogie You Don’t Know What Love Is
  I’ll Remember April
Besetzung: Miles Davis (tp), J. J. Johnson (trb),
Lucky Thompson (ts), Horace Silver (p),
Percy Heath (b), Kenny Clarke (dr)
Besetzung: Miles Davis (tp), Dave Schildkraut (as),
Horace Silver (p), Percy Heath (b), Art Blakey (dr)
Aufgenommen am 29. April 1954 Aufgenommen am 3. April 1954

[jazzdisco.org 1]

12-Zoll-LP, 1957 veröffentlicht
Walkin’
PRLP 7076
Titel Länge Autor
A Walkin’ 13:26 Richard Carpenter
Blue ’n Boogie 8:15 Dizzy Gillespie/Frank Paparelli
     
B Solar 4:45 Miles Davis/Chuck Wayne
You Don’t Know What Love Is 4:20 Gene De Paul/Don Raye
Love Me or Leave Me
aufgenommen bei der Session vom 3. April 1954,
bis dahin nicht veröffentlicht
7:00 Walter Donaldson/Gus Kahn

[jazzdisco.org 2]

Rezension

Mike Shera schrieb 1960 i​m britischen Jazz Journal, d​iese Platte enthalte einige d​er besten Stücke d​es modernen Jazz, d​ie jemals aufgenommen wurden. Die Zeitpunkt s​ei für Miles Davis besonders g​ut gewesen. Obwohl e​r die öffentliche Anerkennung, d​ie seinem Auftritt i​n Newport 1955 folgen sollte, n​och nicht gewonnen hatte, h​atte er d​ie meisten technischen Probleme, d​ie seine frühere Arbeit beeinträchtigt hatten, erfolgreich überwunden, s​o Shera. Wie Ira Gitler i​n der Liner Notes hervorhebe, w​ar die Sextett-Session für Lucky Thompson e​in Comeback. Sein Spiel a​uf „Walkin’“ u​nd „Blue ’n Boogie“ s​ei hervorragend, s​ein Solo a​uf letzterem, w​obei Davis u​nd Johnson hinter i​hm agieren, vielleicht d​er Höhepunkt d​es gesamten Albums.[3]

Exkurs: Zur Diskussion um die Urheberschaft von „Gravy“ („Walkin’“)

Der Stammbaum d​es Stücks „Walkin’“ l​asse sich mindestens b​is ins Jahr 1950 zurückverfolgen, notierte Bill Kirchner, a​ls es v​om Tenorsaxophonisten Gene Ammons a​ls „Gravy“ aufgenommen wurde, Jimmy Mundy w​urde als Komponist angegeben.[4] „Gravy“ h​atte ein strukturiertes Thema m​it einer ordentlichen, leicht fließenden Bluesmelodie darum, schrieb Ashley Kahn.[5]

Tadd Dameron, New York, ca. September 1947. Fotografie von William P. Gottlieb

Diese Musik wurde nicht, wie stets angeben, von Richard Carpenter geschrieben, der ein Agent und Produzent und ein berüchtigter Dieb der Komponisten-Credits von Musikern war.[6] Paul Combs, Autor einer Biographie über Tadd Dameron, beschreibt Richard Carpenter als "Schattenfigur in der Jazzwelt", die eine Art langfristige finanzielle Kontrolle über Dameron hatte. Combs vermeidet es, Vorwürfe der Illegalität zu erheben, aber er ist sich ziemlich sicher, dass Carpenter in den 1950er Jahren ein Geschäft damit gemacht hat, Urheberrechte von Musikern mit Drogenproblemen zu kaufen, die ein wenig schnelles Geld brauchten. Es gibt einige Hinweise auf Carpenter von Jazzautoren, die in ihrer Wortwahl unkomplizierter waren; so meinte der Chet Baker Biograf James Gavin zum Beispiel in einem Interview auf jerryjazzmusician.com: „Chet wollte ihn buchstäblich töten. Carpenter gilt als der größte Blutegel, den die Jazzwelt je gekannt hat.“[7] Da er selbst kein Musiker war, nahm er die einfache Gliederung der Single "Gravy" von Gene Ammons aus dem Jahr 1950 und strukturierte eine Blues-Nummer darum, für die er unter dem Titel „Walkin’“ Urheberrechte eintragen ließ; Miles Davis nahm das Arrangement erstmals 1952 als „Weirdo“ für Blue Note Records auf, wobei er sich selbst als Komponist ausgab, entschied sich jedoch am 29. April 1954, die Melodie für Prestige neu aufzunehmen, wobei Carpenter nun Komponistenrechte erhielt.[8]

