Unvollständiger Vertrag
Ein unvollständiger Vertrag, auch relationaler Vertrag, ist ein Vertrag zwischen Marktteilnehmern, bei dem nicht alle Eventualitäten ex ante vertraglich festgelegt bzw. berücksichtigt werden können. Meist handelt es sich um Vereinbarungen, die auf einen längeren Zeitraum abzielen und die Lücken für zukünftige Kontingenzen enthalten, um unvollständiger Voraussicht entgegenzuwirken.
Es wird somit bei Vertragsschluss nur der Mantel- bzw. Rahmenvertrag vereinbart, während die Details im Laufe der Zeit konkretisiert werden.
Der Sinn einer solchen Vereinbarung besteht darin, dass die Festlegung aller möglichen Eventualitäten in einem vollständigen Vertrag mit hohen Transaktionskosten verbunden sein kann.
Eine verbreitete Form von relationalen Verträgen sind zum Beispiel Arbeitsverträge. Hierbei verpflichtet sich der Arbeitnehmer, die Anweisungen des Arbeitgebers innerhalb eines gewissen Rahmens zu befolgen. Jedoch ist in Arbeitsverträgen für gewöhnlich nicht festgelegt, welche konkreten Ergebnisse der Arbeitnehmer im Laufe der Vertragsdauer für den Arbeitgeber zu erbringen hat, weil die gewünschten Ergebnisse zum Vertragszeitpunkt zumeist noch nicht absehbar sind.
Eigenschaften und Maßnahmen
Eigenschaften unvollständiger Verträge:
- sie sind implizit
- sie sind weitestgehend informell
- sie sind nur eingeschränkt rechtsverbindlich
- sie sind sehr flexibel
- Vertragstreue kaum erzwingbar
Aus dem letzten Punkt ergibt sich das Problem, dass die Akteure, besonders bei asymmetrischer Information, einen Anreiz zum opportunistischen Verhalten haben. Die Verträge sind somit zeitinkonsistent.
Mechanismen um opportunistisches Verhalten auszuschließen sind:
- langfristige Verträge (Ausnutzung kurzfristigen Vorteils irrational)
- Selbstverpflichtung (Reputation)
- reziproker Altruismus (beide Vertragspartner tun sich gegenseitig „Gutes“)
Möglichkeiten zur Überwindung der Zeitinkonsistenz in Verträgen untersucht die Prinzipal-Agent-Theorie.
Nachträgliche Vertragsänderungen
Dabei werden während der Vertragslaufzeit Änderungen vereinbart, die sich aus Nachverhandlungen ergeben. Dies widerspricht dem Prinzip Pacta sunt servanda – Verträge sind einzuhalten.
Untersuchungsgegenstand sind die Ergebniswirkungen einer solchen Maßnahme.
Bei Kreditbeziehungen verlaufen Nachverhandlungen idealtypisch folgendermaßen ab:
- Der Marktwert des restlichen Kundengeschäftes wird bestimmt.
- Eine Ablösesumme wird festgelegt
- Der Konditionsbeitrags-Barwert wird ermittelt.
Dann wird ggfs. eine Entschädigung, beispielsweise bei Tilgung vor Fälligkeit festgelegt.
Unsichere Folgegeschäfte
Zu unsicheren Folgegeschäften gehören:
- Prolongation
- Roll-over-Kredit
- embedded options (bei Bankprodukten sind Wahlrechte eingebettet, wodurch der Zahlungsstrom teilweise oder überhaupt nicht fest ist)
Theoretische Analyse unvollständiger Verträge: Das Modell von Gorton und Kahn
Gorton und Kahn entwickelten ein Modell zur Kreditpreisermittlung unter besonderer Berücksichtigung von Nachverhandlungsmöglichkeiten. Gorton und Kahn betrachten den Kreditvertrag im Zeitablauf.
Ziel
Ziel ist es, die Vorteilhaftigkeit von Nachverhandlungen zu zeigen und optimale Konditionen für Bankkredite zu bestimmen.
