Verein zur Pflege Neuer Musik
Der Verein zur Pflege Neuer Musik wurde am 18. Dezember 1927 in Aachen gegründet und hat trotz seines kurzen Bestehens nicht nur in musikgeschichtlicher, sondern auch in biografischer Hinsicht eine Bedeutung. Der in Aachen tätige Schönbergschüler Paul Pella und der überregional hoch geschätzte Dirigent und Musikwissenschaftler, der Aachener GMD und spätere einflussreiche NS-Funktionär Peter Raabe gehörten zu den Hauptinitiatoren.[1]
Kontext und Vereinsgeschichte
Aachen gehörte in dieser Zeit neben Köln und Düsseldorf zu den mitwirkenden Städten des Niederrheinischen Musikfestes. Diese Städte waren in der Musikgeschichte des Rheinlandes seit über hundert Jahren bei der Aufführung großer klassischer Werke führend. Deshalb schaute die Musikwelt mit großem Interesse auf die dortigen musikalischen Entwicklungen. In Köln hatte sich bereits 1921 die Kölner Gesellschaft für Neue Musik formiert.[2] Bereits ab 1922 gab es in Aachen den Verein Kuppel, der sich als Kunstvereinigung verstand und deshalb eine große Breite an künstlerischen Aktivitäten inklusive Konzerte mit Neuer Musik anbot. Im September 1925 warb die Kuppel beispielsweise für ein Abonnement zur Saison 1925/26, in welchem bei insgesamt zwölf Veranstaltungen auch fünf Konzerte mit Neuer Musik enthalten waren.[3] Die Kuppel feierte im November 1932 ihr 10-jähriges Jubiläum, hatte in dieser Zeit aber auch unzählige andere Themen im Fokus, wie Vorträge mit Paul Tillich oder Martin Buber im Jahr 1930.[4]
Als Initiator der Gründung des „Vereins zur Pflege Neuer Musik“ trat Peter Raabe öffentlich in Erscheinung. Er zeigte seit einigen Jahren sein Engagement für die Neue Musik, denn er hatte bereits 1919 eine Auswahl von Arnold Schönbergs Fünf Orchesterstücken op. 16 an seiner Weimarer Wirkungsstätte aufgeführt und präsentierte dort das gesamte Werk im Juni 1920. Anschließend wurde er Generalmusikdirektor in Aachen und führte dieses Werk Schönbergs dann beim 3. Städtischen Konzert am 13./14. Dezember 1922 auf.[5] Auch dessen Komposition Pelleas und Melisande, op. 5 hatte Raabe 1924 in Aachen präsentiert.[6]
In mehreren Presseaufrufen warb Raabe nun 1927 nicht nur zum Beitritt zu diesem neu zu gründenden Verein zur Pflege Neuer Musik, sondern positionierte sich gegenüber der Neuen Musik als Künstler. Dabei betont er, sein Engagement gehe ausschließlich auf seine private Initiative zurück. Hier sehe er seine Verantwortung als Künstler. Als GMD der Stadt Aachen habe er primär andere Aufgaben und wolle beides auch strikt voneinander trennen. Der von ihm verfasste programmatische Text erschien in zwei Aachener Tageszeitungen Echo der Gegenwart und Politisches Tageblatt und verdeutlicht sein Zielsetzungen.[7]
„Die Kunst, die mit dem Namen 'Neue Musik' bezeichnet wird, will etwas ganz anderes als die Musik bisher gewollt hat. Sie will keine Weiterführung, keine Entwicklung, keine irgendwie geartete Fortsetzung der bisherigen Musik sein, sondern sie stellt sich bewusst und entschlossen abseits von dieser, sie sucht und findet neue Ausdrucks- und Eindrucksmöglichkeiten... Und doch ist nicht zu verkennen, dass der jetzt herrschende Zustand eine Beunruhigung des Musikwesens in sich trägt, die beseitigt werden muss, wenn die sich weiterentwickelnde bisherige Musik und die „Neue Musik“ nebeneinander gedeihen sollen, wie sie in der Tat nebeneinander gedeihen können.
Was verursacht diese Beunruhigung? Da die Neue Musik in ganz anderer Weise erfasst werden will, wie die sonstige Musik (man kann nicht sagen, die ältere, denn es handelt sich dabei auch um die Werke der Lebenden), da sie sich, ich möchte sagen, einer anderen Seite des künstlerischen Bewusstseins zuwendet, so mußte höre sich ihr gegenüber anders „einstellen“, um dieses Modewort einmal so gebrauchen, dass hier wirklich im wörtlichen Sinne passt. Man muss bei dieser Musik, wenn man sie in der rechten Art aufnehmen und ihren Urhebern nicht Unrecht tun will, sich genau in der gleichen Weise auf etwas Bestimmtes „einstellen“, wie man sein Rundfunkgerät auf eine bestimmte Welle „einstellen“ muss, wenn man die und die „Station“ erreichen und das dort vorgeführte deutlich und vernehmbar hören will.
Das ist für viele schwer, für manche unmöglich. Es wird umso schwerer, wenn dem Hörer zugemutet wird, sich in kurzer Zeit „umzustellen“, wie es also nötig ist, wenn man in ein- und demselben Konzert erst ein Quartett von Schönberg und dann eines von Schumann zu hören bekommt.“
Auch überregional wurden die Vereinsgründung und die Aktivitäten des Vereins in der Zeitschrift Melos und in Allgemeine Musikalische Zeitung (AMZ) wahrgenommen.[8]
Am Tag der Gründung am 18. Dezember 1927 stellte Pella Ferruccio Busonis Schrift Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst vor.[9] Die Presse berichtete ausführlich von dieser Veranstaltung.[10] Pella begann seine Aachener Tätigkeit wenige Monate vor der Vereinsgründung und engagierte sich anschließend mehrfach in der Öffentlichkeit für die Neue Musik in Aachen.
