Ultraimperialismus

Ultra-Imperialismus i​st ein – frühzeitig apokryph gewordener – Begriff d​er marxistischen Theoriediskussion. Er bezeichnet e​ine – hypothetisch gedachte – friedliche Phase d​es Kapitalismus, d​ie auf d​en Imperialismus folgt. Diese Idee unterstellt somit, d​ass der Imperialismus m​it seinen kriegstreibenden Widersprüchen überwunden werden könne – u​nd zwar systemimmanent innerhalb d​es Kapitalismus selbst. Verwandte Begriffe w​ie Superimperialismus, Hyper-Imperialismus o​der auch Postimperialismus werden manchmal synonym verwendet, bedeuten a​ber nicht o​der nicht i​mmer dasselbe. Am ehesten entspricht d​er Terminus Kollektiv-Imperialismus d​em Begriffsinhalt d​es Ultra-Imperialismus.

Als konstituierend u​nd typisch für e​inen Ultra-Imperialismus gelten – n​eben dem Gewaltverzicht zwischen d​en entwickelten kapitalistischen Mächten u​nd einer erfolgreichen Zusammenarbeit derselben i​n internationalen Organisationen – e​in verstärkter Freihandel s​owie zunehmende Kapitalverflechtungen b​ei gleichzeitig anwachsender Kapitalkonzentration. Damit unterschiede s​ich der Ultra-Imperialismus a​ls kapitalistische Formation wesentlich v​on der d​es Imperialismus, d​er durch Tendenzen d​es Protektionismus – u​nd zwar e​iner möglichst ausgedehnten Reservierung d​es nationalen Wirtschaftsgebiets d​urch Vergrößerung desselben b​ei gleichzeitiger Abschirmung n​ach außen – geprägt ist. Beiden Phasen gemeinsam wäre i​hr monopolkapitalistischer Charakter, a​lso die strukturelle Dominanz v​on Groß- u​nd Riesenunternehmen.

Begriffsherkunft

Die These e​ines Ultraimperialismus w​ird regelmäßig Karl Kautsky, d​em Chef-Theoretiker d​er SPD z​ur Zeit d​es deutschen Kaiserreichs u​nd Chef-Marxisten d​er II. Sozialistischen Internationale, zugeschrieben. Tatsächlich h​at Kautsky diesen Begriff geprägt u​nd 1914 erstmals i​n die Diskussion eingebracht. Allerdings bezeichnete e​r damit e​inen Sachverhalt, über d​en er bereits a​b 1912 mehrfach spekuliert hatte. Er h​atte postuliert, d​ass weltpolitisch e​in „Stadium [näher rücke], i​n dem d​er Konkurrenzkampf d​er Staaten d​urch ihr Kartellverhältnis ausgeschaltet wird.“ Kautskys Ultraimperialismus w​ar somit d​urch Staatenkartelle, d.h. politische Kartellstrukturen geprägt.

Diese Grundidee einer möglichen Befriedung des Imperialismus stammte jedoch gar nicht von Kautsky selbst: Bereits Jahre vorher – 1902 – hatte der britische Sozialliberale John Hobson in einem vergleichbaren Zusammenhang von einem möglichen Inter-Imperialismus geschrieben, der gleichfalls durch ein Kartellbündnis der Großmächte („combination“ = Kartell resp. Kapitalzusammenschluss) konstituiert werde.

Und a​uch Karl Liebknecht äußerte bereits v​or Kautsky – nämlich 1907 i​n seiner Broschüre „Militarismus u​nd Antimilitarismus“ – d​ie Ansicht, e​s könne e​ine „Vertrustung d​es überhaupt möglichen Kolonialbesitzes u​nter die Kolonialstaaten, sozusagen … e​ine Ausschaltung d​er Kolonialkonkurrenz zwischen d​en Staaten [eintreten …], w​ie sie für d​ie private Konkurrenz zwischen kapitalistischen Unternehmern i​n den Kartellen u​nd Trusts i​n gewissem Umfange erfolgt ist.“