Vertragssituation
Kredite sind bei Gorton und Kahn unvollständige Verträge. Es besteht eine pauschale Kündigungsklausel für den Kreditgeber. Damit ist es dem Kreditgeber ermöglicht, den Vertrag jederzeit nachzuverhandeln.
Ziel des Kreditgebers ist es dabei, ein für den Kreditgeber konformes Verhalten des Kreditnehmers zu erzwingen. Beachte: Der Begriff Kreditgeber ist hier nicht mit einer Bank gleichzusetzen.
Informationsverteilung
Die Struktur des Modells geht von risikoneutralen und gleichinformierten Kreditgeber und Kreditnehmer aus. Zu jeder Zeit besteht symmetrische Informationsverteilung.
Diese schließen für die Dauer von zwei Perioden einen Kreditvertrag mit Rückzahlung in t=2. Der Kapitalmarktzins beträgt Null.
Im Anfangszeitpunkt t=0 herrscht Unsicherheit über die erwarteten Erträge des Projektes: , , Streuung der Erträge um mit Wahrscheinlichkeit 0,5.
Nach einer Periode t=1 werden Eintrittswahrscheinlichkeiten für den Projekterfolg bekannt. Dies ist aber nicht durch Dritte verifizierbar. Daher werden ex ante keine Vereinbarungen über zustandsabhängige Handlungen getroffen.
Nach zwei Perioden realisiert sich der Ertrag des Projektes.
Konzept unvollständiger Verträge
Der Kreditgeber verzichtet bei Vertragsabschluss darauf, mögliche Handlungsweisen zu definieren, die von den nach einer Periode eintretenden Informationen abhängen.
In t=1 hat der Kreditgeber ein Kündigungsrecht, die ihm die Nachverhandlungsmöglichkeit eröffnet
Der Kreditgeber vereinbart eine Kündigungsmöglichkeit, um den Vertrag bei neuen Informationen flexibel zu seinen Gunsten nachverhandeln zu können.
Erhöhung des Projektrisikos
Kreditnehmer neigen dazu, über die Laufzeit des Kredites das Projektrisiko zu erhöhen.
In t=1 kann der Kreditnehmer das Projektrisiko unter Kosten c um den Parameter S erhöhen
Das heißt, dass der Projektausgang sowohl höhere als auch weitaus niedrigere Werte annehmen kann.
Wahrscheinlichkeitsbaum
Nach einer Periode wird bekannt, wie hoch die Wahrscheinlichkeiten eines guten (p) und eines schlechten Projektverlaufes (1-p) sind:
- Mit Wahrscheinlichkeit p:
- Wkt. 0,5:
- Wkt. 0,5:
- Mit Wahrscheinlichkeit (1-p):
- Wkt. 0,5:
- Wkt. 0,5:
Der vereinbarte Rückzahlungsbetrag liegt über dem schlechtesten Projektausgang:
Risikoerhöhung
Gorton und Kahn zeigen, dass der Kreditnehmer das Projektrisiko erhöhen wird, sobald die Wahrscheinlichkeit für einen Projekterfolg einen kritischen Wert unterschreitet. Dies resultiert in folgendem Wahrscheinlichkeitsbaum:
- Mit Wahrscheinlichkeit p:
- Wkt. 0,5:
- Wkt. 0,5:
- Wkt. 0,5:
- Wkt. 0,5:
- Wkt. 0,5:
- Wkt. 0,5:
- Wkt. 0,5:
- Mit Wahrscheinlichkeit (1-p):
- Wkt. 0,5:
- Wkt. 0,5:
- Wkt. 0,5:
- Wkt. 0,5:
- Wkt. 0,5:
- Wkt. 0,5:
- Wkt. 0,5:
Der vereinbarte Rückzahlungsbetrag liegt über dem drittschlechtesten Projektausgang:
Rückzahlungsbetrag
In der Ausgangssituation wird bezüglich des Rückzahlungsbetrags angenommen: , ansonsten komme es zu Liquidation in t=2 mit dem Liquidationserlös von Bei erfolgt die Liquidation in t=1:
Annahme zum Rückzahlungsbetrag bei Risikoerhöhung . Ist R kleiner, erfolgt die Liquidation in t=2 mit den Kosten .