Eine Besonderheit des Vereins bestand darin, die Veranstaltungen zunächst nicht für die Öffentlichkeit zuzulassen. Dieser Grundsatz war Pella im Kontext von Schönbergs Verein für musikalische Privataufführungen aus erster Hand bekannt. Offensichtlich sollte dieses Prinzip Schönbergs für Aachen übernommen werden. Ein Vereinsabend war dann folgerichtig im Januar 1928 dem Komponisten Arnold Schönberg gewidmet.[8] Bei dem Konzert mit dem Komponisten Hermann Reutter am 25. November 1928 war die Öffentlichkeit hingegen eingeladen, denn dies schien tragfähiger zu sein, zumal nun auch die Presse über die Veranstaltung berichten konnte.[11]
Okrassa spekuliert, der Verein habe sich vermutlich aus finanziellen Gründen wieder aufgelöst. Allerdings sind die Details der Vereinsgeschichte bislang noch nicht erforscht. Deshalb ist über die weiteren Aktivitäten des Vereins und die Gründe für dessen Auflösung bislang nichts bekannt.[12] Die Hinweise auf die Veranstaltungen des „Konkurrenzvereins“[13] Kuppel erscheinen in der Presse in den Folgejahren bis in die 1930er Jahre, wie beispielsweise der Hinweis auf die Vorführung von Leon Theremins Ätherwellenmusik oder auf einen Meisterabend zeitgenössischer Musik mit Bela Bartók (Klavier) im Großen Saal der Erholung.[14]
Die Auflösung derartiger Vereine in den 1920er Jahren war keine Seltenheit.[8] Die Kölner Gesellschaft für Neue Musik berichtet, sie habe sich nach zwei Auflösungen seit 1921 dreimal gegründet, zuletzt 1981.[15] Die im Aachener Alten Kurhaus an der Wirkungsstätte Raabes seit 1988 tätige Gesellschaft für Zeitgenössische Musik Aachen weicht in ihren Zielsetzungen durch die Integration des Jazz und der Improvisierten Musik erheblich von Raabes Definition zur Zeitgenössische Musik ab.[16]
Einzelnachweise
- Reinhold Sietz Die Niederrheinischen Musikfeste in Aachen in der ersten Hälfte des 19. Jh.; in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins (ZAGV). 72. 1960. S. 109–164. Alfred Beaujean: Paul Pella, musikalischer Oberleiter des Stadtheaters 1927 bis 1932, in: Die Menorah. Zeitschrift der jüdischen Gemeinde Aachen, Nr. 5 (Sep./Dez. 1988): Nina Okrassa: Peter Raabe. Dirigent, Musikschriftsteller und Präsident der Reichsmusikkammer (1872–1945), Böhlau Verlag, 2004.
- Gründung der Kölner Gesellschaft für Neue Musik.
- Echo der Gegenwart 5. September 1925
- Echo der Gegenwart vom 26. September 1930 und 11. November 1932.
- Okrassa: Peter Raabe, S. 76–83.
- Okrassa: Peter Raabe, S. 92.
- kurzer Vermerk unter der Rubrik „Kunst und Wissenschaft“ in Echo der Gegenwart vom 15. November 1927 und ein längerer Artikel Raabes Aus dem Aachener Musikleben – Aufruf zur Gründung einer Vereins zur Pflege neuer Musik in Aachen in: Echo der Gegenwart vom 15. November 1927.
- Melos 7 (1928), S. 146; AMZ 54 (21. Dezember 1928), S. 1368; vgl. Okrassa: Peter Raabe, S. 101.
- Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst, 1907. Kritische Online-Ausgabe
- Echo der Gegenwart 19. Dezember 1927.
- Politisches Tageblatt 26. November 1928
- Die Sammlung Peter Sardoc im Stadtarchiv Aachen (SLG 305–1 bis SLG 305–128) und weitere Quellen müssten hierzu vollständig ausgewertet werden. Auf dem Zeitungsportal zeitpunkt sind alle hier genannten Zeitungsartikel online verfügbar.
- Offensichtlich gab es dieses Problem bereits schon bei der Vereinsgründung im November 1927, denn in einer Entgegnung von Dr. Oskar Jancke heißt es, Raabe habe die Konzerte der „Abende der Kuppel ganz ignoriert“, die „schon vor nunmehr vier Jahren begonnen haben, speziell für das Verständnis der zeitgenössischen Musik zu werben“ Entgegnung von Dr. Oskar Jancke
- Echo der Gegenwart 22. Januar 1929 Theremin Politisches Tageblatt 12. Februar 1930 Bartók
- kgnm Homepage
- Winfried Pape und Hans-Walter Staudte: Die Gesellschaft für Zeitgenössische Musik Aachen, in: Robert von Zahn (Hrsg.): Neue Musik in Nordrhein-Westfalen – Die neun Gesellschaften für Neue Musik zwischen Aachen und Lippe. Kassel 2014, [= BzRM 176], S. 42–52 und Lutz Felbick: Das „hohe Kulturgut deutscher Musik“ und das „Entartete“ – über die Problematik des Kulturorchester-Begriffs, in: Zeitschrift für Kulturmanagement, 2/2015, S. 85–115 online.