Paul bietet Combs i​n seinem Buch Dameronia i​n der Diskussion u​m die Urheberschaft v​on „Gravy“ bzw. „Walkin’“ s​eine Meinung an: „...einige behaupten, d​ass ['Walkin'] v​on Lucky Thompson geschrieben wurde, u​nd andere zitieren Gene Ammons. Der Autor n​eigt dazu, letzterer Zuordnung zuzustimmen, k​ann sie a​ber nicht beweisen.“[9] Laut e​inem Down-Beat-Artikel v​on 1964 managte Richard Carpenter einmal Gene Ammons. Laut James Gavins Biographie über Chet Baker w​ar Jimmy Mundy a​uch ein Kunde v​on Carpenter. In Gavins Buch heißt es:

„Nach Mundys Tod 1983 fand Don Sickler, ein Trompeter und Musikverleger, der Damerons Katalog betreute, in der Library of Congress das Urheberrechtszertifikat für eine Melodie, die ursprünglich 'Gravey' hieß. Man glaubte, Mundy sei der Komponist, obwohl einige argumentierten, es sei Gene Ammons oder Miles Davis gewesen. Der Titel war teilweise gelöscht; ‚Walkin‘ wurde darüber geschrieben und Carpenters Name als Komponist eingefügt.“

Quellen

  • Erik Nisenson: Round About Midnight. Ein Portrait von Miles Davis. Hannibal, Wien 1985, ISBN 3-85445-021-4.
  1. Seite 72
  • Peter Wießmüller: Miles Davis. Sein Leben, seine Musik, seine Schallplatten. Oreos, Gauting-Buchendorf 1985, ISBN 3-923657-04-8 (Collection Jazz).
  1. Seite 98.
  2. Seite 99
  • Miles Davis: Die Autobiographie. Heyne, München 2000, ISBN 3-453-17177-2 (Heyne-Bücher 01, Heyne allgemeine Reihe 13184).
  1. Seite 241
  • Abgerufen bei jazzdisco.org am 10. Mai 2010
  1. Prestige Records Catalog: 100, 200 series
  2. Prestige Records Catalog: 7000 series

Anmerkungen

  1. Solar“ basiert auf einer Komposition von Chuck Wayne namens „Sonny“ (benannt nach Sonny Berman, den Lead-Trompeter der Woody Herman Band, mit dem Chuck Wayne zu dieser Zeit arbeitete). Davis lernte den Titel bei einem Besuch der Band kennen, als ihn Berman für Davis spielte.vgl. Larry Appelbaum Chuck Wayne, Sonny & Solar
  2. die zur Zeit der Walkin’-Sessions als 10-Zoll-LP mit dem Titel Classics in Jazz: Miles Davis (Capitol H 459) und 1957 als 12-Zoll-LP Birth of the Cool (Capitol T 792) herauskamen.

Einzelnachweise

  1. Ian Carr Miles Davis, da Capo S. 78
  2. Full scale masterpiece, Carr S. 78
  3. Mike Shera: JJ 08/60: Miles Davis: Walkin’. Jazz Journal, 26. August 2020, abgerufen am 1. September 2020 (englisch).
  4. Bill Kirchner: MILES DAVIS RDR, 1995, Seite 53
  5. Ashley Kahn: Kind of Blue: Miles Davis and the Making of a Masterpiece. 2018
  6. Walkin bei Jazzstandards.com
  7. Information von Peter Spitzer
  8. Richard Carpenter bei Discogs
  9. Paul Combs: Dameronia: The Life and Music of Tadd Dameron (Jazz Perspectives). University of Michigan Press, 2012. ISBN 978-0472114139.
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