Aufgrund der anfallenden Kosten c ist eine Risikoerhöhung nicht immer vorteilhaft. Der Kreditnehmer wird in t=1 eine Risikoerhöhung vornehmen, falls dadurch sein erwarteter Gewinn steigt. Die Risikoerhöhung hat einen negativen Einfluss auf den erwarteten Gewinn des Kapitalgebers. Dies kann ihn zur Kündigung oder Nachverhandlung veranlassen.
Möglichkeit von Nachverhandlungen
Der Kreditgeber wird seinerseits die Rückzahlung des Kredits so verändern, dass sein erwarteter Ertrag maximiert wird. Eine Erhöhung der geforderten Rückzahlung geht aber auch mit dem Effekt einher, dass die Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Schuldner zahlungsunfähig wird, steigt. Der Kreditgeber kann aber andererseits den Rückzahlungsbetrag nicht beliebig senken, um den Kreditnehmer von einer Risikoerhöhung abzuhalten.
Nachverhandlungsmöglichkeiten bestehen insbesondere bei Bankkrediten, wobei der Ertrag des Projekts neu aufgeteilt wird. Es ergibt sich jedoch auch ein Trittbrettfahrerproblem.
Falls der Kapitalnehmer das Risiko ohnehin nicht erhöhen will, besteht kein Handlungsbedarf.
Mögliche Aktionen des Kreditgebers in t=1 bei problematischen Schuldnern, die das Projektrisiko erhöhen, sind:
- Das riskantere Projekt hat einen Erwartungswert, der kleiner ist als der Liquidationswert. Damit kann ein Kreditinstitut mit Liquidation drohen.
- Liquidieren: Der erwartete Gewinn bei Projektfortführung ist geringer als bei Liquidation. Der Erwartungswert des Projekts ist geringer als der Liquidationswert und eine Zinserhöhung kann ebenso Liquidationswert nicht erreichen.
- Zinserhöhung: Erwartungswert des Projekts ist geringer als der Liquidationswert, aber eine glaubhafte Zinserhöhung bringt den erwarteten Gewinn über den Liquidationswert. Die Nachteile aus der Risikoerhöhung können durch eine Zinserhöhung teilweise kompensiert werden.
- Die Liquidationsdrohung ist nicht glaubhaft, da die Bank sich selbst schaden würde:
- Nichtstun: Der Kapitalgeber kann sich hier durch andere Handlungen (Liquidieren, Zins erhöhen oder senken) nicht besser stellen. Liquidieren unwirksam und Schuldennachlass schadet mehr als Risikoerhöhung
- Zins senken: Die Vorteile aus der durch eine begrenzte Zinssenkung vermiedenen Risikoerhöhung überwiegen die Nachteile aus dem geringen Zinsertrag. Ein Schuldennachlass erwirkt keine Erhöhung des Projektrisikos, was den Gewinn erhöht.
Ab einer Schwelle p werden Kreditnehmer das Risiko nicht erhöhen.
Ergebnisse
Die optimalen Handlungen des Kreditnehmers und des Kapitalgebers hängen von der Erfolgswahrscheinlichkeit p ab. Es besteht kein monotoner Zusammenhang zwischen Kreditnehmerqualität und der Höhe des geforderten Rückzahlungsbetrags.
Eine Kreditfinanzierung über einen Finanzintermediär kann wegen der geringeren Koordinationskosten vorteilhaft gegenüber einer Marktlösung sein.
Mögliche Nachverhandlungsergebnisse und deren Wahrscheinlichkeiten sollten bei der Bestimmung der Kreditkonditionen im Anfangszeitpunkt berücksichtigt werden.