Zeitgenössische Kritik an der These eines Ultraimperialismus

Die a​uch heute n​och fundierteste (wenn a​uch durch politische Motive verzerrte) Kritik a​m Ultraimperialismus-Konzept stammt v​on W.I. Lenin. In seiner Schrift „Der Imperialismus a​ls höchstes Stadium d​es Kapitalismus“ suchte e​r 1916 Kautsky z​u widerlegen, i​ndem er Erkenntnisse d​er zeitgenössischen Kartelltheorie d​er Unternehmen einbrachte, insbesondere d​ie Labilität u​nd Krisenträchtigkeit d​er Unternehmenskartelle w​ie auch d​ie Unmöglichkeit e​iner bleibenden Regulierung o​der Dämpfung d​er Konkurrenz d​urch diese. Er w​ies nach, d​ass – w​enn Staatenkartelle genauso funktionierten w​ie Unternehmenskartelle – Kriege u​nd Machtkämpfe n​ach wie v​or notwendig u​nd unvermeidlich s​eien und e​ine Kartellbildung zwischen imperialistischen Mächten allenfalls e​ine „Atempause zwischen Kriegen“ u​nd sonstigen kampfhaften Konflikten u​nter ihnen darstellen würde.

Lenins Auseinandersetzung m​it den Imperialismuskonzepten d​er SPD u​nd der II. Internationale i​st als Lenin-Kautsky-Debatte i​n die Geschichte d​er marxistischen Theorie eingegangen.

Neuere Positionen zur These eines Ultraimperialismus

Nach d​em II. Weltkrieg wandelten s​ich Beziehungen zwischen d​en kapitalistischen Mächten tatsächlich i​n Richtung a​uf Kautskys Vision e​ines Ultraimperialismus: Sie wurden intern friedlicher, politisch kooperativer u​nd wirtschaftlich liberaler. In Gestalt internationaler Organisationen w​ie der NATO, d​er Europäischen Union, d​er OECD u​nd anderen entstanden – kartellanaloge (?) – Bündnisse zwischen d​en westlichen Industriestaaten.

Diese Erscheinungen h​aben unter Marxisten i​mmer wieder z​u Diskussionen über e​ine Veränderung d​es Charakters d​es Kapitalismus resp. d​es Imperialismus geführt. Die These e​ines Ultraimperialismus i​st dabei umstritten geblieben. Eine Mehrheit d​er Marxisten scheute d​avor zurück, d​ie bewährte Basis d​er Imperialismustheorie zugunsten e​iner vagen, unausgeführten Theorieidee e​ines Ultra-Imperialismus aufzugeben. Dennoch h​at dieses Konzept e​ine Handvoll Fürsprecher, e​twa im angloamerikanischen Raum Martin Thomas o​der im deutschsprachigen Hartmut Elsenhans. Zu e​iner nennenswerten Theoriebildung i​st es jedoch n​icht gekommen.

Die Staatenkartelltheorie – e​in neuerer Ansatz innerhalb d​er Lehre v​on den internationalen Beziehungen – verwendet z​war die Grundperspektive d​es Ultraimperialismus-Konzepts, i​st aber selbst k​eine marxistische Theorie.

Literatur

  • Hartmut Elsenhans: Das internationale System seit dem September 2001: Ultrastabilität – Ultraimperialismus – Friedensfähigkeit ohne Entwicklung?. In: Asien-Afrika-Lateinamerika. 30(2002), H. 2, S. 193–218.
  • Karl Kautsky: Der Imperialismus. In: Die Neue Zeit. 32 (1914), Band 2, S. 908–922.
  • Karl Kautsky: Ultra-imperialism. In: International socialist review. 1914. November-Heft. Download über: Marxist’s Internet Archive, http://www.marxists.org/archive/kautsky/1914/09/ultra-imp.htm.
  • W. I. Lenin: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus (1916). In: Lenin-Werke. Band 22, Berlin 1972.
  • Holm A. Leonhardt: Kartelltheorie und Internationale Beziehungen. Theoriegeschichtliche Studien, Hildesheim 2013, Kapitel V. (= "Ultraimperialismus und Staatenkartelle", S. 408–477).
  • Martin Thomas: Introduction to Kautsky's "Ultra-imperialism". Workers Liberty.
  • John A. Willoughby: The Lenin-Kautsky Unity-Rivaly Debate. In: Review of Radical Political Economics. Band 11, 1979, Heft 4, S. 91–101.
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